Schockierend glücklich in Hamburg
Verfasst: 24.04.2006, 10:26
Zwei mal in den vergangenen sechs Monaten hat mich die Lauferei zum Heulen gebracht. Beim ersten Mal lag ich in der Badewanne, es war der 27.12.2005. Nach drei mickrigen Kilometern hat das verdammte Knie mal wieder diesen stechenden Schmerz produziert, ITBS nennt das der Experte. Eine chronische Verletzung, die ich seit August 2005 nicht in den Griff bekommen habe. Schon 2003 und 2004 hatte ich das Laufen komplett eingestellt. Alle Therapien gingen bisher schief: Dehnen, Vorfußlaufen, langsam laufen, schnell laufen und nicht zu vergessen die Kniearthroskopie Ende 2003, bei der natürlich nichts raus kam außer einer Vollnarkose und einer Woche Krankenschein. Ja, so verzweifelt war ich. Nun, kurz nach Weihnachten, lieg ich im heißen Badewasser und weiß endgültig nicht mehr weiter. Ich bin verzweifelt. Innerlich hake ich den Laufsport für mich ab, endgültig, es gibt auch andere schöne Sportarten. In diesem desolaten Zustand findet mich Meike. Sie akzeptiert meine Resignation nicht und schleppt mich in Berlin zu Leuten, die sich mit dem Laufen auskennen und mir sogar zuhören. Und ich bekomme neben Einlagen noch ein paar Tipps verpasst. Der Zustand meiner Rücken- und Bauchmuskulatur ist desolat, mein Becken rührt beim Laufen in meinem Körper wie ein Mixer im Kuchenteig. Das muss besser werden. Und lass das Vor-/Mittelfußlaufen sein, das erhöht bei Dir die Belastung auf den Tractus. Ich will laufen und dafür mach ich fast alles, es ist aber beschwerlich. Ich laufe jeden zweiten Tag, an den anderen Abenden liege ich auf dem Teppich und stähle meine Rumpfmuskeln. Der neue Laufstil ist Kraft raubend. Auf meiner Trainingsrunde werde ich gedemütigt. Von hinten nähert sich das charakteristische pffft-pffft-Geräusch – ich werde von einem Schön-Wetter-Jogger in feiner Ballonseide überholt. Das ist hart. Meine Form ist kümmerlich, aber ich halte durch. Nach drei schmerzfreien Monaten laufe ich in Celle in akzeptablen 40 Minuten und 29 Sekunden ins Ziel. Und auch danach geht es weiter aufwärts. Der Berliner Halbmarathon läuft noch besser und mein Ziel für Hamburg steigert sich von 3:30 zu Beginn der unmittelbaren Vorbereitung auf illusorische 3:10. Meine Unterdistanz-Zeiten würden das hergeben, aber nicht der Umstand, dass ich von August bis Dezember quasi nicht trainiert habe.
Bei Kilometer 0 des Hamburg-Marathons ahne ich noch nicht, dass ich am Ende wieder heulen werde. Vor meiner Brust hängt die Startnummer mit meinem Namen. Auch das wird später nicht ganz unwichtig sein. Vier Jahre habe ich drauf gewartet und jetzt ist es so weit. Ich kann einen Marathon laufen, bei dem ich an meine Grenzen gehen kann und will. Das macht mich glücklich. Ich denke darüber nach, was bis hier hin alles hätte schief gehen können: Erneute Knieschmerzen, eine Erkältung, schlechte Vorbereitung oder Verletzungen. Alles nicht passiert und auch die Wetterbedingungen sind optimal. Das kommt nicht so oft vor und daher setzte ich mir hohe Ziele. Wenn nicht jetzt, wann dann? Bestzeit soll es werden, also alles unter einer 3:16 ist der Hammer und angelaufen wird auf eine 3:10. Den Mutigen gehört die Welt. "Let me entertain you" von Robbie Williams tönt aus den Lautsprechern während ich die Startlinie überquere. An meinen Erinnerungen kleben oft Lieder, noch Jahre später. Daher wird an diesem Lied der Hamburg-Marathon kleben.
Ich laufe inmitten Gleichgesinnter durch eine Stadt, die ich nicht kenne. Hamburg ist schön. Schnell wird klar, dass ich die Kilometerschilder nicht ernst nehmen kann. Das wellige Profil und eine sehr ungenaue Positionierung der Schilder lassen den Kilometerschnitt nur erahnen. Bei der Verlegung der Kontrollmatten wurde sich etwas mehr Mühe gegeben, das muss also reichen. Lars hat mehrmals auf die Steigung bis Kilometer 5 hingewiesen. Ich beginne also recht verhalten und erreiche die 10-Kilometer-Zwischenzeit bei 0:45:29 (4:33 min/km).
1996, ein Jahr bevor Jan Ullrich die Tour de France gewann, hab ich mich zusammen mit einem guten Freund aufgemacht, den Mt. Ventoux mit dem Rad zu bezwingen. Ich war jung und hatte keine Ahnung vom Ausdauersport, aber einem gut trainierten Handballer kann ja so ein Berg nichts anhaben. Die 40 Kilometer von Orange bis zum Fuße des Ventoux haben wir auch mit dem Rad zurückgelegt. Mein Begleiter, ein erfahrener Triathlet, hat zähe Gummischeiben gegessen, die er sich vor Tourbeginn auf das Oberrohr geklebt hat. Komische Manieren haben diese Triathleten. Ich hab auch kurz gekostet, dann aber das Essen nicht weiter verfolgt. Ich hatte ja gut gefrühstückt. Auf insgesamt 1900 Meter ging es hoch. Bis zwei Kilometer unter den Gipfel fühlte ich mich gut, dann kippte ich im wahrsten Sinne des Wortes vom Rad. Es war schrecklich. Ich erlitt das, was zwei Jahre später Jan Ullrich während der Tour de France auf der Etappe nach Les deux Alpes auch passierte. Ich bekam einen Hungerast. Ullrich verlor damals 9 Minuten auf Marco Pantani und verlor dadurch auch die Tour de France des Jahres 98, ich nur das Gleichgewicht. Mir wurde eine Packung Butterkekse gereicht, die ich gierig in mich hineinstopfte. Nach 20 Minuten war ich wieder in der Lage, die letzten 2 Kilometer in Angriff zu nehmen. Nach der Abfahrt verdrückte ich noch drei Snickers und lutschte bei der Rückfahrt nach Orange 40 Kilometer lang am Hinterrad meines Triathleten. Das ist also Ausdauersport, grauenhaft.
Heute bin ich ein wenig schlauer und drücke mir bei Kilometer 12 ein Gel in den Mund. Schmeckt nicht, hilft aber. Bis zum Ende des Rennens kommen noch ein paar Portionen hinzu. Ich weiß, dass mein Magen das auch bei der schlimmsten Belastung verdaut. Bei den Landungsbrücken geht’s mir hervorragend, was kein Wunder ist. Die Leute stehen auf den Brücken und sind gut gelaunt. Es macht Spaß hier zu laufen. Ein Marathon ist lang, aber Dinge passieren auch recht plötzlich. Bei Kilometer 17 fühlen sich meine Beine wie frisch gestartet an, bei der Halbmarathonmarke ist dieses Gefühl bereits ersetzt durch erste Müdigkeit. Für den zweiten 10er-Abschnitt brauchte ich 44 Minuten und 7 Sekunden, macht eine Pace von 4:25 min/km. Bei der Halbmarathon-Marke muss ich hörbar lachen. Meine Uhr zeigt hier eine Durchgangszeit von exakt 1:35:00. Tja Jörn, da hilft also nur eine schnellere zweite Hälfte, um die 3:10 zu unterbieten. Viel Spaß dabei, du Verächter von langen Läufen!
In der Vorbereitung habe ich es auf 5 lange Läufe gebracht. Wenn es nach der Meinung vieler Forumsmitglieder geht, waren es eigentlich nur zwei, da Läufe unter 30 Kilometer ja nicht als „lang“ gelten. Ich habe mir einen Trainingsplan gespart, da ich mehr auf mein Körpergefühl und vor allem mein Knie hören wollte. Die Umfänge waren recht gering. Die letzten 9 Wochen bin ich durchschnittlich 55 Wochenkilometer gelaufen. Inspiriert und ermutigt wurde ich dabei von Bruce, der es mit seinen zwei Einheiten pro Woche auf eine Zeit von deutlich unter 40 Minuten gebracht hat. Eigentlich unglaublich. Ich habe es in ähnlicher Weise für diesen Marathon versucht. Drei bis vier Einheiten, aber bei denen muss es dann richtig krachen. Das widerspricht natürlich vielen Meinungen in diesem Forum. Ich wollte es für mich genau wissen. Geht das mit so wenig langen Läufen, dafür aber mehr Tempotraining? Fast jeder der im Forum postet, er sei bei Kilometer 35 eingebrochen, kriegt erst mal reflexartig unterstellt, dass er zu wenig lange Läufe gemacht hat. "Unter fünf bis acht langen Läufen über 30 Kilometer brauchst Du gar nicht erst an den Start gehen", wie oft habe ich das gehört. Ich bin an den Start gegangen und habe auch schon den halben Marathon hinter mir. Mit Greif hatte ich es vor vier Jahren auch versucht. Nach 7 Trainingsläufen über 35 Kilometern bin ich beim Marathon ab Kilometer 30 eingebrochen, ich war auf Kurs 3:10, genau wie heute.
Heute begegnet mir kein Hammermann, sondern das Hämmern in den Beinen wird ab Kilometer 25 immer doller. Der Kampf im Kopf beginnt. Das volle Programm der Motivationsstrategien wird durchgegangen, von Gedanken an Holger Meier bis zur Visualisierung des Zieleinlaufs. Mir war klar, dass solche Löcher kommen werden und noch halte ich es für Löcher und nicht für einen Abhang. Den Abschnitt zwischen Kilometer 20 und 30 lege ich in 0:45:05 zurück, ich halte die Pace von 4:30 min/km.
Es wird immer härter. Ich ertappe mich dabei mir einen Einbruch zu wünschen. Wenn ich auf einmal eine Minute langsamer werde, kann ich schön austrudeln und vielleicht noch mit neuer Bestzeit geschmeidig ins Ziel kommen. Aber jeder Blick auf meine Tempotabelle sagt mir, Du bist auf Kurs 3:10. Ja mein Güte, ich kann doch nicht bei vollem, oder besser verbleibendem Bewusstsein so eine Chance verstreichen lassen! Mal bin ich 10 Sekunden schneller, mal 10 Sekunden langsamer als der erhoffte Schnitt. 10 Sekunden pro Kilometer schaffe ich mit dem Kopf, mehr nicht.
Die Psychotricks klappen bis km 38, dann ist nach meinen Beinen auch mein Kopf leer, das war’s. Ich weiß nicht mehr wo ich bin, ich sehe Absperrgitter und Menschen in Dreierreihen auf beiden Seiten der Straße. Und hier passiert etwas Großartiges. Ich bin kurz davor die Kontrolle über meine Beine zu verlieren. Auf einem Stück von 50 Metern bin ich der einzige Läufer und ich sehe bemitleidenswert aus. In dem Moment rufen 10, 20 oder 50 Menschen meinen Namen: "Jörn! Lauf! Du schaffst das!" Ich hab so was noch nicht erlebt, irgendein weiterer Stoff wird von meinem Kopf in die Blutbahn geschickt und die Entscheidung ist gefallen: Ich laufe das Ding nach Hause und zwar unter 3:10. Bis dort hin haben mich meine Beine und mein Wille gebracht, die letzten Kilometer hab ich Hamburg zu verdanken. Die folgenden Krampfneigungen in diversen Körperteilen hab ich erfolgreich ignoriert und bin in 3:09:31 über die Ziellinie gegangen. Den emotionalen Zieleinlauf hatte ich bereits hinter mir. Ich bin geschockt von dem was ich geschafft habe. In Zeitraffer spielt sich der Film voller läuferischer Rückschläge des letzten halben Jahres vor meinem Auge ab, und jetzt 3:09, ich heule.
Zu Beginn habe ich gelogen. Ich habe beim Hamburg-Marathon nicht nur einmal geheult. Als ich Meike exakt in ihrer Wunschzeit durchs Ziel laufen sah, war es wieder um mich geschehen. So viel Glück auf einen Haufen kann doch kein Mensch ohne Heulerei ertragen.
Jörn
Bei Kilometer 0 des Hamburg-Marathons ahne ich noch nicht, dass ich am Ende wieder heulen werde. Vor meiner Brust hängt die Startnummer mit meinem Namen. Auch das wird später nicht ganz unwichtig sein. Vier Jahre habe ich drauf gewartet und jetzt ist es so weit. Ich kann einen Marathon laufen, bei dem ich an meine Grenzen gehen kann und will. Das macht mich glücklich. Ich denke darüber nach, was bis hier hin alles hätte schief gehen können: Erneute Knieschmerzen, eine Erkältung, schlechte Vorbereitung oder Verletzungen. Alles nicht passiert und auch die Wetterbedingungen sind optimal. Das kommt nicht so oft vor und daher setzte ich mir hohe Ziele. Wenn nicht jetzt, wann dann? Bestzeit soll es werden, also alles unter einer 3:16 ist der Hammer und angelaufen wird auf eine 3:10. Den Mutigen gehört die Welt. "Let me entertain you" von Robbie Williams tönt aus den Lautsprechern während ich die Startlinie überquere. An meinen Erinnerungen kleben oft Lieder, noch Jahre später. Daher wird an diesem Lied der Hamburg-Marathon kleben.
Ich laufe inmitten Gleichgesinnter durch eine Stadt, die ich nicht kenne. Hamburg ist schön. Schnell wird klar, dass ich die Kilometerschilder nicht ernst nehmen kann. Das wellige Profil und eine sehr ungenaue Positionierung der Schilder lassen den Kilometerschnitt nur erahnen. Bei der Verlegung der Kontrollmatten wurde sich etwas mehr Mühe gegeben, das muss also reichen. Lars hat mehrmals auf die Steigung bis Kilometer 5 hingewiesen. Ich beginne also recht verhalten und erreiche die 10-Kilometer-Zwischenzeit bei 0:45:29 (4:33 min/km).
1996, ein Jahr bevor Jan Ullrich die Tour de France gewann, hab ich mich zusammen mit einem guten Freund aufgemacht, den Mt. Ventoux mit dem Rad zu bezwingen. Ich war jung und hatte keine Ahnung vom Ausdauersport, aber einem gut trainierten Handballer kann ja so ein Berg nichts anhaben. Die 40 Kilometer von Orange bis zum Fuße des Ventoux haben wir auch mit dem Rad zurückgelegt. Mein Begleiter, ein erfahrener Triathlet, hat zähe Gummischeiben gegessen, die er sich vor Tourbeginn auf das Oberrohr geklebt hat. Komische Manieren haben diese Triathleten. Ich hab auch kurz gekostet, dann aber das Essen nicht weiter verfolgt. Ich hatte ja gut gefrühstückt. Auf insgesamt 1900 Meter ging es hoch. Bis zwei Kilometer unter den Gipfel fühlte ich mich gut, dann kippte ich im wahrsten Sinne des Wortes vom Rad. Es war schrecklich. Ich erlitt das, was zwei Jahre später Jan Ullrich während der Tour de France auf der Etappe nach Les deux Alpes auch passierte. Ich bekam einen Hungerast. Ullrich verlor damals 9 Minuten auf Marco Pantani und verlor dadurch auch die Tour de France des Jahres 98, ich nur das Gleichgewicht. Mir wurde eine Packung Butterkekse gereicht, die ich gierig in mich hineinstopfte. Nach 20 Minuten war ich wieder in der Lage, die letzten 2 Kilometer in Angriff zu nehmen. Nach der Abfahrt verdrückte ich noch drei Snickers und lutschte bei der Rückfahrt nach Orange 40 Kilometer lang am Hinterrad meines Triathleten. Das ist also Ausdauersport, grauenhaft.
Heute bin ich ein wenig schlauer und drücke mir bei Kilometer 12 ein Gel in den Mund. Schmeckt nicht, hilft aber. Bis zum Ende des Rennens kommen noch ein paar Portionen hinzu. Ich weiß, dass mein Magen das auch bei der schlimmsten Belastung verdaut. Bei den Landungsbrücken geht’s mir hervorragend, was kein Wunder ist. Die Leute stehen auf den Brücken und sind gut gelaunt. Es macht Spaß hier zu laufen. Ein Marathon ist lang, aber Dinge passieren auch recht plötzlich. Bei Kilometer 17 fühlen sich meine Beine wie frisch gestartet an, bei der Halbmarathonmarke ist dieses Gefühl bereits ersetzt durch erste Müdigkeit. Für den zweiten 10er-Abschnitt brauchte ich 44 Minuten und 7 Sekunden, macht eine Pace von 4:25 min/km. Bei der Halbmarathon-Marke muss ich hörbar lachen. Meine Uhr zeigt hier eine Durchgangszeit von exakt 1:35:00. Tja Jörn, da hilft also nur eine schnellere zweite Hälfte, um die 3:10 zu unterbieten. Viel Spaß dabei, du Verächter von langen Läufen!
In der Vorbereitung habe ich es auf 5 lange Läufe gebracht. Wenn es nach der Meinung vieler Forumsmitglieder geht, waren es eigentlich nur zwei, da Läufe unter 30 Kilometer ja nicht als „lang“ gelten. Ich habe mir einen Trainingsplan gespart, da ich mehr auf mein Körpergefühl und vor allem mein Knie hören wollte. Die Umfänge waren recht gering. Die letzten 9 Wochen bin ich durchschnittlich 55 Wochenkilometer gelaufen. Inspiriert und ermutigt wurde ich dabei von Bruce, der es mit seinen zwei Einheiten pro Woche auf eine Zeit von deutlich unter 40 Minuten gebracht hat. Eigentlich unglaublich. Ich habe es in ähnlicher Weise für diesen Marathon versucht. Drei bis vier Einheiten, aber bei denen muss es dann richtig krachen. Das widerspricht natürlich vielen Meinungen in diesem Forum. Ich wollte es für mich genau wissen. Geht das mit so wenig langen Läufen, dafür aber mehr Tempotraining? Fast jeder der im Forum postet, er sei bei Kilometer 35 eingebrochen, kriegt erst mal reflexartig unterstellt, dass er zu wenig lange Läufe gemacht hat. "Unter fünf bis acht langen Läufen über 30 Kilometer brauchst Du gar nicht erst an den Start gehen", wie oft habe ich das gehört. Ich bin an den Start gegangen und habe auch schon den halben Marathon hinter mir. Mit Greif hatte ich es vor vier Jahren auch versucht. Nach 7 Trainingsläufen über 35 Kilometern bin ich beim Marathon ab Kilometer 30 eingebrochen, ich war auf Kurs 3:10, genau wie heute.
Heute begegnet mir kein Hammermann, sondern das Hämmern in den Beinen wird ab Kilometer 25 immer doller. Der Kampf im Kopf beginnt. Das volle Programm der Motivationsstrategien wird durchgegangen, von Gedanken an Holger Meier bis zur Visualisierung des Zieleinlaufs. Mir war klar, dass solche Löcher kommen werden und noch halte ich es für Löcher und nicht für einen Abhang. Den Abschnitt zwischen Kilometer 20 und 30 lege ich in 0:45:05 zurück, ich halte die Pace von 4:30 min/km.
Es wird immer härter. Ich ertappe mich dabei mir einen Einbruch zu wünschen. Wenn ich auf einmal eine Minute langsamer werde, kann ich schön austrudeln und vielleicht noch mit neuer Bestzeit geschmeidig ins Ziel kommen. Aber jeder Blick auf meine Tempotabelle sagt mir, Du bist auf Kurs 3:10. Ja mein Güte, ich kann doch nicht bei vollem, oder besser verbleibendem Bewusstsein so eine Chance verstreichen lassen! Mal bin ich 10 Sekunden schneller, mal 10 Sekunden langsamer als der erhoffte Schnitt. 10 Sekunden pro Kilometer schaffe ich mit dem Kopf, mehr nicht.
Die Psychotricks klappen bis km 38, dann ist nach meinen Beinen auch mein Kopf leer, das war’s. Ich weiß nicht mehr wo ich bin, ich sehe Absperrgitter und Menschen in Dreierreihen auf beiden Seiten der Straße. Und hier passiert etwas Großartiges. Ich bin kurz davor die Kontrolle über meine Beine zu verlieren. Auf einem Stück von 50 Metern bin ich der einzige Läufer und ich sehe bemitleidenswert aus. In dem Moment rufen 10, 20 oder 50 Menschen meinen Namen: "Jörn! Lauf! Du schaffst das!" Ich hab so was noch nicht erlebt, irgendein weiterer Stoff wird von meinem Kopf in die Blutbahn geschickt und die Entscheidung ist gefallen: Ich laufe das Ding nach Hause und zwar unter 3:10. Bis dort hin haben mich meine Beine und mein Wille gebracht, die letzten Kilometer hab ich Hamburg zu verdanken. Die folgenden Krampfneigungen in diversen Körperteilen hab ich erfolgreich ignoriert und bin in 3:09:31 über die Ziellinie gegangen. Den emotionalen Zieleinlauf hatte ich bereits hinter mir. Ich bin geschockt von dem was ich geschafft habe. In Zeitraffer spielt sich der Film voller läuferischer Rückschläge des letzten halben Jahres vor meinem Auge ab, und jetzt 3:09, ich heule.
Zu Beginn habe ich gelogen. Ich habe beim Hamburg-Marathon nicht nur einmal geheult. Als ich Meike exakt in ihrer Wunschzeit durchs Ziel laufen sah, war es wieder um mich geschehen. So viel Glück auf einen Haufen kann doch kein Mensch ohne Heulerei ertragen.
Jörn