Röntgenlauf 2006 - Schwebeflug im Zeitraffermodus
Verfasst: 30.10.2006, 11:04
„Ach Du Scheiße!“ murre ich unwillig angesichts der langen Warteschlange an der HM-Startnummernausgabe, bis mich Frank darauf hinweist das sich unser Startpaketchen doch in der Kiste unter dem Schild „Marathon“ befindet. Stimmt ja....Marathon...da war doch was – das war ja der eigentliche Plan. Und ein Plan mit der Überschrift „Marathon – Ziel: Ankommen“ hing eine ganze Weile an meinem Kühlschrank und warf mir so lange böse Blicke zu, bis ich entschied, das mein Körper und vor allem mein Kopf definitiv noch nicht bereit war für diese lange Strecke und den Plan dem ewigen Müllverwertungskreislauf zuführte. Und da Mandy und ich am Röntgenlauf-Vorabend beschlossen haben, das wir dieses Jahr noch nicht sterben und nächstes Jahr auch nicht und wir deshalb noch viel, viel Zeit für tolle und auch lange Läufe haben werden wenn wir sie denn wollen, weine ich dem Plan auch keine Träne nach.
Nach einem gemütlichem Herumlungern an der Hotelbar mit Frank, Mandy, Steffen, Fidi und Mr. IronFish und zwei Bieren, die meinen Verstand schon reichlich duhnig gemacht haben, taumele ich vor mich hinkichernd (ich vertrach' ja jar keenen Allohol, wa?) in die Hotelschlafstätte. Den Grund warum mein linkes Auge in der Nacht (in der ich stündlich aufwache und auf die Uhr gucke) ständig tränt und sich irgendwie doof anfühlt identifiziere ich am Wettkampfmorgen als eine vor dem Bettfein-Machen im Auge vergessene Kontaktlinse, die dort die ganze Nacht herumgeschwommen ist. Naja..ich vertrach' halt jar keenen Allohol....
Flugs ist das Dings herausgepult, das Läuferfrühstück verschlungen und aus dem Hotel ausgecheckt – Wagons ho, die Wagen westwärts, es geht los. Vor dem Start muss ich noch eine ganze Flasche Wasser süffeln, 150 x auf Toilette, ca. 10 – 15x von einem Bein aufs andere springen und ca. 150 Leute vollquatschen. Frank hat Mandy und mich zwar angewiesen, keine fremden Männer aufzureißen, aber dennoch kommen wir nicht umhin, in der Schlange vor dem Klo ein wenig herumzualbern und ein paar fremde Männern anzulächeln. Besonders ein Exemplar lächelt besonders nett zurück und bekommt deshalb auch zusätzlich noch Glück gewünscht. Hat er sich verdient. So.
Im Startbereich würde ich am liebsten mit den Hufen scharren, wenn ich den welche hätte. Es soll jetzt endlich bitte losgehen, bitteschön. Luja sog i! Der Sprecher lässt sich aber nicht von mir hetzen, sondern berichtet in einer Seelenruhe über den Zustand der Laufstrecke, begrüßt diverse Vereine, stellt prominente Teilnehmer vor...und GEHT MIR AUF DEN NERV! Ich will laufen – luja sog i! Ich verkürze mir die Wartezeit, indem ich kontrolliere ob alle umstehenden männlichen Läufer auch ordentlich ihre Brustwarzen abgeklebt oder eingeschmiert haben. Im letzten Jahr habe ich zum ersten Mal gesehen, wie blutig und schmerzhaft es aussehen kann, wenn man das NICHT tut...und der Schreck sitzt immernoch tief. Brrr.
Endlich wird der Countdown zurückgezählt – in der Aufregung vergesse ich zwar, welche Zahl hinter 8 und vor 6 kommt, aber der Startschuß fällt dennoch nach der EINS! und der Läuferknubbel setzt sich (mit abgeklebten oder eingeschmierten Brustwarzen) in Bewegung. Mein Herz wummert vor lauter Vorfreude hektisch in meinem Brustkorb herum als wir endlich mit fröhlichem PIIIEP! über die Startmatte hoppeln. Wir sind drin. Wie schön....
Die ersten zwei Kilometer und der erste kleine Anstieg fliegen im Zeitraffer an uns vorbei – wir fühlen uns rasend schnell. Wir haben jedoch keine Ahnung WIE schnell, da wir keine Uhr dabei haben...aber man ist ja immer so schnell wie man sich fühlt, woll? Also: Die ersten beiden Kilometer flogen im gefühlen 4:30er-Schnitt an uns vorbei. Jawoll!
„Hallo Frollein Grünhorn“ tönt es plötzlich hinter uns und aus dem Läuferknubbel winkt Conny, unsere tolle HM-Supporterin aus dem Vorjahr. Juchhe, Freude! Wir plaudern eine Weile, aber da Conny im gefühlten 3:30er-Schnitt unterwegs ist, können wir trotz unseres raketenartigen Tempos nicht mithalten und müssen sie leider ziehen lassen. Man muss ja nicht gleich übertreiben. Oder überpacen. Oder so.
Nach gefühlten 10 Minuten rauscht das 5. Kilometerschild an unseren Gazellenbeinen vorbei – 5 km? War watt? Wahnsinn....5 km in 10 Minuten sind ja schon ziemlich respektabel. Plötzlich hält neben uns eine Portion Lauftestosteron und grinst „Hallo!“ Und entgegen Franks Anweisung freuen wir uns, den lächelnden Mann vom Klo wiederzutreffen. Da es nun aber niemand verdient hat, als „der Mann vom Klo“ in irgendeinen Laufbericht einzugehen, frage ich noch artig nach seinem Vornamen, den er mit „Ralf“ angibt. Unser euphorisches Geplapper im Duett scheint Ralf aber so zu schrecken, das er die erste Möglichkeit einer Bergab-Strecke nutzt, um sich mit einem „Ist das herrlich“ in die Tiefe zu stürzen und seine Ohren vor unserem Geschwätz in Sicherheit zu bringen. Und wech isser....Ralf, der Mann vom Klo. So kann's gehen.
Da wir am Vorabend nicht nur beschlossen haben, nächstes Jahr nicht zu sterben (und übernächstes Jahr auch noch nicht) sondern auch die Prioritäten im Herbst 2007 auf zwei andere Laufveranstaltungen zu legen, laufen wir mit dem Gefühl, das dies für längere Zeit unser letzter Röntgenlauf ist. Fast schon feierlich weisen wir uns gegenseitig bei besonders schönen Passagen darauf hin, die Eindrücke feste in uns einzusaugen und in die Erinnerung einzubrutzeln. Und da die Laufstrecke im Grunde ausschließlich aus schönen Passagen besteht, saugen wir den kompletten Weg ins uns auf bis kein Hälmchen und Stöckchen mehr davon übrig ist. Es tut uns auch ein wenig leid für die nachfolgenden Läufer, das wir ihnen nun den Weg weggesaugt haben – aber die hätten sich ja nur ein wenig beeilen müssen. Selbst schuld.
Um uns herum schwirren die üblichen Floskeln der läuferischen Testosteron-Tiefstapelei durch den Wald - „Nee, ich hab ja gar nicht trainiert, das ist mein erster Lauf überhaupt seit langem!“ (Nee, iss klar...) „.....7 Monate überhaupt nicht gelaufen“....(Ja, ja...) „...nicht in Form, deswegen nur den Marathon!“ (Genau!) „Ihr lügt doch alle!“ verkündet Mandy empört und ich schiebe noch ein „Genau, ihr Streber“ hinterher – wir lassen uns nix vormachen, wir wissen wo der Tiefstapel-Hase langläuft. Pah. Und für den Fall, das uns jemand ob unseres Trainingszustandes befragt, lernen wir schnell den Satz „Ich habe bis gestern noch im Rollstuhl gesessen, und das ist der erste Lauf in meinem Leben“ auswendig – wenn Tiefstapelei, dann richtig.
Mein läuferisches Körpergefühl ist einfach großartig – die Strecke ist so wunderschön, und das Laufen fühlt sich so fließend und kraftvoll an, das ich vor lauter Genießen fast gegen einen Baum laufe. Wir haben immer noch keine Ahnung, wo wir sind und wie lange wir unterwegs sind....aber gefühlt sind wir Raketen. Wir beschließen, gefühlte 2:10 Std. zu laufen, ganz egal was die Uhr im Ziel uns auch anzeigen wird. Man ist so schnell wie man sich fühlt...sach ich doch...
Einer der vielen Gründe warum ich Mandy so sehr mag, ist die Tatsache das ihr Verstand wie ein Flipperautomat ständig Gedankenbrocken hin- und herschießt um dann unerwartet und unzusammenhängend skurile Hirnfetzen auszuspucken. Während mein eigener Kopf nun also analog zur momentanen Situation „Och, ist das schön hier zu laufen“ denkt, verkündet Mandy plötzlich „Wir sind die Schwestern mit dem Gendefekt. Uns können einfach keine langen Haare wachsen!“ „WATT?“ „Ja, wir werden doch immer für Schwestern gehalten, bestimmt nur wegen der kurzen Haare!“ „Ähm...ja...bestimmt...“ So wird’s sein – die Schwestern mit dem Gendefekt. Genau. Und da wir über diese Vorstellung minutenlang albern kichern müssen, bekommt der Fotograf, der hinter der Kurve lauert, zwei lachende kurzhaarige defekte Schwestern vor die Linse – hoffentlich macht er was draus. Sieht man ja nicht alle Tage. Und dann noch zwei kurzhaarige gendefekte Schwestern die gestern noch im Rollstuhl saßen und heute schon röntgenlaufen – heureka!
Wir laufen und laufen und genießen und saugen und reißen keine fremden Männer auf, bis Mandy irgendwann zaghaft und leise murmelt „Irgendwie sind dieses Jahr gar keine Berge da, oder?“ Stimmt...wir laufen gefühlt nur bergab und irgendwie ist alles wunderbar unanstrengend, auch wenn sich doch langsam ein Hungergefühl ankündigt. Schließlich haben wir die Vortage ausschließlich mit Essen verbracht, und zwar bergeweise, da fühlt sich so ein Magen nun schon ein wenig verarscht wenn über eine Stunde nix mehr reinkommt. Oder über 2 Stunden? 3 Stunden? Wir haben wohl unser Zeitgefühl mitsamt dem Weg eingesaugt und keine Ahnung, ob wir jetzt schon 1,5 oder 2 oder 3 Stunden unterwegs sind...
„Noch 6 km bis zum Halbmarathonziel“ kreischt eine Dame am letzten Verpflegungsstand euphorisch und ich kreische mal anstandshalber euphorisch mit – obwohl es tief in mir eher „Och nööö...ich will noch nicht!“ flüstert. Ob ich nicht doch nach dem HM-Ziel ein bißchen weiterlaufen soll....? Nur so'n bißchen? Aber Jo wartet ja auf uns im HM-Ziel und Junsa und irgendwie kommt ja dann die ganze Rückfahrplanung durcheinander und außerdem muss ich ja heute nicht ins Marathonziel – ich werde ja bekanntermassen dieses Jahr noch nicht sterben und habe noch so viel Zeit...für sowas....und man soll ja aufhören wenns am schönsten ist – und schöner kann es eigentlich gar nicht werden.
Hinter der letzten großen Kurve lauert der Gasthof „Zillertal“ wo der leise Geruch nach Ziel ziemlich dominant von dem Duft frischgebackener Waffeln überdeckt wird. Köstlich. Mein Magen verkündet leise, das er nichts gegen den Einwurf einer solchen Köstlichkeit einzuwenden hätte und auch Mandy murmelt bedauernd „Schön doof, das wir gerade so gar keine Zeit haben“ Wobei wir nach wir vor nicht wissen, wieviel Zeit genau wir „nicht haben“. Macht aber nach wie vor nix.
Vor dem Gasthof sitzen 3 maximalpigmentierte Musiker in bunten Gewändern und bringen den Läufern afrikanisch-angehauchte Gesänge dar, begleitet von lustigen Trommeleien. Ich bilde mir ein, aus den Textzeilen in unverständlicher Sprache ein „Loooos...beeeeeil'n!“ herauszuhören und bin empört. Von wegen „Hakuna matata“ und so...sind die Musiker nur gekommen um uns zu hetzen? Aber da wir bis gestern noch im Rollstuhl gesessen haben, lassen wir uns überhaupt nicht unter Druck setzen, und schon gar nicht von fremden schwarzen Männern in langen Kleidern - außerdem sind wir ohnehin raketenschnell und im gefühlten 5er-Schnitt auf Sub2-Stunden Kurs. Man ist immer so schnell wie man sich fühlt. So.
Irgendwann riecht das Ziel stärker als die Waffeln und wir ziehen das Tempo an – gefühlter 4:00er-Schnitt, ganz wunderbar leicht und schwebend. Laufen ist schön! Mit einem leisen „Schlurrp“ saugen wir auch das Zielpublikum und die letzten Meter des Weges auf und fliegen ins Ziel. Das die Uhr dort irgendwas um die 2:25 Std. anzeigt juckt uns nicht die Bohne – man ist so schnell wie man sich fühlt. Jawollja.
Und würden sich die Beine, die sich unter meinem Schreibtisch während des Schreibens dieses Berichtes befinden, sich nicht ein kleines bißchen schwer anfühlen, würde ich fast glauben ich hätte den Lauf nur geträumt, so wunderbar und leicht wie es sich anfühlte gestern. Jede einzelne Minute war gigantisch schön und – wie Mandy sagen würde – kein Ach! kam über unsere Lippen. Für die nachfolgenden Läufer und auch die Röntgenstarter im nächsten Jahr tuts mir natürlich leid, das kein Weg mehr da ist...aber jeder Meter war köstlich ;)
Nach einem gemütlichem Herumlungern an der Hotelbar mit Frank, Mandy, Steffen, Fidi und Mr. IronFish und zwei Bieren, die meinen Verstand schon reichlich duhnig gemacht haben, taumele ich vor mich hinkichernd (ich vertrach' ja jar keenen Allohol, wa?) in die Hotelschlafstätte. Den Grund warum mein linkes Auge in der Nacht (in der ich stündlich aufwache und auf die Uhr gucke) ständig tränt und sich irgendwie doof anfühlt identifiziere ich am Wettkampfmorgen als eine vor dem Bettfein-Machen im Auge vergessene Kontaktlinse, die dort die ganze Nacht herumgeschwommen ist. Naja..ich vertrach' halt jar keenen Allohol....
Flugs ist das Dings herausgepult, das Läuferfrühstück verschlungen und aus dem Hotel ausgecheckt – Wagons ho, die Wagen westwärts, es geht los. Vor dem Start muss ich noch eine ganze Flasche Wasser süffeln, 150 x auf Toilette, ca. 10 – 15x von einem Bein aufs andere springen und ca. 150 Leute vollquatschen. Frank hat Mandy und mich zwar angewiesen, keine fremden Männer aufzureißen, aber dennoch kommen wir nicht umhin, in der Schlange vor dem Klo ein wenig herumzualbern und ein paar fremde Männern anzulächeln. Besonders ein Exemplar lächelt besonders nett zurück und bekommt deshalb auch zusätzlich noch Glück gewünscht. Hat er sich verdient. So.
Im Startbereich würde ich am liebsten mit den Hufen scharren, wenn ich den welche hätte. Es soll jetzt endlich bitte losgehen, bitteschön. Luja sog i! Der Sprecher lässt sich aber nicht von mir hetzen, sondern berichtet in einer Seelenruhe über den Zustand der Laufstrecke, begrüßt diverse Vereine, stellt prominente Teilnehmer vor...und GEHT MIR AUF DEN NERV! Ich will laufen – luja sog i! Ich verkürze mir die Wartezeit, indem ich kontrolliere ob alle umstehenden männlichen Läufer auch ordentlich ihre Brustwarzen abgeklebt oder eingeschmiert haben. Im letzten Jahr habe ich zum ersten Mal gesehen, wie blutig und schmerzhaft es aussehen kann, wenn man das NICHT tut...und der Schreck sitzt immernoch tief. Brrr.
Endlich wird der Countdown zurückgezählt – in der Aufregung vergesse ich zwar, welche Zahl hinter 8 und vor 6 kommt, aber der Startschuß fällt dennoch nach der EINS! und der Läuferknubbel setzt sich (mit abgeklebten oder eingeschmierten Brustwarzen) in Bewegung. Mein Herz wummert vor lauter Vorfreude hektisch in meinem Brustkorb herum als wir endlich mit fröhlichem PIIIEP! über die Startmatte hoppeln. Wir sind drin. Wie schön....
Die ersten zwei Kilometer und der erste kleine Anstieg fliegen im Zeitraffer an uns vorbei – wir fühlen uns rasend schnell. Wir haben jedoch keine Ahnung WIE schnell, da wir keine Uhr dabei haben...aber man ist ja immer so schnell wie man sich fühlt, woll? Also: Die ersten beiden Kilometer flogen im gefühlen 4:30er-Schnitt an uns vorbei. Jawoll!
„Hallo Frollein Grünhorn“ tönt es plötzlich hinter uns und aus dem Läuferknubbel winkt Conny, unsere tolle HM-Supporterin aus dem Vorjahr. Juchhe, Freude! Wir plaudern eine Weile, aber da Conny im gefühlten 3:30er-Schnitt unterwegs ist, können wir trotz unseres raketenartigen Tempos nicht mithalten und müssen sie leider ziehen lassen. Man muss ja nicht gleich übertreiben. Oder überpacen. Oder so.
Nach gefühlten 10 Minuten rauscht das 5. Kilometerschild an unseren Gazellenbeinen vorbei – 5 km? War watt? Wahnsinn....5 km in 10 Minuten sind ja schon ziemlich respektabel. Plötzlich hält neben uns eine Portion Lauftestosteron und grinst „Hallo!“ Und entgegen Franks Anweisung freuen wir uns, den lächelnden Mann vom Klo wiederzutreffen. Da es nun aber niemand verdient hat, als „der Mann vom Klo“ in irgendeinen Laufbericht einzugehen, frage ich noch artig nach seinem Vornamen, den er mit „Ralf“ angibt. Unser euphorisches Geplapper im Duett scheint Ralf aber so zu schrecken, das er die erste Möglichkeit einer Bergab-Strecke nutzt, um sich mit einem „Ist das herrlich“ in die Tiefe zu stürzen und seine Ohren vor unserem Geschwätz in Sicherheit zu bringen. Und wech isser....Ralf, der Mann vom Klo. So kann's gehen.
Da wir am Vorabend nicht nur beschlossen haben, nächstes Jahr nicht zu sterben (und übernächstes Jahr auch noch nicht) sondern auch die Prioritäten im Herbst 2007 auf zwei andere Laufveranstaltungen zu legen, laufen wir mit dem Gefühl, das dies für längere Zeit unser letzter Röntgenlauf ist. Fast schon feierlich weisen wir uns gegenseitig bei besonders schönen Passagen darauf hin, die Eindrücke feste in uns einzusaugen und in die Erinnerung einzubrutzeln. Und da die Laufstrecke im Grunde ausschließlich aus schönen Passagen besteht, saugen wir den kompletten Weg ins uns auf bis kein Hälmchen und Stöckchen mehr davon übrig ist. Es tut uns auch ein wenig leid für die nachfolgenden Läufer, das wir ihnen nun den Weg weggesaugt haben – aber die hätten sich ja nur ein wenig beeilen müssen. Selbst schuld.
Um uns herum schwirren die üblichen Floskeln der läuferischen Testosteron-Tiefstapelei durch den Wald - „Nee, ich hab ja gar nicht trainiert, das ist mein erster Lauf überhaupt seit langem!“ (Nee, iss klar...) „.....7 Monate überhaupt nicht gelaufen“....(Ja, ja...) „...nicht in Form, deswegen nur den Marathon!“ (Genau!) „Ihr lügt doch alle!“ verkündet Mandy empört und ich schiebe noch ein „Genau, ihr Streber“ hinterher – wir lassen uns nix vormachen, wir wissen wo der Tiefstapel-Hase langläuft. Pah. Und für den Fall, das uns jemand ob unseres Trainingszustandes befragt, lernen wir schnell den Satz „Ich habe bis gestern noch im Rollstuhl gesessen, und das ist der erste Lauf in meinem Leben“ auswendig – wenn Tiefstapelei, dann richtig.
Mein läuferisches Körpergefühl ist einfach großartig – die Strecke ist so wunderschön, und das Laufen fühlt sich so fließend und kraftvoll an, das ich vor lauter Genießen fast gegen einen Baum laufe. Wir haben immer noch keine Ahnung, wo wir sind und wie lange wir unterwegs sind....aber gefühlt sind wir Raketen. Wir beschließen, gefühlte 2:10 Std. zu laufen, ganz egal was die Uhr im Ziel uns auch anzeigen wird. Man ist so schnell wie man sich fühlt...sach ich doch...
Einer der vielen Gründe warum ich Mandy so sehr mag, ist die Tatsache das ihr Verstand wie ein Flipperautomat ständig Gedankenbrocken hin- und herschießt um dann unerwartet und unzusammenhängend skurile Hirnfetzen auszuspucken. Während mein eigener Kopf nun also analog zur momentanen Situation „Och, ist das schön hier zu laufen“ denkt, verkündet Mandy plötzlich „Wir sind die Schwestern mit dem Gendefekt. Uns können einfach keine langen Haare wachsen!“ „WATT?“ „Ja, wir werden doch immer für Schwestern gehalten, bestimmt nur wegen der kurzen Haare!“ „Ähm...ja...bestimmt...“ So wird’s sein – die Schwestern mit dem Gendefekt. Genau. Und da wir über diese Vorstellung minutenlang albern kichern müssen, bekommt der Fotograf, der hinter der Kurve lauert, zwei lachende kurzhaarige defekte Schwestern vor die Linse – hoffentlich macht er was draus. Sieht man ja nicht alle Tage. Und dann noch zwei kurzhaarige gendefekte Schwestern die gestern noch im Rollstuhl saßen und heute schon röntgenlaufen – heureka!
Wir laufen und laufen und genießen und saugen und reißen keine fremden Männer auf, bis Mandy irgendwann zaghaft und leise murmelt „Irgendwie sind dieses Jahr gar keine Berge da, oder?“ Stimmt...wir laufen gefühlt nur bergab und irgendwie ist alles wunderbar unanstrengend, auch wenn sich doch langsam ein Hungergefühl ankündigt. Schließlich haben wir die Vortage ausschließlich mit Essen verbracht, und zwar bergeweise, da fühlt sich so ein Magen nun schon ein wenig verarscht wenn über eine Stunde nix mehr reinkommt. Oder über 2 Stunden? 3 Stunden? Wir haben wohl unser Zeitgefühl mitsamt dem Weg eingesaugt und keine Ahnung, ob wir jetzt schon 1,5 oder 2 oder 3 Stunden unterwegs sind...
„Noch 6 km bis zum Halbmarathonziel“ kreischt eine Dame am letzten Verpflegungsstand euphorisch und ich kreische mal anstandshalber euphorisch mit – obwohl es tief in mir eher „Och nööö...ich will noch nicht!“ flüstert. Ob ich nicht doch nach dem HM-Ziel ein bißchen weiterlaufen soll....? Nur so'n bißchen? Aber Jo wartet ja auf uns im HM-Ziel und Junsa und irgendwie kommt ja dann die ganze Rückfahrplanung durcheinander und außerdem muss ich ja heute nicht ins Marathonziel – ich werde ja bekanntermassen dieses Jahr noch nicht sterben und habe noch so viel Zeit...für sowas....und man soll ja aufhören wenns am schönsten ist – und schöner kann es eigentlich gar nicht werden.
Hinter der letzten großen Kurve lauert der Gasthof „Zillertal“ wo der leise Geruch nach Ziel ziemlich dominant von dem Duft frischgebackener Waffeln überdeckt wird. Köstlich. Mein Magen verkündet leise, das er nichts gegen den Einwurf einer solchen Köstlichkeit einzuwenden hätte und auch Mandy murmelt bedauernd „Schön doof, das wir gerade so gar keine Zeit haben“ Wobei wir nach wir vor nicht wissen, wieviel Zeit genau wir „nicht haben“. Macht aber nach wie vor nix.
Vor dem Gasthof sitzen 3 maximalpigmentierte Musiker in bunten Gewändern und bringen den Läufern afrikanisch-angehauchte Gesänge dar, begleitet von lustigen Trommeleien. Ich bilde mir ein, aus den Textzeilen in unverständlicher Sprache ein „Loooos...beeeeeil'n!“ herauszuhören und bin empört. Von wegen „Hakuna matata“ und so...sind die Musiker nur gekommen um uns zu hetzen? Aber da wir bis gestern noch im Rollstuhl gesessen haben, lassen wir uns überhaupt nicht unter Druck setzen, und schon gar nicht von fremden schwarzen Männern in langen Kleidern - außerdem sind wir ohnehin raketenschnell und im gefühlten 5er-Schnitt auf Sub2-Stunden Kurs. Man ist immer so schnell wie man sich fühlt. So.
Irgendwann riecht das Ziel stärker als die Waffeln und wir ziehen das Tempo an – gefühlter 4:00er-Schnitt, ganz wunderbar leicht und schwebend. Laufen ist schön! Mit einem leisen „Schlurrp“ saugen wir auch das Zielpublikum und die letzten Meter des Weges auf und fliegen ins Ziel. Das die Uhr dort irgendwas um die 2:25 Std. anzeigt juckt uns nicht die Bohne – man ist so schnell wie man sich fühlt. Jawollja.
Und würden sich die Beine, die sich unter meinem Schreibtisch während des Schreibens dieses Berichtes befinden, sich nicht ein kleines bißchen schwer anfühlen, würde ich fast glauben ich hätte den Lauf nur geträumt, so wunderbar und leicht wie es sich anfühlte gestern. Jede einzelne Minute war gigantisch schön und – wie Mandy sagen würde – kein Ach! kam über unsere Lippen. Für die nachfolgenden Läufer und auch die Röntgenstarter im nächsten Jahr tuts mir natürlich leid, das kein Weg mehr da ist...aber jeder Meter war köstlich ;)