Mein Frankfurt-Marathon 2006 – spannender als ein Tatort
Verfasst: 31.10.2006, 06:04
Mein Frankfurt-Marathon 2006 – spannender als ein Tatort
Mal wieder XXL
Holger Meier ist immer schuld
Holger Meier sitzt drei Schreibtische weiter. Er hat es geschafft, seine Bestzeit beim Köln-Marathon mal eben um 25 Minuten zu verbessern. Natürlich trainiert Holger Meier nach einem Greif-Plan und macht nebenbei Krafttraining, ich dagegen bin ein schmächtiges Steffny-Würstchen. Bei km15 ist er an mir vorbei gezischt, dass ich mir sicher war, ihn später wieder aufzulesen. Aber abgesehen davon, dass ich mit Magenschmerzen die letzten 25km eingegangen bin, hat er das Ding mit 3:19:18 Std voll durchgezogen. Heee, das war meine Wunschzeit! Am Montag nach dem Rennen musste ich vor ihm auf die Knie gehen und ihm huldigen.
Da hilft nur noch ein Wunder
Nächstes Jahr in Hamburg, da schlage ich zurück! Im April, das sind ja nur... 5... 6... Monate, in denen ich jeden Tag bei der Arbeit in ein zufriedenes Grinsen sehen muss. Arrgh!
Na gut, ich will ja den Röntgenlauf absolvieren, das kann er bestimmt nicht. Leider bin ich mir aber auch nicht sicher, ob ich die 63,3km schaffe. Das käme dann natürlich ganz besonders blöd daher.
Und wozu hab ich eigentlich den ganzen Sommer über Tempotraining gemacht? Um mich bei so einem Ultra mit letzter Kraft über die plöden Perge zu schnecken? Je näher der Röntgen rückt, desto sehnsüchtiger schiele ich auf den Frankfurt-Marathon. Zaghaft oute ich mich: Ja wenn denn einer überhaupt nicht starten kann oder will, könnte ich ganz theoretisch einspringen. In Gedanken pokere ich: Sollte mir jemand umsonst seinen Startplatz vermachen, schwenke ich auf Frankfurt um. Kann mich ja noch am Sonntag morgen entscheiden, ob ich nach Norden oder Süden fahre. Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, ... nichts schiebt sich, meine Motivation für den Röntgen sinkt immer weiter.
Genau an dieser Stelle tritt wieder das beste Forum der Welt auf den Plan: Freitags nachmittags spricht mir Stefan (Ishimori) auf die Quakbox: „Ich hab einen Platz für Dich, wir starten zusammen in Frankfurt.“ Das Wunder ist doch noch passiert! Auf einmal ist das Kribbeln wieder voll da. In den nächsten zwei Tagen bin ich aufgeregt wie vor meinem ersten Marathon.
Gegen alle Ratgeber
Zwei Marathons innerhalb von drei Wochen? Mit Bestzeit-Ambitionen? No way!
So hätte ich natürlich jedem geantwortet, der mich um Rat gefragt hätte. Aber die Ratgeber befolgen bekanntlicherweise ihre Tipps selten selbst, weil sie ja so schlau sind. Stefan und ich bleiben also bei unserer Zeitvorgabe von vor drei Wochen: sub 3:15 Std. Meine nachrangigen Ziele wären dann sub Holger Meier oder zumindest neue Bestzeit. Greif sagt für das Unternehmen ein Scheitern voraus, aber der ist bestimmt von Holger Meier bestochen worden.
Hoppla, es geht schon los
Km 1-5: 23:26 min, Voraussichtliche Endzeit: 3:17:47 Std.
Autofahrt, ForiVorabTreff, Kleiderabgabe, Dixiklo, Doppelknoten, Countdown, rote Luftballons, Stoppuhr, rote Matten – Zeit läuft!
Der Forerunner (201) zeigt den ersten Kilometer gar nix an. Kenn ich schon vom letzten Jahr. Aber auch der Pulser liefert nur Blödsinn. Glücklicherweise hat Stefan den Schrittsensor und steuert uns durch die ersten Kilometer. Ich komm wie immer schwer in die Gänge, mein Trinkgurt fühlt sich so schwer an, hab ja auch einen halben Liter Iso dabei, falls auch in Frankfurt das Wasser zu kalt sein sollte.
Wir lassen es langsam angehen, für 3:15 Std. wahrscheinlich zu langsam. Aber ab km10 wollen wir mehr Gas geben.
Erstes Zwacken
Km 6-10: 22:42 min, Voraussichtliche Endzeit: 3:14:41 Std.
Ab km 8 sind wir auf Kurs 3:15 Std. Bei km 9 kommen wir zum zweiten Mal bei einer Oldie-Band vorbei, die Supertramp’s „Give a little bit“ in einer Schnarch-Version feil bietet. Hatten wir das bei km 4 nicht auch schon gehört oder spielen die wirklich so langsam? Stefan und ich sind uns einig, dass wir uns bei km 41, wenn es das dritte Mal hier vorbei geht und die Band wieder so lahm spielt, den Gnadenschuss geben.
Langsam hab ich mein Tempo gefunden, aber auf den Forerunner ist weiterhin überhaupt kein Verlass und die Kilometerschilder scheinen ziemlich unregelmäßig zu stehen. Ich lauf nach Gefühl und lass mir von Stefan häufig die Zeiten durchgeben. Wir sind am Überholen und wuseln uns durch die Masse. Merkwürdigerweise bin ich jetzt auch häufiger vorne als Stefan. Schnell wird klar, warum: Er hat Seitenstiche, meint aber, sie wegdrücken und weglaufen zu können.
Es geht nicht weg
Km 11-15: 23:50 min, Voraussichtliche Endzeit: 3:16:50 Std.
Hinter km10 machen wir eine kurze Gehpause bei der Verpflegung, ich pfeife mir das erste Gel rein. Ja, mal wieder was neues ausprobieren. Nachdem mir in Köln Bananen eher geschadet als genützt haben, versuche ich mal mit reiner Flüssignahrung auszukommen. Die km-Schnitte werden gleichmäßiger, pendeln zwischen 4:39 und 4:33 min/km, auch der Forerunner fängt sich wieder und zeigt diese km sehr exakt an.
Für Stefans Seitenstiche sind diese Zeiten allerdings Gift. Direkt vor km 15 ist eine Verpflegungsstelle, an der wir eine lange Gehpause machen. Ich nutze die Gelegenheit für einen Abstecher in die Botanik, was aber glücklicherweise das einzige Mal heute sein sollte. Nach 30 Sekunden Zeitverlust beschließen wir, langsamer weiterzulaufen. Die Zielzeit von 3:15 Std. ist ab hier Geschichte.
Es könnte so schön sein
Km 16-20: 23:41 min, Voraussichtliche Endzeit: 3:17:26 Std.
Nach einem langsamen km 16 im Fünfer-Schnitt probieren wir es noch einmal: 4:38, 4.42, 4:38, 4:38 min/km. Tapferer Stefan! Mir geht es Im Gegensatz zu ihm blendend, ich bin jetzt richtig gut eingelaufen und meine die Wirkung des Gels schon zu spüren.
Auch wenn diese Mainseite mit weniger Zuschauern besetzt ist, gibt es doch einige Stimmungsnester, wie zum Beispiel in Niederrad und Goldstein, wo man denkt, hier findet ein Dorffest statt. Laute Musik und Ansager heizen dem Publikum ein, das schöne Wetter tut ein übriges dazu. Im Moment kann ich die Strecke und die Zuschauer genießen, es gefällt mir sogar noch besser als im letzten Jahr.
Stefan gefällt es gar nicht. Er braucht eine Gehpause, aber ich überrede ihn, bis zur nächsten Verpflegungsstation durchzuhalten.
Gemeinsam (unter-) gehen?
Km 21-25: 24:26 min, Voraussichtliche Endzeit: 3:19:19 Std.
Halbmarathon bei 1:39:04 Std.
Lange Geh- und Trinkpause hinter km 20. Ich nehme das nächste Gel und bin – wie bei jeder Wasserstelle – kräftig am Bewässern meines Kopfes, Brust und Nacken. Die Sonne kommt zeitweilig raus und dann sind es bestimmt 20 Grad, also muss ordentlich gekühlt werden.
Kurz vor dem Halbmarathon werden wir noch von Dieter (Staffel-)Baumann überholt. Er läuft so schnell, dass ich ihn nur noch von hinten sehe. Egal, sein Gesicht kann ich mir ja auch in der Zeitung ansehen. Ich rufe ihm noch nach: „Was für ein Traum, einmal von Dieter Baumann überholt zu werden“, aber er hat gerade keine Zeit für ein Autogramm.
Nach zwei Kilometern mit 4:44 und 4:42 min/km kommt, was kommen muss: Stefan bleibt zurück. Ich drehe mich um, laufe einige Meter rückwärts, kann ihn aber nicht mehr entdecken. Schließlich stoppe ich und warte, bis er kommt. Er will anlaufen, aber nach zwanzig Metern sticht es wieder. So sagen wir uns zwischen km23 und 24 Lebewohl und laufen/gehen ins Ungewisse (hab ich das nicht mächtig pathetisch ausgedrückt?). Im Ernst, es war schon ziemlich traurig. Ich hatte bis dahin immer das Bild im Kopf, dass wir beide gemeinsam über die Ziellinie gehen, egal mit welcher Zeit.
Um mich abzulenken, krame ich meinen MP3-Player raus, lass mich vollblubbern und falle wieder ins Tempo zurück.
Die nächste Schwächephase, bitte!
Km 26-30: 24:19 min, Voraussichtliche Endzeit: 3:20:19 Std.
Die einzig nennenswerte Steigung: Schwanheimer Brücke. Dazu noch die überraschende Erkenntnis, dass Gegenwind immer von vorne kommt. Nach einigen Überholmanövern aus dem Windschatten heraus und bergauf stelle ich fest, dass das doch ganz schön anstrengend ist. Daraufhin verstecke ich mich lieber etwas und bezahle km 26 mit einer Pace von 4:59 min/km. Wasserstelle bei km 27,5: nochmal 20 Sekunden drangegeben.
Wieder einmal Spitzenstimmung in Hoechst, aber der leichte Anstieg bis hin zur Kehre bei km 29 kostet Zeit (4:51 min) und die Verpflegung – Gel Nr. 3 - bei km 30 noch einmal (4:56 min). Fast schon traditionell, meine Schwäche vor km 30.
So oLi, jetzt hast Du den Salat! Die 3:20 Std packst Du auch nicht mehr.
Die Geheimwaffe wird erstmals eingesetzt
Km 30-35: 23:10 min, Voraussichtliche Endzeit: 3:19:38 Std.
Heee, Moment mal! Wer hat das eben gesagt? Habe ich da Holger Meiers süffisante Stimme gehört? Neeeein, das darf nicht sein! Dementoren, von mir! Motivatoren, herbei!
- Zeitcheck: Noch 12,2 Kilometer und ca. 57 Minuten. Das muss doch zu schaffen sein!
- Wettercheck: Nicht zu warm, flatternde Fahnen zeigen Rückenwind
- Bodycheck: Beine o.k., Magen o.k., Blase/Darm: keine Regung, Durst: keiner
Was hält Dich davon ab, jetzt Gas zu geben? Du hast doch immer von einer Endbeschleunigung geträumt? Holger Meier ist direkt hinter Dir, also lauf los!
Und so kämpfte ich mich langsam ran: 4:30 – 4:39 – 4:49 (Wasserstelle) – 4:32 – 4:33 min/km. Aber ich darf keine Sekunde mehr verschenken!
Nur noch weiter, nicht nachlassen
Km 35-40: 23:46 min, Voraussichtliche Endzeit: 3:19:45 Std.
Die lange, gerade Mainzer Landstraße liegt mir und ich bin am Überholen. Erstaunlich, wie langsam „die Meute“ vor sich hintrottet. Vor mir bewegt sich ein dürrer Läufer mit schwarzen Kniestrümpfen und roten Schuhen, der seine Fersen fast bis zum Po nach oben zieht. Sieht aus wie ein Storch im Salat. Aber im Grunde genommen hat er recht: Fersen hoch, kräftiger Abdruck nach vorne, Beine pendeln lassen. Stilschule bei km 35, na bravo! Lenkt aber auch prima ab.
Hinter km35 die letzte richtige Verpflegungspause: Das vierte Gel, ordentlich nachspülen, Schweiß mit dem Schwamm abwischen, Wasser über den Kopf. Nochmal alles checken, dem Schweinehund eins aufs Maul geben und wieder anlaufen. Alles tut gleichmäßig weh, also geht‘s noch! Überhaupt habe ich keine Anwandlungen von Krämpfen oder anderen Zicken, so dass ich meinen Lauf fast noch als „angenehm hart“ titulieren muss.
Auch wenn ich mit meiner Stoppuhrzeit und in diesem Stadium natürlich nicht auf die Sekunde genau meine Endzeit voraussagen konnte, wusste ich doch, dass es unglaublich knapp würde. Trotz aller Anstrengungen verliere ich auf diesem Stück einige Sekunden. Vielleicht die entscheidenden?
Triumphiert am Ende Holger Meier doch?
Km 40-42,2: 09:45 min, Endzeit: 3:19:xx Std.
Bis km 40 gab es bei aller Mühe immer noch ein Abklatschen von Kinderhänden, Zuzwinkern bei netten Zuschauern, Genießen der Rückansichten knackiger Läuferinnen. Aber jetzt ist Schluss mit lustig, der Showdown beginnt. Noch zehn Minuten durchhalten. Aber nein, das wäre schon zu langsam!
Ich versuche zu beschleunigen und - es geht. Konzentrier mich nur noch auf die vor mir laufenden Beine, die ich überhole und geb acht, dass ich jetzt nicht stolpere. Km 41 in 4:31 min!
Meine Gesichtszüge entgleiten langsam, ich hetze weiter. Schneller, die Beine können noch! Aufrecht bleiben, Hüfte nach vorne, Fersen hoch. Nicht mehr auf den Forerunner schauen, nur noch durchziehen und weiter atmen. Renn, renn, renn! Km 42 in 4:22 min!
Wann kommt endlich die Abzweigung zur Festhalle? Da, noch zweihundert Meter, noch eine knappe Minute und... es passt! Im gestreckten Galopp presche ich in der Festhalle durch den Konfettiregen, bekomme gerade noch die Arme hoch zum Victory-Zeichen und werfe mich ins Ziel.
Jaaa, unter 3:20 Std geblieben!
Ein genauer Blick auf die Stoppuhr lässt mich erstarren: 3:19:24. Das darf doch nicht wahr sein! Selbst wenn man zwei, drei Sekunden abzieht, die ich aus Sicherheitsgründen zu früh bzw. zu spät gestoppt hab, bin ich um ein paar Sekunden langsamer als Holger Meier? Neeeeinn!!!
Das Rennen ist vorbei. Die Saison ist vorbei.
Das wird ein langer Winter...
Ehre, wem Ehre gebührt
Natürlich freu ich mich wahnsinnig über die Bestzeit. Mehr als neun Minuten schneller als im Frühjahr und wieder einen Zehner geknackt. Gegenüber letztem Jahr sogar um 17 Minuten verbessert. Aber diese wenigen Sekunden...
Oha, eine SMS von Holger Meier: „Hallo oLi, wie ist es denn heute gelaufen?“ Na gut, machen wir’s kurz und kriechen jetzt gleich zu Kreuze. Ich ruf ihn aus dem Auto an.
„Ach, Du warst gar nicht beim Röntgenlauf?“ fragt er. „Frankfurt-Marathon? Welche Zeit bist Du denn gelaufen?“
„Drei neunzehhhhhhn“, ich dehne die Neunzehn bis es nicht mehr geht, um dann schnell anzufügen: „vierundzwanzig. Handgestoppt. Du bist um sechs Sekunden schneller als ich.“
So, jetzt ist es raus. Im Hintergrund hör ich Tastaturgeklapper, er hat natürlich sofort die Ergebnisliste aufgerufen.
„Nee“, sagt er, „Deine Netto-Zeit ist 3:19:05. DU bist schneller.“
Ich muss mich beherrschen, um bei Tempo 160 nicht das Steuer zu verreißen. Wie geil ist das denn? Holger Meier teilt mir meinen Sieg mit!
„Ist es nicht unglaublich, wie dicht wir beieinander sind“, flötet er.
Halt, halt, mein Herr! So nicht! Uns trennen 13 Sekunden, Das sind Welten, jawohl, Wel‑ten!
Ruhig, oLi, gaaaanz ruhig. Cool bleiben.
„Ja, unglaublich“, flöte ich zurück ich und grinse bis zum Gehtnichtmehr.
Ich freu mich schon darauf, ins Büro zu gehen.
Morgen, und übermorgen.
Und den ganzen Winter ...
.
Mal wieder XXL
Holger Meier ist immer schuld
Holger Meier sitzt drei Schreibtische weiter. Er hat es geschafft, seine Bestzeit beim Köln-Marathon mal eben um 25 Minuten zu verbessern. Natürlich trainiert Holger Meier nach einem Greif-Plan und macht nebenbei Krafttraining, ich dagegen bin ein schmächtiges Steffny-Würstchen. Bei km15 ist er an mir vorbei gezischt, dass ich mir sicher war, ihn später wieder aufzulesen. Aber abgesehen davon, dass ich mit Magenschmerzen die letzten 25km eingegangen bin, hat er das Ding mit 3:19:18 Std voll durchgezogen. Heee, das war meine Wunschzeit! Am Montag nach dem Rennen musste ich vor ihm auf die Knie gehen und ihm huldigen.
Da hilft nur noch ein Wunder
Nächstes Jahr in Hamburg, da schlage ich zurück! Im April, das sind ja nur... 5... 6... Monate, in denen ich jeden Tag bei der Arbeit in ein zufriedenes Grinsen sehen muss. Arrgh!
Na gut, ich will ja den Röntgenlauf absolvieren, das kann er bestimmt nicht. Leider bin ich mir aber auch nicht sicher, ob ich die 63,3km schaffe. Das käme dann natürlich ganz besonders blöd daher.
Und wozu hab ich eigentlich den ganzen Sommer über Tempotraining gemacht? Um mich bei so einem Ultra mit letzter Kraft über die plöden Perge zu schnecken? Je näher der Röntgen rückt, desto sehnsüchtiger schiele ich auf den Frankfurt-Marathon. Zaghaft oute ich mich: Ja wenn denn einer überhaupt nicht starten kann oder will, könnte ich ganz theoretisch einspringen. In Gedanken pokere ich: Sollte mir jemand umsonst seinen Startplatz vermachen, schwenke ich auf Frankfurt um. Kann mich ja noch am Sonntag morgen entscheiden, ob ich nach Norden oder Süden fahre. Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, ... nichts schiebt sich, meine Motivation für den Röntgen sinkt immer weiter.
Genau an dieser Stelle tritt wieder das beste Forum der Welt auf den Plan: Freitags nachmittags spricht mir Stefan (Ishimori) auf die Quakbox: „Ich hab einen Platz für Dich, wir starten zusammen in Frankfurt.“ Das Wunder ist doch noch passiert! Auf einmal ist das Kribbeln wieder voll da. In den nächsten zwei Tagen bin ich aufgeregt wie vor meinem ersten Marathon.
Gegen alle Ratgeber
Zwei Marathons innerhalb von drei Wochen? Mit Bestzeit-Ambitionen? No way!
So hätte ich natürlich jedem geantwortet, der mich um Rat gefragt hätte. Aber die Ratgeber befolgen bekanntlicherweise ihre Tipps selten selbst, weil sie ja so schlau sind. Stefan und ich bleiben also bei unserer Zeitvorgabe von vor drei Wochen: sub 3:15 Std. Meine nachrangigen Ziele wären dann sub Holger Meier oder zumindest neue Bestzeit. Greif sagt für das Unternehmen ein Scheitern voraus, aber der ist bestimmt von Holger Meier bestochen worden.
Hoppla, es geht schon los
Km 1-5: 23:26 min, Voraussichtliche Endzeit: 3:17:47 Std.
Autofahrt, ForiVorabTreff, Kleiderabgabe, Dixiklo, Doppelknoten, Countdown, rote Luftballons, Stoppuhr, rote Matten – Zeit läuft!
Der Forerunner (201) zeigt den ersten Kilometer gar nix an. Kenn ich schon vom letzten Jahr. Aber auch der Pulser liefert nur Blödsinn. Glücklicherweise hat Stefan den Schrittsensor und steuert uns durch die ersten Kilometer. Ich komm wie immer schwer in die Gänge, mein Trinkgurt fühlt sich so schwer an, hab ja auch einen halben Liter Iso dabei, falls auch in Frankfurt das Wasser zu kalt sein sollte.
Wir lassen es langsam angehen, für 3:15 Std. wahrscheinlich zu langsam. Aber ab km10 wollen wir mehr Gas geben.
Erstes Zwacken
Km 6-10: 22:42 min, Voraussichtliche Endzeit: 3:14:41 Std.
Ab km 8 sind wir auf Kurs 3:15 Std. Bei km 9 kommen wir zum zweiten Mal bei einer Oldie-Band vorbei, die Supertramp’s „Give a little bit“ in einer Schnarch-Version feil bietet. Hatten wir das bei km 4 nicht auch schon gehört oder spielen die wirklich so langsam? Stefan und ich sind uns einig, dass wir uns bei km 41, wenn es das dritte Mal hier vorbei geht und die Band wieder so lahm spielt, den Gnadenschuss geben.
Langsam hab ich mein Tempo gefunden, aber auf den Forerunner ist weiterhin überhaupt kein Verlass und die Kilometerschilder scheinen ziemlich unregelmäßig zu stehen. Ich lauf nach Gefühl und lass mir von Stefan häufig die Zeiten durchgeben. Wir sind am Überholen und wuseln uns durch die Masse. Merkwürdigerweise bin ich jetzt auch häufiger vorne als Stefan. Schnell wird klar, warum: Er hat Seitenstiche, meint aber, sie wegdrücken und weglaufen zu können.
Es geht nicht weg
Km 11-15: 23:50 min, Voraussichtliche Endzeit: 3:16:50 Std.
Hinter km10 machen wir eine kurze Gehpause bei der Verpflegung, ich pfeife mir das erste Gel rein. Ja, mal wieder was neues ausprobieren. Nachdem mir in Köln Bananen eher geschadet als genützt haben, versuche ich mal mit reiner Flüssignahrung auszukommen. Die km-Schnitte werden gleichmäßiger, pendeln zwischen 4:39 und 4:33 min/km, auch der Forerunner fängt sich wieder und zeigt diese km sehr exakt an.
Für Stefans Seitenstiche sind diese Zeiten allerdings Gift. Direkt vor km 15 ist eine Verpflegungsstelle, an der wir eine lange Gehpause machen. Ich nutze die Gelegenheit für einen Abstecher in die Botanik, was aber glücklicherweise das einzige Mal heute sein sollte. Nach 30 Sekunden Zeitverlust beschließen wir, langsamer weiterzulaufen. Die Zielzeit von 3:15 Std. ist ab hier Geschichte.
Es könnte so schön sein
Km 16-20: 23:41 min, Voraussichtliche Endzeit: 3:17:26 Std.
Nach einem langsamen km 16 im Fünfer-Schnitt probieren wir es noch einmal: 4:38, 4.42, 4:38, 4:38 min/km. Tapferer Stefan! Mir geht es Im Gegensatz zu ihm blendend, ich bin jetzt richtig gut eingelaufen und meine die Wirkung des Gels schon zu spüren.
Auch wenn diese Mainseite mit weniger Zuschauern besetzt ist, gibt es doch einige Stimmungsnester, wie zum Beispiel in Niederrad und Goldstein, wo man denkt, hier findet ein Dorffest statt. Laute Musik und Ansager heizen dem Publikum ein, das schöne Wetter tut ein übriges dazu. Im Moment kann ich die Strecke und die Zuschauer genießen, es gefällt mir sogar noch besser als im letzten Jahr.
Stefan gefällt es gar nicht. Er braucht eine Gehpause, aber ich überrede ihn, bis zur nächsten Verpflegungsstation durchzuhalten.
Gemeinsam (unter-) gehen?
Km 21-25: 24:26 min, Voraussichtliche Endzeit: 3:19:19 Std.
Halbmarathon bei 1:39:04 Std.
Lange Geh- und Trinkpause hinter km 20. Ich nehme das nächste Gel und bin – wie bei jeder Wasserstelle – kräftig am Bewässern meines Kopfes, Brust und Nacken. Die Sonne kommt zeitweilig raus und dann sind es bestimmt 20 Grad, also muss ordentlich gekühlt werden.
Kurz vor dem Halbmarathon werden wir noch von Dieter (Staffel-)Baumann überholt. Er läuft so schnell, dass ich ihn nur noch von hinten sehe. Egal, sein Gesicht kann ich mir ja auch in der Zeitung ansehen. Ich rufe ihm noch nach: „Was für ein Traum, einmal von Dieter Baumann überholt zu werden“, aber er hat gerade keine Zeit für ein Autogramm.
Nach zwei Kilometern mit 4:44 und 4:42 min/km kommt, was kommen muss: Stefan bleibt zurück. Ich drehe mich um, laufe einige Meter rückwärts, kann ihn aber nicht mehr entdecken. Schließlich stoppe ich und warte, bis er kommt. Er will anlaufen, aber nach zwanzig Metern sticht es wieder. So sagen wir uns zwischen km23 und 24 Lebewohl und laufen/gehen ins Ungewisse (hab ich das nicht mächtig pathetisch ausgedrückt?). Im Ernst, es war schon ziemlich traurig. Ich hatte bis dahin immer das Bild im Kopf, dass wir beide gemeinsam über die Ziellinie gehen, egal mit welcher Zeit.
Um mich abzulenken, krame ich meinen MP3-Player raus, lass mich vollblubbern und falle wieder ins Tempo zurück.
Die nächste Schwächephase, bitte!
Km 26-30: 24:19 min, Voraussichtliche Endzeit: 3:20:19 Std.
Die einzig nennenswerte Steigung: Schwanheimer Brücke. Dazu noch die überraschende Erkenntnis, dass Gegenwind immer von vorne kommt. Nach einigen Überholmanövern aus dem Windschatten heraus und bergauf stelle ich fest, dass das doch ganz schön anstrengend ist. Daraufhin verstecke ich mich lieber etwas und bezahle km 26 mit einer Pace von 4:59 min/km. Wasserstelle bei km 27,5: nochmal 20 Sekunden drangegeben.
Wieder einmal Spitzenstimmung in Hoechst, aber der leichte Anstieg bis hin zur Kehre bei km 29 kostet Zeit (4:51 min) und die Verpflegung – Gel Nr. 3 - bei km 30 noch einmal (4:56 min). Fast schon traditionell, meine Schwäche vor km 30.
So oLi, jetzt hast Du den Salat! Die 3:20 Std packst Du auch nicht mehr.
Die Geheimwaffe wird erstmals eingesetzt
Km 30-35: 23:10 min, Voraussichtliche Endzeit: 3:19:38 Std.
Heee, Moment mal! Wer hat das eben gesagt? Habe ich da Holger Meiers süffisante Stimme gehört? Neeeein, das darf nicht sein! Dementoren, von mir! Motivatoren, herbei!
- Zeitcheck: Noch 12,2 Kilometer und ca. 57 Minuten. Das muss doch zu schaffen sein!
- Wettercheck: Nicht zu warm, flatternde Fahnen zeigen Rückenwind
- Bodycheck: Beine o.k., Magen o.k., Blase/Darm: keine Regung, Durst: keiner
Was hält Dich davon ab, jetzt Gas zu geben? Du hast doch immer von einer Endbeschleunigung geträumt? Holger Meier ist direkt hinter Dir, also lauf los!
Und so kämpfte ich mich langsam ran: 4:30 – 4:39 – 4:49 (Wasserstelle) – 4:32 – 4:33 min/km. Aber ich darf keine Sekunde mehr verschenken!
Nur noch weiter, nicht nachlassen
Km 35-40: 23:46 min, Voraussichtliche Endzeit: 3:19:45 Std.
Die lange, gerade Mainzer Landstraße liegt mir und ich bin am Überholen. Erstaunlich, wie langsam „die Meute“ vor sich hintrottet. Vor mir bewegt sich ein dürrer Läufer mit schwarzen Kniestrümpfen und roten Schuhen, der seine Fersen fast bis zum Po nach oben zieht. Sieht aus wie ein Storch im Salat. Aber im Grunde genommen hat er recht: Fersen hoch, kräftiger Abdruck nach vorne, Beine pendeln lassen. Stilschule bei km 35, na bravo! Lenkt aber auch prima ab.
Hinter km35 die letzte richtige Verpflegungspause: Das vierte Gel, ordentlich nachspülen, Schweiß mit dem Schwamm abwischen, Wasser über den Kopf. Nochmal alles checken, dem Schweinehund eins aufs Maul geben und wieder anlaufen. Alles tut gleichmäßig weh, also geht‘s noch! Überhaupt habe ich keine Anwandlungen von Krämpfen oder anderen Zicken, so dass ich meinen Lauf fast noch als „angenehm hart“ titulieren muss.
Auch wenn ich mit meiner Stoppuhrzeit und in diesem Stadium natürlich nicht auf die Sekunde genau meine Endzeit voraussagen konnte, wusste ich doch, dass es unglaublich knapp würde. Trotz aller Anstrengungen verliere ich auf diesem Stück einige Sekunden. Vielleicht die entscheidenden?
Triumphiert am Ende Holger Meier doch?
Km 40-42,2: 09:45 min, Endzeit: 3:19:xx Std.
Bis km 40 gab es bei aller Mühe immer noch ein Abklatschen von Kinderhänden, Zuzwinkern bei netten Zuschauern, Genießen der Rückansichten knackiger Läuferinnen. Aber jetzt ist Schluss mit lustig, der Showdown beginnt. Noch zehn Minuten durchhalten. Aber nein, das wäre schon zu langsam!
Ich versuche zu beschleunigen und - es geht. Konzentrier mich nur noch auf die vor mir laufenden Beine, die ich überhole und geb acht, dass ich jetzt nicht stolpere. Km 41 in 4:31 min!
Meine Gesichtszüge entgleiten langsam, ich hetze weiter. Schneller, die Beine können noch! Aufrecht bleiben, Hüfte nach vorne, Fersen hoch. Nicht mehr auf den Forerunner schauen, nur noch durchziehen und weiter atmen. Renn, renn, renn! Km 42 in 4:22 min!
Wann kommt endlich die Abzweigung zur Festhalle? Da, noch zweihundert Meter, noch eine knappe Minute und... es passt! Im gestreckten Galopp presche ich in der Festhalle durch den Konfettiregen, bekomme gerade noch die Arme hoch zum Victory-Zeichen und werfe mich ins Ziel.
Jaaa, unter 3:20 Std geblieben!
Ein genauer Blick auf die Stoppuhr lässt mich erstarren: 3:19:24. Das darf doch nicht wahr sein! Selbst wenn man zwei, drei Sekunden abzieht, die ich aus Sicherheitsgründen zu früh bzw. zu spät gestoppt hab, bin ich um ein paar Sekunden langsamer als Holger Meier? Neeeeinn!!!
Das Rennen ist vorbei. Die Saison ist vorbei.
Das wird ein langer Winter...
Ehre, wem Ehre gebührt
Natürlich freu ich mich wahnsinnig über die Bestzeit. Mehr als neun Minuten schneller als im Frühjahr und wieder einen Zehner geknackt. Gegenüber letztem Jahr sogar um 17 Minuten verbessert. Aber diese wenigen Sekunden...
Oha, eine SMS von Holger Meier: „Hallo oLi, wie ist es denn heute gelaufen?“ Na gut, machen wir’s kurz und kriechen jetzt gleich zu Kreuze. Ich ruf ihn aus dem Auto an.
„Ach, Du warst gar nicht beim Röntgenlauf?“ fragt er. „Frankfurt-Marathon? Welche Zeit bist Du denn gelaufen?“
„Drei neunzehhhhhhn“, ich dehne die Neunzehn bis es nicht mehr geht, um dann schnell anzufügen: „vierundzwanzig. Handgestoppt. Du bist um sechs Sekunden schneller als ich.“
So, jetzt ist es raus. Im Hintergrund hör ich Tastaturgeklapper, er hat natürlich sofort die Ergebnisliste aufgerufen.
„Nee“, sagt er, „Deine Netto-Zeit ist 3:19:05. DU bist schneller.“
Ich muss mich beherrschen, um bei Tempo 160 nicht das Steuer zu verreißen. Wie geil ist das denn? Holger Meier teilt mir meinen Sieg mit!
„Ist es nicht unglaublich, wie dicht wir beieinander sind“, flötet er.
Halt, halt, mein Herr! So nicht! Uns trennen 13 Sekunden, Das sind Welten, jawohl, Wel‑ten!
Ruhig, oLi, gaaaanz ruhig. Cool bleiben.
„Ja, unglaublich“, flöte ich zurück ich und grinse bis zum Gehtnichtmehr.
Ich freu mich schon darauf, ins Büro zu gehen.
Morgen, und übermorgen.
Und den ganzen Winter ...
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