Hamburg-Marathon 2007: Versuch macht klug
Verfasst: 30.04.2007, 23:12
… die Hamburger sagen natürlich: kluuch… und dann reimt sich das Ganze auch.
Um es gleich anzukündigen: Bin momentan gerade etwas von der Rolle, und so wird dieser Laufbericht an manchen Stellen nicht so jubelmäßig ausfallen. Ein wenig mehr als nur Post-Marathonale Depressionen…
Mit dem Esoterik-Astra zum Stintfang
Marathonis sind durchtrainiert, schlank und ewig jung. Wenn irgendeins dieser Merkmale nicht mehr so ganz stimmt, kompensiert man es halt durch Handlungen, Dinge oder Menschen, die einem dieses Gefühl zurück geben sollen.
Für Männer in den Vierzigern nennt man das dann Ü30-Party, für die Fünfzigjährigen heißt das Midlife-Crisis, und für die noch älteren reduziert sich das meist auf Viagra.
Ich nenn das Hamburg-Marathon.
Er beginnt am Kölner Hauptbahnhof, wo ich - über die Mitfahrzentrale vereinbart - in einen Opel Astra Baujahr 1991 einsteige, Höchstgeschwindigkeit 130 km/h, sonst könnte der Zahnriemen wieder reißen. Sechs Stunden lang kämpfe ich mich mit drei deutlich jüngeren Mitfahrern durch Autobahnstaus, Bundesliga-Konferenzschaltung, Pink Floyd und Uriah Heep.
Hey, welcher Youngster hört denn solche Musik? Es ist Klaus, der Fahrer. Esoterischer Triathlet, der auch beim Hamburg-Marathon startet. Sein Beten und Meditieren wird ihm zum wiederholten Male zu sub 3:00 Std. verhelfen. Noch mampft er allerdings sein Kilo gekochten Basmati-Reis mit Ei und die Surimi-Stäbchen. Kohlehydrate und Eiweiß, klar. Vegetarisch, logo.
Schöne junge Menschen gibt’s auch in der Jugendherberge Am Stintfang, dachte ich und habe mich schon letzten Herbst dort angemeldet. Die Aussage, dass an diesem Wochenende bevorzugt allein reisende Marathonis aufgenommen werden, machte mich neugierig. Aber außer den üblichen Familien und Schulklassen waren die meisten Alleinreisenden alte Knacker wie ich, deren Familien keinen Bock hatten, sie zum x-ten Marathon in eine fremde Stadt zu begleiten. So richtig durchtrainiert und schlank sahen sie auch nicht aus. Mit dreien von denen teilte ich mir dann das Mehrbettzimmer mit Einheitsspinden und verzog mich schon um 21.00 Uhr beleidigt ins Etagenbett. Natürlich nach oben, wohin alle Geräusche und Gerüche aufsteigen. Ein Glück, dass ich schnell einschlafen konnte.
Hitzewelle? Nicht in Hamburg
Am Start sind es 8 Grad und bis Mittag sollen es maximal 10 Grad mehr werden. Das passt doch hervorragend. Weniger gut ist der angesagte Wind mit über 20 km/h. Ey, so schnell lauf ich doch gar nicht. Da komm ich doch nie an.
Zielzeit. Ja, da ist es wieder, das böse Wort.
In den letzten Tagen hab ich auf zu viele maschinelle und menschliche Zielzeitenrechner gehört. Realistisch sind 3:15 Std. oder ein wenig darunter. Aber alle Zielzeitenrechner posaunen 3:10 oder sogar noch schneller. Und ich bin in Top-Form, keine Frage. Also warum nicht mal was riskieren?
Der Tenor schmettert die Deutsche Nationalhymne, alle fühlen sich furchtbar stark und stolz und aus der Kälte- und Angst-Gänsehaut wird für einen kurzen Augenblick ein erhebendes Gefühl. Ich bin durchtrainiert, ich bin schlank, ich bin… ähhh.. jung? Na klar! Lauf ich die 3:10 halt gegen den Wind. Muss ja nur einen Schnitt von 4:30 min/km laufen. Bin jung und dumm, darf das. Peng!
Km 1-5: Approaching Light Speed
Von Jahr zu Jahr komm ich in Hamburg besser los. Wahrscheinlich, weil ich immer weiter vorne starte. Von Anfang an kann ich mein Wunschtempo laufen und probieren, wie sich die Geschwindigkeit anfühlt. Der Pulsmesser zeigt alles mögliche an, was aber garantiert nicht von mir stammt. Egal, es geht so leicht und locker wie noch nie.
Das ist ja mal ein ganz neues Anfangsgefühl beim Marathon, ich bin begeistert und gebe mich der Geschwindigkeit hin.
Auf der Reeperbahn nehm ich die Laufen-aktuell-Foris schon gar nicht mehr wahr und bei km 5 dröhnt aus dem MP3-Player „Stop the Rock“ (Apollo Forty-four) und „Approaching Light Speed“ (Wolfsheim), beides klasse Musiktipps aus dem Forum. Wer könnte sich da noch bremsen?
Wir unterbrechen kurz für eine wichtige Verkehrsdurchsage:
Km 1-5: 22:49 min (4:32 – 4:34 – 4:37 – 4:35 – 4:31). Voraussichtliche Zielzeit: 3:12:33 Std.
Km 6-10: Schatten der Vergangenheit
Schon ist der Wendepunkt in Övelgönne erreicht und es geht ab auf die Elbchaussee. Mir war gar nicht in Erinnerung, dass man auch hier die meiste Zeit unter Schatten spendenden Bäumen läuft. Prima! Nur der Wind kommt jetzt von vorn. Egal, was kostet die Welt. Der Puls bleibt weiterhin bei 85-86%, ich lauf ja immer ein wenig hochpulsig.
Und wenn ich mich dann noch hinter den großen Läufern verstecke, ist der Wind auch gar nicht mehr schlimm. Kann ich dafür auch etwas schneller laufen. Will sagen: Auf den nächsten Kilometern überziehe ich total.
Kurz vor km 10 passiert etwas, das mich seitdem schwer mitnimmt. Eine Frau winkt mir zu, und ich glaube, Gespenster zu sehen. Sie sieht exakt so aus wie meine Schwägerin, leicht ergraut. Fast laufe ich schon auf sie zu und will ihren Namen rufen, um mir dann bewusst zu machen, dass meine Schwägerin schon seit acht Jahren tot ist. Poah, was bin ich geschockt! Genau so sähe sie aus, wäre sie nicht schon mit 34 gestorben. Die nächsten fünf Minuten nehme ich nichts mehr wahr, laufe nur noch durch einen Tränenfilm. Kann verstehen, dass mich die Zuschauer befremdlich ansehen.
Scheiß auf den Marathon und die ewige Jugend! Was gäbe ich drum, wenn sie wieder hier wäre.
Km 6-11: 22:14 min (4:20 – 4:27 – 4:38 – 4:22 – 4:27). Voraussichtliche Zielzeit: 3:10:05 Std.
Km 11-15: Besinnungslos durch den Hafen
Schütte mir bei der nächsten Versorgungsstelle reichlich Wasser ins Gesicht, um wieder zu mir zu kommen. Vergesse, mein Powergel Nr. 1 zu nehmen. Erste Pinkelpause und Powergel dann bei Km 12,5. Langsam lässt der Schmerz etwas nach.
Die Laufuhr tickt mit viel zu hoher Geschwindigkeit aber mit gleich bleibendem Puls weiter. Alles locker, trotz Gegenwind. Probeweise singe ich lautstark mit der Seebären-Band „Keine Angst, keine Angst Rrrrroos-marie“. Der Seemann ist trotzdem schwer erschüttert. Ab in den Wallringtunnel und die Gedanken neu sortieren, dahinter ist eine andere Welt.
Km 11-15: 22:42 min (4:15 – 4:26 – 4:50 – 4:39 – 4:32). Voraussichtliche Zielzeit: 3:10:35 Std.
Km 16-20: Die Alster – immer wieder gern gesehen
Menschen, Menschen, Menschen.
In der Innenstadt gibt es kaum einen Meter links und rechts der Strecke, der nicht von Zuschauern gesäumt wäre. Eigentlich genauso umwerfend wie im letzten Jahr. Ich versuche, mich zu freuen.
Es vergehen Kilometer um Kilometer im Flug. Ich hab es geschafft, meine Gedanken ganz abzuschalten und funktioniere nur noch. Außer einem großen Hallo bei den Laufen-Aktuell-Foris und einem „Ich bin auf Kurs 3:10“-Zuruf kann ich mich an nichts mehr erinnern. Puls und Tempo über Kilometer konstant und exakt in der Zeit, scheinbar mühelos. Erst bei der Versorgungsstelle vor km 20 für Wasser und Powergel Nr. 2 bremse ich kurz.
Km 16-20: 22:34 min (4:26 – 4:29 – 4:29 – 4:29 – 4:41). Voraussichtliche Zielzeit: 3:10:33 Std.
Km 21-25: Wer dreht denn da den Hahn ab?
Bei der Halbmarathonmarke am Winterhuder Weg zeigt der Forerunner exakt 21,2km und 1:35:22 Std. an. Ich bin sowohl mit der Genauigkeit des Forerunners (305) zufrieden als auch mit der Zeit. Sechseinhalb Minuten langsamer als meine HM-Bestzeit, Puls bei 86%, alles ist perfekt.
Aber jetzt geht es einen Kilometer bergauf, die Zeit sinkt um zehn Sekunden, der Puls geht leicht rauf und danach fang ich mich nicht wieder ein. Ich kämpfe, aber werde nicht wirklich schneller, hole den Rückstand nicht mehr ein. Merkwürdigerweise geht mein Puls auch runter. Als wenn jemand den Strom oder das Wasser langsam abdreht. Tut nicht weh, aber ist so entsetzlich kraftlos. Ist das jetzt ein Hammermann oder was?
Mit der zweiten Pinkelpause vor km 25 ist klar, dass die 3:10 Std. für heute nicht mehr drin sind.
Km 21-25: 23:27 min (4:30 – 4:39 – 4:49 – 4:36 – 5:02). Voraussichtliche Zielzeit: 3:12:01 Std.
Km 26-30: Hilflos
O.K., der Versuch für die 3:10 ist gescheitert, aber es gibt ja noch jede Menge untergeordneter Ziele. Da ich aber schon ahne, dass die Strafe für das zu schnelle Angehen noch kommt, will ich jetzt 5-10 Sekunden langsamer laufen. Auf einmal sehne mich nach einer Pause.
Als erstes beschließe ich, meine Schwiegermutter, meinen Schwager und meinen Neffen länger als geplant an der Sydneystraße zu „besuchen“. Schon auf 200m sehe ich sie am Rand stehen und winke. Da mein Schnürsenkel eh neu gebunden werden muss, halte ich mich bei ihnen ungefähr 40 Sekunden auf und versuche dabei Kraft zu tanken. Die Verwandtschaft ist natürlich begeistert und ich freue mich auch mächtig, sie hier wie jedes Jahr zu sehen. Beim Anlaufen spüre ich schon ein leichtes Brennen in den Oberschenkeln.
Aber der härteste Teil kommt ja erst noch. An der langen Rathenaustraße bin ich schon letztes Jahr schier verzweifelt. Ich lauf total unrund und kann das Tempo trotz vermeintlich größter Anstrengung nicht halten. Dem Puls ist das merkwürdigerweise ganz egal, der variiert um maximal zwei Schläge. Ich laufe, so gut es eben noch geht, hab aber anscheinend keinen Einfluss mehr darauf.
Km 26-30: 23:31 min (4:33 – 4:28 – 5:19 – 4:32 – 4:39). Voraussichtliche Zielzeit: 3:13:05 Std.
Km 30-35: Bitte Nachbrenner zünden – leider kein Trebstoff mehr da
Beim letzten Marathon in Frankfurt ging es ab Km 30 erst richtig los. Hier, in Ohlsdorf, ist schon alles zu Ende. Powergel Nr. 3, Wasser, Isogetränk, einige Schritte Gehpause – kosten jetzt schon 20 Sekunden zusätzlich. Dann nehme ich meine ganze Motivationskraft zusammen und quäle mich die nächsten Kilometer noch einmal auf das Ursprungstempo heran. Nicht zuletzt wird das Ganze durch Rückenwind und ebene Strecke begünstigt. Aber dann ist der Ofen endgültig aus.
Km 31-35: 23:42 min (5:03 – 4:52 – 4:36 – 4:29 – 4:42). Voraussichtliche Zielzeit: 3:14:05 Std.
Km 36-40: Nur noch zu Ende bringen…
Ich komm nicht mehr in die Gänge. Obwohl es richtig gut in Eppendorf bergab geht, werden meine Kilometerzeiten immer langsamer. Bei Km 37 überholt mich der 3:15Std-Pacemaker mit seinen noch verbliebenen zehn Schäfchen. Los, häng Dich dran, das ist die letzte Chance. Aber nach zweihundert Metern muss ich sie ziehen lassen. Was für ein Frust!
Gedanken ans Aufgeben bahnen sich jetzt den Weg. Oder endlich mal den Massageservice am Klosterstern in Anspruch nehmen und einfach eine halbe Stunde später ins Ziel kommen. Ich schleppe mich nur noch vorwärts, bekomme die Beine kaum hoch und muss ums Überleben kämpfen. Was hatte ich Manu versprochen, die zeitgleich in Duisburg läuft? Wenn es mir schlecht geht, stell ich mir vor, dass ich sie als virtueller Pacer ins Ziel ziehen muss. Verantwortung für jemand anderen zu übernehmen, scheint bei mir ein ganz starker Appell ans Gewissen zu sein. Jedenfalls bringt er mich dazu, langsam aber stetig durchzulaufen.
Als Belohnung gibt es bei beim Km 38 am Klosterstern das letzte Powergel, viel Wasser, eine kleine Gehpause.
Die Rothenbaumchaussee geht es im Fünfer-Schnitt hoch (hier steht offensichtlich eine Km-Markierung falsch) und ich fühle langsam leichte Übelkeit.
Km 36-40: 24:56 min (4:52 – 4:47 – 5:26 – 4:43 – 5:08). Voraussichtliche Zielzeit: 3:16:07 Std.
Km 41-42,2: Eine schmeichelhafte Bestzeit
Die letzte Verpflegungsstelle hinter Km 40 lädt ein zum Kraft schöpfen, denn gleich geht’s bergauf. In meiner Verzweiflung nehme ich einen Becher Red Bull, spucke aber den ersten Schluck gleich wieder aus. Bah, ist das ekelig! So schlecht kann es einem gar nicht gehen, dass man das Zeug runter bekommt.
So, die letzten zwei Kilometer mach ich jetzt auch noch in meinem Schneckentempo. Ist jetzt eh alles egal. Rum um den Dammtor Bahnhof, rauf auf den Gorch-Fock-Wall. Nach mehr als zehn Minuten Durchhalten endlich oben angekommen und der erste Blick auf die voraussichtliche Endzeit seit 10 Kilometern. Die 3:15:xx Std. sind weg, die 3:16:xx mit ein wenig Spurten noch zu schaffen.
Egal, wie hart es war: Es wird eine neue Bestzeit. Und das ist doch ein Grund, freundlich in die Kameras zu lächeln und zu winken und es zumindest für Freunde und Verwandte aussehen zu lassen, als wäre Marathon ein Spaziergang. Mein Spaziergang endet nach 3:16:48 Std.
Km 40-42,2: 10:53 min (5:14 – 4:52 – 0:47). Zielzeit: 3:16:48 Std.
Was am Ende bleibt: Läuferische Erkenntnisse
Im Grunde genommen weiß ich immer noch nicht, was nach Km 21 passiert ist.
Beim letzten HM bin ich mit durchschnittlich 92% HfMax einen Schnitt von 4:13 min/km gelaufen. Ist 4:30 min/km bei 86%HfMax zu ambitioniert gewesen? Offensichtlich ja.
Andererseits bin ich noch nie mit so gleichmäßiger Belastung und so locker auf der ersten Hälfte eines Marathons unterwegs gewesen. Der Puls schwankte zwischen Km3 und Km 40 zwischen 84,3 und 87,0% HfMax. Zum Vergleich: Den HH-Marathon 2006 bin ich mit einer durchschnittlichen Belastung von 89,7% HfMax gelaufen.
Nun ja, es war ein Versuch und der Preis dafür sind die vergebenen 3:15 Std, die bei vernünftiger Tempoeinteilung sicher drin gewesen wären. Andererseits hält sich der Einbruch auf der zweiten Hälfte mit ca. sechs Minuten noch einigermaßen im Rahmen.
Was am Ende bleibt: Persönliche Erkenntnis
Seit gestern weiß ich, dass ich in Hamburg niemals eine ultimative Bestzeit aufstellen werde und auch gar nicht darauf aus bin. Hamburg wird für mich immer der Marathon der Emotionen sein.
Zu viele Jahre, zu viele Erlebnisse, zu viele „Das erste Mal“, schon einige „Das letzte Mal“. Zu viele bekannte Menschen, zu viele Erinnerungen warten hinter jeder Ecke. Für manche will ich mir selbst während des Rennens Zeit nehmen, anderen möchte ich lieber nicht begegnen.
Marathonis sind durchtrainiert, schlank und ewig jung. Wer braucht so was?
[INDENT]Weißt Du noch wie’s war?Kinderzeit, wunderbar.Die Welt ist bunt und schön.[/INDENT][INDENT]Bis Du irgendwann begreifst,dass nicht jeder Abschied heißt,es gibt auch ein Wiedersehn.[/INDENT][INDENT]Immer vorwärts, Schritt um Schritt,Es geht kein Weg zurückUnd was jetzt ist, wird nie mehr ungeschehen[/INDENT][INDENT]Die Zeit läuft uns davon, was getan ist, ist getanUnd was jetzt ist wird nie mehr so geschehn(Es geht kein Weg zurück)[/INDENT][INDENT]Ach und könnt ich dochnur ein einziges Maldie Uhren rückwärts drehn[/INDENT][INDENT]Denn wie viel von dem,was ich heute weiß,hätt’ ich lieber nie gesehn(Es geht kein Weg zurück)[/INDENT][INDENT]Wolfsheim: Kein Zurück, aus: Chasing Shadows, 2003[/INDENT]
Um es gleich anzukündigen: Bin momentan gerade etwas von der Rolle, und so wird dieser Laufbericht an manchen Stellen nicht so jubelmäßig ausfallen. Ein wenig mehr als nur Post-Marathonale Depressionen…
Mit dem Esoterik-Astra zum Stintfang
Marathonis sind durchtrainiert, schlank und ewig jung. Wenn irgendeins dieser Merkmale nicht mehr so ganz stimmt, kompensiert man es halt durch Handlungen, Dinge oder Menschen, die einem dieses Gefühl zurück geben sollen.
Für Männer in den Vierzigern nennt man das dann Ü30-Party, für die Fünfzigjährigen heißt das Midlife-Crisis, und für die noch älteren reduziert sich das meist auf Viagra.
Ich nenn das Hamburg-Marathon.
Er beginnt am Kölner Hauptbahnhof, wo ich - über die Mitfahrzentrale vereinbart - in einen Opel Astra Baujahr 1991 einsteige, Höchstgeschwindigkeit 130 km/h, sonst könnte der Zahnriemen wieder reißen. Sechs Stunden lang kämpfe ich mich mit drei deutlich jüngeren Mitfahrern durch Autobahnstaus, Bundesliga-Konferenzschaltung, Pink Floyd und Uriah Heep.
Hey, welcher Youngster hört denn solche Musik? Es ist Klaus, der Fahrer. Esoterischer Triathlet, der auch beim Hamburg-Marathon startet. Sein Beten und Meditieren wird ihm zum wiederholten Male zu sub 3:00 Std. verhelfen. Noch mampft er allerdings sein Kilo gekochten Basmati-Reis mit Ei und die Surimi-Stäbchen. Kohlehydrate und Eiweiß, klar. Vegetarisch, logo.
Schöne junge Menschen gibt’s auch in der Jugendherberge Am Stintfang, dachte ich und habe mich schon letzten Herbst dort angemeldet. Die Aussage, dass an diesem Wochenende bevorzugt allein reisende Marathonis aufgenommen werden, machte mich neugierig. Aber außer den üblichen Familien und Schulklassen waren die meisten Alleinreisenden alte Knacker wie ich, deren Familien keinen Bock hatten, sie zum x-ten Marathon in eine fremde Stadt zu begleiten. So richtig durchtrainiert und schlank sahen sie auch nicht aus. Mit dreien von denen teilte ich mir dann das Mehrbettzimmer mit Einheitsspinden und verzog mich schon um 21.00 Uhr beleidigt ins Etagenbett. Natürlich nach oben, wohin alle Geräusche und Gerüche aufsteigen. Ein Glück, dass ich schnell einschlafen konnte.
Hitzewelle? Nicht in Hamburg
Am Start sind es 8 Grad und bis Mittag sollen es maximal 10 Grad mehr werden. Das passt doch hervorragend. Weniger gut ist der angesagte Wind mit über 20 km/h. Ey, so schnell lauf ich doch gar nicht. Da komm ich doch nie an.
Zielzeit. Ja, da ist es wieder, das böse Wort.
In den letzten Tagen hab ich auf zu viele maschinelle und menschliche Zielzeitenrechner gehört. Realistisch sind 3:15 Std. oder ein wenig darunter. Aber alle Zielzeitenrechner posaunen 3:10 oder sogar noch schneller. Und ich bin in Top-Form, keine Frage. Also warum nicht mal was riskieren?
Der Tenor schmettert die Deutsche Nationalhymne, alle fühlen sich furchtbar stark und stolz und aus der Kälte- und Angst-Gänsehaut wird für einen kurzen Augenblick ein erhebendes Gefühl. Ich bin durchtrainiert, ich bin schlank, ich bin… ähhh.. jung? Na klar! Lauf ich die 3:10 halt gegen den Wind. Muss ja nur einen Schnitt von 4:30 min/km laufen. Bin jung und dumm, darf das. Peng!
Km 1-5: Approaching Light Speed
Von Jahr zu Jahr komm ich in Hamburg besser los. Wahrscheinlich, weil ich immer weiter vorne starte. Von Anfang an kann ich mein Wunschtempo laufen und probieren, wie sich die Geschwindigkeit anfühlt. Der Pulsmesser zeigt alles mögliche an, was aber garantiert nicht von mir stammt. Egal, es geht so leicht und locker wie noch nie.
Das ist ja mal ein ganz neues Anfangsgefühl beim Marathon, ich bin begeistert und gebe mich der Geschwindigkeit hin.
Auf der Reeperbahn nehm ich die Laufen-aktuell-Foris schon gar nicht mehr wahr und bei km 5 dröhnt aus dem MP3-Player „Stop the Rock“ (Apollo Forty-four) und „Approaching Light Speed“ (Wolfsheim), beides klasse Musiktipps aus dem Forum. Wer könnte sich da noch bremsen?
Wir unterbrechen kurz für eine wichtige Verkehrsdurchsage:
Km 1-5: 22:49 min (4:32 – 4:34 – 4:37 – 4:35 – 4:31). Voraussichtliche Zielzeit: 3:12:33 Std.
Km 6-10: Schatten der Vergangenheit
Schon ist der Wendepunkt in Övelgönne erreicht und es geht ab auf die Elbchaussee. Mir war gar nicht in Erinnerung, dass man auch hier die meiste Zeit unter Schatten spendenden Bäumen läuft. Prima! Nur der Wind kommt jetzt von vorn. Egal, was kostet die Welt. Der Puls bleibt weiterhin bei 85-86%, ich lauf ja immer ein wenig hochpulsig.
Und wenn ich mich dann noch hinter den großen Läufern verstecke, ist der Wind auch gar nicht mehr schlimm. Kann ich dafür auch etwas schneller laufen. Will sagen: Auf den nächsten Kilometern überziehe ich total.
Kurz vor km 10 passiert etwas, das mich seitdem schwer mitnimmt. Eine Frau winkt mir zu, und ich glaube, Gespenster zu sehen. Sie sieht exakt so aus wie meine Schwägerin, leicht ergraut. Fast laufe ich schon auf sie zu und will ihren Namen rufen, um mir dann bewusst zu machen, dass meine Schwägerin schon seit acht Jahren tot ist. Poah, was bin ich geschockt! Genau so sähe sie aus, wäre sie nicht schon mit 34 gestorben. Die nächsten fünf Minuten nehme ich nichts mehr wahr, laufe nur noch durch einen Tränenfilm. Kann verstehen, dass mich die Zuschauer befremdlich ansehen.
Scheiß auf den Marathon und die ewige Jugend! Was gäbe ich drum, wenn sie wieder hier wäre.
Km 6-11: 22:14 min (4:20 – 4:27 – 4:38 – 4:22 – 4:27). Voraussichtliche Zielzeit: 3:10:05 Std.
Km 11-15: Besinnungslos durch den Hafen
Schütte mir bei der nächsten Versorgungsstelle reichlich Wasser ins Gesicht, um wieder zu mir zu kommen. Vergesse, mein Powergel Nr. 1 zu nehmen. Erste Pinkelpause und Powergel dann bei Km 12,5. Langsam lässt der Schmerz etwas nach.
Die Laufuhr tickt mit viel zu hoher Geschwindigkeit aber mit gleich bleibendem Puls weiter. Alles locker, trotz Gegenwind. Probeweise singe ich lautstark mit der Seebären-Band „Keine Angst, keine Angst Rrrrroos-marie“. Der Seemann ist trotzdem schwer erschüttert. Ab in den Wallringtunnel und die Gedanken neu sortieren, dahinter ist eine andere Welt.
Km 11-15: 22:42 min (4:15 – 4:26 – 4:50 – 4:39 – 4:32). Voraussichtliche Zielzeit: 3:10:35 Std.
Km 16-20: Die Alster – immer wieder gern gesehen
Menschen, Menschen, Menschen.
In der Innenstadt gibt es kaum einen Meter links und rechts der Strecke, der nicht von Zuschauern gesäumt wäre. Eigentlich genauso umwerfend wie im letzten Jahr. Ich versuche, mich zu freuen.
Es vergehen Kilometer um Kilometer im Flug. Ich hab es geschafft, meine Gedanken ganz abzuschalten und funktioniere nur noch. Außer einem großen Hallo bei den Laufen-Aktuell-Foris und einem „Ich bin auf Kurs 3:10“-Zuruf kann ich mich an nichts mehr erinnern. Puls und Tempo über Kilometer konstant und exakt in der Zeit, scheinbar mühelos. Erst bei der Versorgungsstelle vor km 20 für Wasser und Powergel Nr. 2 bremse ich kurz.
Km 16-20: 22:34 min (4:26 – 4:29 – 4:29 – 4:29 – 4:41). Voraussichtliche Zielzeit: 3:10:33 Std.
Km 21-25: Wer dreht denn da den Hahn ab?
Bei der Halbmarathonmarke am Winterhuder Weg zeigt der Forerunner exakt 21,2km und 1:35:22 Std. an. Ich bin sowohl mit der Genauigkeit des Forerunners (305) zufrieden als auch mit der Zeit. Sechseinhalb Minuten langsamer als meine HM-Bestzeit, Puls bei 86%, alles ist perfekt.
Aber jetzt geht es einen Kilometer bergauf, die Zeit sinkt um zehn Sekunden, der Puls geht leicht rauf und danach fang ich mich nicht wieder ein. Ich kämpfe, aber werde nicht wirklich schneller, hole den Rückstand nicht mehr ein. Merkwürdigerweise geht mein Puls auch runter. Als wenn jemand den Strom oder das Wasser langsam abdreht. Tut nicht weh, aber ist so entsetzlich kraftlos. Ist das jetzt ein Hammermann oder was?
Mit der zweiten Pinkelpause vor km 25 ist klar, dass die 3:10 Std. für heute nicht mehr drin sind.
Km 21-25: 23:27 min (4:30 – 4:39 – 4:49 – 4:36 – 5:02). Voraussichtliche Zielzeit: 3:12:01 Std.
Km 26-30: Hilflos
O.K., der Versuch für die 3:10 ist gescheitert, aber es gibt ja noch jede Menge untergeordneter Ziele. Da ich aber schon ahne, dass die Strafe für das zu schnelle Angehen noch kommt, will ich jetzt 5-10 Sekunden langsamer laufen. Auf einmal sehne mich nach einer Pause.
Als erstes beschließe ich, meine Schwiegermutter, meinen Schwager und meinen Neffen länger als geplant an der Sydneystraße zu „besuchen“. Schon auf 200m sehe ich sie am Rand stehen und winke. Da mein Schnürsenkel eh neu gebunden werden muss, halte ich mich bei ihnen ungefähr 40 Sekunden auf und versuche dabei Kraft zu tanken. Die Verwandtschaft ist natürlich begeistert und ich freue mich auch mächtig, sie hier wie jedes Jahr zu sehen. Beim Anlaufen spüre ich schon ein leichtes Brennen in den Oberschenkeln.
Aber der härteste Teil kommt ja erst noch. An der langen Rathenaustraße bin ich schon letztes Jahr schier verzweifelt. Ich lauf total unrund und kann das Tempo trotz vermeintlich größter Anstrengung nicht halten. Dem Puls ist das merkwürdigerweise ganz egal, der variiert um maximal zwei Schläge. Ich laufe, so gut es eben noch geht, hab aber anscheinend keinen Einfluss mehr darauf.
Km 26-30: 23:31 min (4:33 – 4:28 – 5:19 – 4:32 – 4:39). Voraussichtliche Zielzeit: 3:13:05 Std.
Km 30-35: Bitte Nachbrenner zünden – leider kein Trebstoff mehr da
Beim letzten Marathon in Frankfurt ging es ab Km 30 erst richtig los. Hier, in Ohlsdorf, ist schon alles zu Ende. Powergel Nr. 3, Wasser, Isogetränk, einige Schritte Gehpause – kosten jetzt schon 20 Sekunden zusätzlich. Dann nehme ich meine ganze Motivationskraft zusammen und quäle mich die nächsten Kilometer noch einmal auf das Ursprungstempo heran. Nicht zuletzt wird das Ganze durch Rückenwind und ebene Strecke begünstigt. Aber dann ist der Ofen endgültig aus.
Km 31-35: 23:42 min (5:03 – 4:52 – 4:36 – 4:29 – 4:42). Voraussichtliche Zielzeit: 3:14:05 Std.
Km 36-40: Nur noch zu Ende bringen…
Ich komm nicht mehr in die Gänge. Obwohl es richtig gut in Eppendorf bergab geht, werden meine Kilometerzeiten immer langsamer. Bei Km 37 überholt mich der 3:15Std-Pacemaker mit seinen noch verbliebenen zehn Schäfchen. Los, häng Dich dran, das ist die letzte Chance. Aber nach zweihundert Metern muss ich sie ziehen lassen. Was für ein Frust!
Gedanken ans Aufgeben bahnen sich jetzt den Weg. Oder endlich mal den Massageservice am Klosterstern in Anspruch nehmen und einfach eine halbe Stunde später ins Ziel kommen. Ich schleppe mich nur noch vorwärts, bekomme die Beine kaum hoch und muss ums Überleben kämpfen. Was hatte ich Manu versprochen, die zeitgleich in Duisburg läuft? Wenn es mir schlecht geht, stell ich mir vor, dass ich sie als virtueller Pacer ins Ziel ziehen muss. Verantwortung für jemand anderen zu übernehmen, scheint bei mir ein ganz starker Appell ans Gewissen zu sein. Jedenfalls bringt er mich dazu, langsam aber stetig durchzulaufen.
Als Belohnung gibt es bei beim Km 38 am Klosterstern das letzte Powergel, viel Wasser, eine kleine Gehpause.
Die Rothenbaumchaussee geht es im Fünfer-Schnitt hoch (hier steht offensichtlich eine Km-Markierung falsch) und ich fühle langsam leichte Übelkeit.
Km 36-40: 24:56 min (4:52 – 4:47 – 5:26 – 4:43 – 5:08). Voraussichtliche Zielzeit: 3:16:07 Std.
Km 41-42,2: Eine schmeichelhafte Bestzeit
Die letzte Verpflegungsstelle hinter Km 40 lädt ein zum Kraft schöpfen, denn gleich geht’s bergauf. In meiner Verzweiflung nehme ich einen Becher Red Bull, spucke aber den ersten Schluck gleich wieder aus. Bah, ist das ekelig! So schlecht kann es einem gar nicht gehen, dass man das Zeug runter bekommt.
So, die letzten zwei Kilometer mach ich jetzt auch noch in meinem Schneckentempo. Ist jetzt eh alles egal. Rum um den Dammtor Bahnhof, rauf auf den Gorch-Fock-Wall. Nach mehr als zehn Minuten Durchhalten endlich oben angekommen und der erste Blick auf die voraussichtliche Endzeit seit 10 Kilometern. Die 3:15:xx Std. sind weg, die 3:16:xx mit ein wenig Spurten noch zu schaffen.
Egal, wie hart es war: Es wird eine neue Bestzeit. Und das ist doch ein Grund, freundlich in die Kameras zu lächeln und zu winken und es zumindest für Freunde und Verwandte aussehen zu lassen, als wäre Marathon ein Spaziergang. Mein Spaziergang endet nach 3:16:48 Std.
Km 40-42,2: 10:53 min (5:14 – 4:52 – 0:47). Zielzeit: 3:16:48 Std.
Was am Ende bleibt: Läuferische Erkenntnisse
Im Grunde genommen weiß ich immer noch nicht, was nach Km 21 passiert ist.
Beim letzten HM bin ich mit durchschnittlich 92% HfMax einen Schnitt von 4:13 min/km gelaufen. Ist 4:30 min/km bei 86%HfMax zu ambitioniert gewesen? Offensichtlich ja.
Andererseits bin ich noch nie mit so gleichmäßiger Belastung und so locker auf der ersten Hälfte eines Marathons unterwegs gewesen. Der Puls schwankte zwischen Km3 und Km 40 zwischen 84,3 und 87,0% HfMax. Zum Vergleich: Den HH-Marathon 2006 bin ich mit einer durchschnittlichen Belastung von 89,7% HfMax gelaufen.
Nun ja, es war ein Versuch und der Preis dafür sind die vergebenen 3:15 Std, die bei vernünftiger Tempoeinteilung sicher drin gewesen wären. Andererseits hält sich der Einbruch auf der zweiten Hälfte mit ca. sechs Minuten noch einigermaßen im Rahmen.
Was am Ende bleibt: Persönliche Erkenntnis
Seit gestern weiß ich, dass ich in Hamburg niemals eine ultimative Bestzeit aufstellen werde und auch gar nicht darauf aus bin. Hamburg wird für mich immer der Marathon der Emotionen sein.
Zu viele Jahre, zu viele Erlebnisse, zu viele „Das erste Mal“, schon einige „Das letzte Mal“. Zu viele bekannte Menschen, zu viele Erinnerungen warten hinter jeder Ecke. Für manche will ich mir selbst während des Rennens Zeit nehmen, anderen möchte ich lieber nicht begegnen.
Marathonis sind durchtrainiert, schlank und ewig jung. Wer braucht so was?
[INDENT]Weißt Du noch wie’s war?Kinderzeit, wunderbar.Die Welt ist bunt und schön.[/INDENT][INDENT]Bis Du irgendwann begreifst,dass nicht jeder Abschied heißt,es gibt auch ein Wiedersehn.[/INDENT][INDENT]Immer vorwärts, Schritt um Schritt,Es geht kein Weg zurückUnd was jetzt ist, wird nie mehr ungeschehen[/INDENT][INDENT]Die Zeit läuft uns davon, was getan ist, ist getanUnd was jetzt ist wird nie mehr so geschehn(Es geht kein Weg zurück)[/INDENT][INDENT]Ach und könnt ich dochnur ein einziges Maldie Uhren rückwärts drehn[/INDENT][INDENT]Denn wie viel von dem,was ich heute weiß,hätt’ ich lieber nie gesehn(Es geht kein Weg zurück)[/INDENT][INDENT]Wolfsheim: Kein Zurück, aus: Chasing Shadows, 2003[/INDENT]