Wie ich beim Supermarathon in ein Loch fiel und wieder heraus krabbelte
Verfasst: 19.08.2007, 19:06
„Der will gleich noch trainieren!“ – Es bedurfte keiner profunden psychologischen Ausbildung, um zu erkennen, dass der „Blockwart“ mich für einen Geistesgestörten hielt, dem Laufen lediglich als therapeutische Behandlung verordnet worden war. Es war mittlerweile 20 Uhr, wir waren 4 ½ Stunden gefahren, ich hatte vorgehabt, mir bei einem kurzen Läufchen noch etwas die Beine zu lockern, bevor wir essen gingen; um 7 Uhr sollte morgen der Start erfolgen, und der „Blockwart“ hatte in der letzten Viertelstunde nicht erkennen lassen, wann er gedachte, mir die Startnummer auszuhändigen, deretwegen wir zum KIEZ gefahren waren. (Als gebürtiger Norddeutscher verbinde ich mit Kiez eigentlich etwas Anderes, aber hier handelt es sich um eine Jugendherberge.)
In dieser Situation zielte die Bemerkung meines Begleiters Adi wohl darauf ab, den Prozeß der Startnummernausgabe zu beschleunigen. Weder Mimik noch Körperhaltung des „Blockwarts“ deuteten aber darauf hin, dass dieser Effekt eintreten würde. Ich hatte keine Lust mehr, mich als Bittsteller behandeln zu lassen, es war spät, und so fuhren wir startnummernlos zurück nach Stiege, unserem Übernachtungsort. Am nächsten Morgen wurde mir schließlich das sichtbare Merkmal der Teilnahme ausgehändigt.
Als letzten ganz langen Lauf in der Vorbereitung auf 100 km in Winschoten, Holland, hatte ich für dieses Wochenende einen 70 km-Lauf geplant. Und ganz zufällig war ich auf den erstmalig ausgetragenen Ottonenlauf gestoßen, der einen laut Flyer „Supermarathon“ von 67 km Länge beinhaltet und im Harz auf dem neu angelegten Wanderweg Selketalstieg verläuft. Der Name Ottonenlauf ist übrigens weder als Hommage an einen bekannten friesischen Komiker gedacht noch soll damit die Entdeckung eines weiteren Elementarteilchens gewürdigt werden. Wer’s nicht glaubt, kann sich hier selbst ein Bild verschaffen. Meine Frau hatte am Samstag was Anderes vor, so meldete ich mich an, und Adi, der auch nichts Besseres wusste, begleitete mich.
Pünktlich um 7 Uhr morgens bei bestem Läuferwetter stand eine überschaubare Zahl von vielleicht 40 Damen und Herren, die sich auf die lange Strecke machen wollten – zusätzlich gab es einen ungefähren Marathon (44 km) und einen ungefähren Halbmarathon (23 km) – , einer Schar verkleideter Hexen und einem Teufel, der sich als Bürgermeister outete (oder war’s umgekehrt?), gegenüber. Nach einer kurzen Ansprache ging’s los.
Als erstes möchte ich festhalten, dass die Strecke eine ist, bei der ich geradezu ins Schwärmen gerate und die der Bezeichnung Supermarathon eine gewisse Berechtigung verleiht: von der läuferischen Anforderung her herausfordernd, aber nicht zu anstrengend und auch mit Regenerationsmöglichkeiten zwischendrin, und landschaftlich äußerst abwechslungsreich: Wiese, Wald, Bergwald, am Fluß entlang, Wasserfälle, auf einem Holzsteg durch Sumpfgebiet usw., also einfach toll. Es fing damit an, dass wir bei leichtem Nebel über dem Fluss und Tau auf den Wiesen der aufgehenden Sonne entgegen strebten.
Verliefen die ersten Kilometer auf freiem, leicht hügeligem Feld, ging es kurz danach in den Wald hinein auf teils angeschlammten Wegen, aber alles recht flach. Grundsätzlich wies der Beginn kaum Steigungen auf, im Mittelteil wechselten sich stetig Steigungs- und Gefällstrecken auf Bergwanderwegen und manchmal sehr schmalen Pfaden ab mit längeren ebenen Passagen, und im Schlussteil dominierten wieder flache Streckenteile.
Ich selbst hatte für mich diesen Lauf als längsten Trainingslauf definiert, und so wollte ich flach 5 min/km laufen, das hieß abhängig vom Profil wohl drüber und insgesamt mit einer geschätzten Endzeit von etwa 6 Stunden. Bei dieser Geschwindigkeit hielt ich brav bei jeder Getränkestation an, blieb stehen und trank meistens 2 Becher (vgl. Trinken). Das bekam mir gut, und die paar Sekunden Zeitverlust störten mich hier überhaupt nicht. Da es meine Trainingsgeschwindigkeit war, zerstörte die Trinkpause auch keinen Laufrhythmus, anders als bei schnellen Läufen.
Das meiste bei dieser Veranstaltung war trotz Premiere ausgezeichnet organisiert, dazu zähle ich z. B. die Verpflegungsstellen. Zwei klare Optimierungsmöglichkeiten für das nächste Jahr gibt es aber auch: Das erste ist die Streckenmarkierung, die meistens okay war, an einigen wenigen Stellen allerdings Verlaufmöglichkeiten bot (2-mal kehrte ich nach wenigen Metern um und fand erst dann den richtigen Weg). Anderen ist es schlechter ergangen, und sie haben tatsächlich Umwege eingelegt. Ein Läufer erzählte im Ziel, dass er nach Durchquerung eines Felstunnels (so tolle Sachen gibt’s da) am anderen Ende einen Pfeil in Gegenrichtung entdeckt hätte und die 20 m zurückgelaufen wäre, wo dann ein anderer Pfeil ihn wieder in den Tunnel hinein geschickt hätte. Statt ständig hin und her zu laufen, vertraute er sich nun aber diesem Pfeil an und lief weiter. Ist auch besser so, denn sonst hätte er die Geschichte im Ziel ja nicht erzählen können. Das zweite Manko betrifft die Kilometrierung, die gab’s nämlich gar nicht. Und das ist hinderlich, aber davon gleich noch mehr.
Bei 40 Läufern dürfte einsichtig sein, dass sich das Feld rasch auseinander zieht. Ich konnte nach dem Start gut erkennen, dass ich an 7. Position lief, das passte für einen Trainingslauf und mein normales Trainingstempo. Es dauerte weniger als eine halbe Stunde, bis ich die Läufer vor mir nicht mehr sah, und, wenn ich mich umdrehte, auch keinen mehr hinter mir. Das heißt, ich lief allein, und das sollte stundenlang so gehen. Da, wo Steigungen waren, konzentrierte ich mich noch auf den Lauf, aber in den Flachpassagen lief ich mein gemütliches Trainingstempo und war geistig nicht ausgelastet mit der Lauferei.
So fing ich dann an, über mich und den Lauf nachzudenken, und kam ins Grübeln. Und das war gar nicht gut. Denn nach weniger als der erwarteten Hälfte der Laufzeit nahm der Gedanke von mir Besitz, dass ich eigentlich erst wenig geschafft hätte und noch unendlich viel vor mir läge, und dabei würden meine Beine ja auch schon stark die Belastung spüren. Und schlagartig fühlte ich, wie beansprucht meine Beine waren. Sie liefen gar nicht mehr leicht, überhaupt, der ganze Körper wollte nicht mehr so recht; und musste so ein langer Trainingslauf denn wirklich sein? Kurz, es ging mir schon sehr viel schlechter, und ich hatte keine Lust, weiter zu laufen, und erst recht nicht, das noch stundenlang zu tun.
Ich war in ein Motivationsloch gefallen und drehte mich voll in eine Negativspirale hinein. Mir war klar, dass ich etwas tun musste, wenn die nächsten Stunden nicht schrecklich werden sollten. Zunächst versuchte ich, mich an der Schönheit der Strecke zu erfreuen. Aber mein Alter Ego winkte nur müde ab. Die Quelle größter Pein kann sich allerdings als Quell neuer Kraft entpuppen, und so grübelte ich weiter und kam schließlich darauf, dass die fehlende Kilometrierung ursächlich war für meinen mentalen Hänger.
Normalerweise laufe ich nicht los und sage mir: „So, jetzt läufst du 42 km.“ (oder 50 oder 100). Sondern ich lauf erstmal 5 km oder 10 km, und dann lauf ich wieder 5 oder 10 km, sprich ich setze mir kleinere Teilziele, und so wird eine lange Strecke runter gebrochen in viele überschaubare Teilziele. Das ging heute aber nicht, denn „wo kein km-Schild, da auch keine Kontrolle über Teilziele“. Nun hat ein sehr bekannter Physiker vor vielen, vielen Jahren einen sehr engen Zusammenhang von Raum und Zeit herausgefunden, und was lag näher, als mich, wenn das Streckenmaß fehlte, am Zeitmaß zu orientieren? Also sagte ich mir: „Du läufst jetzt erstmal bis 10.30 Uhr (11.00, 11.30,…), dann hast du schon was geschafft, und dann sehen wir weiter.“ Und prompt ging’s wieder besser: ich hatte etwas, was meine Aufmerksamkeit band, quälte mich nicht mit der allgemeinen Sinnfrage und konzentrierte mich nach vorne statt aufs Metaphysische. Was einmal mehr unterstreicht: Die Dinge werden vom Kopf her entschieden.
Nach 4 ½ Stunden Laufzeit schließlich wurde ich aus meinem Einsiedlerdasein erlöst. 4 Stunden lang hatte ich keinen anderen Läufer mehr gesehen, ein absoluter Rekord für eine Laufveranstaltung. Nach 4 ½ Stunden schließlich sehe ich jemand im Lauftrikot vor mir. Und flugs war Grübeln, wenn denn noch ein Rest übrig geblieben sein sollte, verschwunden.
Jagdinstinkt! Auflaufen, einfangen! Das ging ganz schnell, ohne mein Tempo verändern zu müssen. Später im Ziel erfuhr ich, dass der arme Kerl wohl noch fürchterlich eingebrochen ist, denn er kam fast 1 Stunde nach mir ins Ziel. Mit diesem Wissen hätte wahrscheinlich Beschützerinstinkt über Jagdtrieb gesiegt, aber Situationen werden aus dem Hier und Jetzt entschieden. Den nächsten Läufer konnte ich auch schon vor mir sehen. Wollte ich nicht ewig lange aufschließen, war nun eine moderate Tempoverschärfung angesagt, und zack, eingesammelt. Wer war das eigentlich, der mich vor geraumer Zeit mit Gelaber über Sinn und Unsinn der Teilnahme, der Entbehrungen dabei und überhaupt zugesülzt hatte?
Nach vorne geht’s, einige Minuten später: der da, zwar weit entfernt noch, aber der geht doch den Berg rauf! Oh ja, jetzt haben wir noch Power, und schwupps, vorbei, Position Nummer 4. Okay, das sieht ganz gut aus. Man muss bei einem Trainingslauf ja nicht vorne um die Plätze mitlaufen, aber man darf es doch. Jetzt das Ding nach Hause bringen! Obwohl, Platz 4 ist irgendwie undankbar, Platz 3 ist Podestplatz, wär schöner, also einmal noch überholen wär schon gut. Schade nur, dass ich so gar keine Übersicht über Zwischenzeiten habe. Egal, jetzt geht’s etwas flotter zur Sache. Die letzte Stunde (oder so) kann man ja auch bei einem langen Lauf noch mal ein kleines Ferkelchen raus lassen (muss ja nicht gleich eine ausgewachsene Sau sein).
Etwas später: eine große Versuchung auszusteigen, denn ich laufe auf ein Gebäude zu und sehe ein Schild: Seniorenheim Hagental. Hier könnte ich mich doch niederlassen, man muss schließlich an die Zukunft denken. Dann entscheide ich mich doch dafür, erstmal den Lauf vernünftig zu beenden. Es dauert dann einige weitere Minuten, bis der nächste Läufer vor mir auftaucht. Ich bin recht schnell dran. Später, als ich seinen Zieleinlauf mitbekomme, erfahre ich, dass es Jörg Peter ist.
Jörg Peter: das ist nicht irgendwer. Das ist der letzte Marathonmeister der DDR und immer noch der Inhaber der deutschen Marathonbestzeit (2:08:47 aus dem Jahr 1988)! Wow, ich habe einen Marathonmeister überholt, und der ist sogar noch jünger als ich. Als fairer Sportler wünscht er mir noch Glück für den weiteren Lauf. Nun bin ich also Dritter. Weiter muss es jetzt gar nicht mehr nach vorne gehen. Etwas Abwechslung bringen nun die letzten Halbmarathonis, aber die ermuntere ich, die letzten Kilometer auch noch zu schaffen (Beschützerinstinkt). Die Schlusskilometer gehen durch Ortschaften, auf Feldwegen und entlang einer Bundesstraße. Macht nichts, die Schönheiten der Strecke waren vorher, und nun, das Ziel fast vor Augen, ist Ästhetik zweitrangig.
Ich bin jetzt in Quedlinburg. Rechts ein Sportplatz mit Menschen darin. Ist das das Ziel? Das wär nicht schlecht: jetzt brauche ich das nicht, noch lange weiter zu laufen. Und tatsächlich, der rote Pfeil weist ins Stadion hinein. Als ich die Tartanbahn betrete, höre ich den Sprecher „…der zweite Läufer der langen Strecke…“ Ich schaue die Stadionrunde entlang, entdecke aber keinen Läufer. Als dann mein Name ertönt, wird mir klar: ich muss noch einen Läufer überholt haben, ohne dass ich es bemerkt habe. Mit einem verhaltenen Zielspurt laufe ich die letzten Meter und bin im Ziel: 5:44:36 h sagt meine Uhr.
Nun gibt’s nur noch eine kleine Zusatzanforderung: Mein Plan sah 70 km vor. Mein Großhirn kann prima argumentieren, dass 67 oder 70 km kein wirklicher Unterschied sind und dass ich in 3 Wochen keine einzige Sekunde schneller oder langsamer laufen werde wegen dieser 3 Kilometer Differenz. Aber wenn ich mir 70 km vornehme, laufe ich 70 km und nicht 67 km. Also drehe ich nach Verschnaufpause noch 4 Runden im Stadion, die Anfangsmeter habe ich schon vor dem Start beim Einlaufen herausgeholt. Beim Wiederanlaufen erlebe ich die anstrengendsten und unrundesten Meter des ganzen Tages, aber nach 100 Metern finde ich wieder in so etwas wie eine Laufbewegung hinein.
Auch bei der Siegerehrung lässt man sich nicht lumpen: sie wird von einer Ruderweltmeisterin und einem Ruderweltmeister vorgenommen. Dem „Blockwart“ kommt die Aufgabe zu, ihnen die Pokale rüber zu tragen, die die beiden dann überreichen. Gnädiger als gestern und halb verschwörerisch flüstert er mir zu: „Wenn ich gewusst hätte, was du heute vorhast…“ Ich habe gar nichts vorgehabt, außer meinen Trainingsplan penibel einzuhalten, aber meine Erwiderung „…lang gefahren… sitzen… Beine lockern…“ prallt ebenso ab wie der gestrige Wunsch nach zügiger Startnummernausgabe.
Fazit: Die Strecke sowie Freundlichkeit und Engagement der vielen Helfer bieten das Potenzial für ein wahres Laufhighlight. Für eine Premiere hat unterm Strich das meiste prima geklappt, und bei der geplanten zweiten Auflage werden sicherlich die Anfangsdefizite beseitigt sein.
Bernd
In dieser Situation zielte die Bemerkung meines Begleiters Adi wohl darauf ab, den Prozeß der Startnummernausgabe zu beschleunigen. Weder Mimik noch Körperhaltung des „Blockwarts“ deuteten aber darauf hin, dass dieser Effekt eintreten würde. Ich hatte keine Lust mehr, mich als Bittsteller behandeln zu lassen, es war spät, und so fuhren wir startnummernlos zurück nach Stiege, unserem Übernachtungsort. Am nächsten Morgen wurde mir schließlich das sichtbare Merkmal der Teilnahme ausgehändigt.
Als letzten ganz langen Lauf in der Vorbereitung auf 100 km in Winschoten, Holland, hatte ich für dieses Wochenende einen 70 km-Lauf geplant. Und ganz zufällig war ich auf den erstmalig ausgetragenen Ottonenlauf gestoßen, der einen laut Flyer „Supermarathon“ von 67 km Länge beinhaltet und im Harz auf dem neu angelegten Wanderweg Selketalstieg verläuft. Der Name Ottonenlauf ist übrigens weder als Hommage an einen bekannten friesischen Komiker gedacht noch soll damit die Entdeckung eines weiteren Elementarteilchens gewürdigt werden. Wer’s nicht glaubt, kann sich hier selbst ein Bild verschaffen. Meine Frau hatte am Samstag was Anderes vor, so meldete ich mich an, und Adi, der auch nichts Besseres wusste, begleitete mich.
Pünktlich um 7 Uhr morgens bei bestem Läuferwetter stand eine überschaubare Zahl von vielleicht 40 Damen und Herren, die sich auf die lange Strecke machen wollten – zusätzlich gab es einen ungefähren Marathon (44 km) und einen ungefähren Halbmarathon (23 km) – , einer Schar verkleideter Hexen und einem Teufel, der sich als Bürgermeister outete (oder war’s umgekehrt?), gegenüber. Nach einer kurzen Ansprache ging’s los.
Als erstes möchte ich festhalten, dass die Strecke eine ist, bei der ich geradezu ins Schwärmen gerate und die der Bezeichnung Supermarathon eine gewisse Berechtigung verleiht: von der läuferischen Anforderung her herausfordernd, aber nicht zu anstrengend und auch mit Regenerationsmöglichkeiten zwischendrin, und landschaftlich äußerst abwechslungsreich: Wiese, Wald, Bergwald, am Fluß entlang, Wasserfälle, auf einem Holzsteg durch Sumpfgebiet usw., also einfach toll. Es fing damit an, dass wir bei leichtem Nebel über dem Fluss und Tau auf den Wiesen der aufgehenden Sonne entgegen strebten.
Verliefen die ersten Kilometer auf freiem, leicht hügeligem Feld, ging es kurz danach in den Wald hinein auf teils angeschlammten Wegen, aber alles recht flach. Grundsätzlich wies der Beginn kaum Steigungen auf, im Mittelteil wechselten sich stetig Steigungs- und Gefällstrecken auf Bergwanderwegen und manchmal sehr schmalen Pfaden ab mit längeren ebenen Passagen, und im Schlussteil dominierten wieder flache Streckenteile.
Ich selbst hatte für mich diesen Lauf als längsten Trainingslauf definiert, und so wollte ich flach 5 min/km laufen, das hieß abhängig vom Profil wohl drüber und insgesamt mit einer geschätzten Endzeit von etwa 6 Stunden. Bei dieser Geschwindigkeit hielt ich brav bei jeder Getränkestation an, blieb stehen und trank meistens 2 Becher (vgl. Trinken). Das bekam mir gut, und die paar Sekunden Zeitverlust störten mich hier überhaupt nicht. Da es meine Trainingsgeschwindigkeit war, zerstörte die Trinkpause auch keinen Laufrhythmus, anders als bei schnellen Läufen.
Das meiste bei dieser Veranstaltung war trotz Premiere ausgezeichnet organisiert, dazu zähle ich z. B. die Verpflegungsstellen. Zwei klare Optimierungsmöglichkeiten für das nächste Jahr gibt es aber auch: Das erste ist die Streckenmarkierung, die meistens okay war, an einigen wenigen Stellen allerdings Verlaufmöglichkeiten bot (2-mal kehrte ich nach wenigen Metern um und fand erst dann den richtigen Weg). Anderen ist es schlechter ergangen, und sie haben tatsächlich Umwege eingelegt. Ein Läufer erzählte im Ziel, dass er nach Durchquerung eines Felstunnels (so tolle Sachen gibt’s da) am anderen Ende einen Pfeil in Gegenrichtung entdeckt hätte und die 20 m zurückgelaufen wäre, wo dann ein anderer Pfeil ihn wieder in den Tunnel hinein geschickt hätte. Statt ständig hin und her zu laufen, vertraute er sich nun aber diesem Pfeil an und lief weiter. Ist auch besser so, denn sonst hätte er die Geschichte im Ziel ja nicht erzählen können. Das zweite Manko betrifft die Kilometrierung, die gab’s nämlich gar nicht. Und das ist hinderlich, aber davon gleich noch mehr.
Bei 40 Läufern dürfte einsichtig sein, dass sich das Feld rasch auseinander zieht. Ich konnte nach dem Start gut erkennen, dass ich an 7. Position lief, das passte für einen Trainingslauf und mein normales Trainingstempo. Es dauerte weniger als eine halbe Stunde, bis ich die Läufer vor mir nicht mehr sah, und, wenn ich mich umdrehte, auch keinen mehr hinter mir. Das heißt, ich lief allein, und das sollte stundenlang so gehen. Da, wo Steigungen waren, konzentrierte ich mich noch auf den Lauf, aber in den Flachpassagen lief ich mein gemütliches Trainingstempo und war geistig nicht ausgelastet mit der Lauferei.
So fing ich dann an, über mich und den Lauf nachzudenken, und kam ins Grübeln. Und das war gar nicht gut. Denn nach weniger als der erwarteten Hälfte der Laufzeit nahm der Gedanke von mir Besitz, dass ich eigentlich erst wenig geschafft hätte und noch unendlich viel vor mir läge, und dabei würden meine Beine ja auch schon stark die Belastung spüren. Und schlagartig fühlte ich, wie beansprucht meine Beine waren. Sie liefen gar nicht mehr leicht, überhaupt, der ganze Körper wollte nicht mehr so recht; und musste so ein langer Trainingslauf denn wirklich sein? Kurz, es ging mir schon sehr viel schlechter, und ich hatte keine Lust, weiter zu laufen, und erst recht nicht, das noch stundenlang zu tun.
Ich war in ein Motivationsloch gefallen und drehte mich voll in eine Negativspirale hinein. Mir war klar, dass ich etwas tun musste, wenn die nächsten Stunden nicht schrecklich werden sollten. Zunächst versuchte ich, mich an der Schönheit der Strecke zu erfreuen. Aber mein Alter Ego winkte nur müde ab. Die Quelle größter Pein kann sich allerdings als Quell neuer Kraft entpuppen, und so grübelte ich weiter und kam schließlich darauf, dass die fehlende Kilometrierung ursächlich war für meinen mentalen Hänger.
Normalerweise laufe ich nicht los und sage mir: „So, jetzt läufst du 42 km.“ (oder 50 oder 100). Sondern ich lauf erstmal 5 km oder 10 km, und dann lauf ich wieder 5 oder 10 km, sprich ich setze mir kleinere Teilziele, und so wird eine lange Strecke runter gebrochen in viele überschaubare Teilziele. Das ging heute aber nicht, denn „wo kein km-Schild, da auch keine Kontrolle über Teilziele“. Nun hat ein sehr bekannter Physiker vor vielen, vielen Jahren einen sehr engen Zusammenhang von Raum und Zeit herausgefunden, und was lag näher, als mich, wenn das Streckenmaß fehlte, am Zeitmaß zu orientieren? Also sagte ich mir: „Du läufst jetzt erstmal bis 10.30 Uhr (11.00, 11.30,…), dann hast du schon was geschafft, und dann sehen wir weiter.“ Und prompt ging’s wieder besser: ich hatte etwas, was meine Aufmerksamkeit band, quälte mich nicht mit der allgemeinen Sinnfrage und konzentrierte mich nach vorne statt aufs Metaphysische. Was einmal mehr unterstreicht: Die Dinge werden vom Kopf her entschieden.
Nach 4 ½ Stunden Laufzeit schließlich wurde ich aus meinem Einsiedlerdasein erlöst. 4 Stunden lang hatte ich keinen anderen Läufer mehr gesehen, ein absoluter Rekord für eine Laufveranstaltung. Nach 4 ½ Stunden schließlich sehe ich jemand im Lauftrikot vor mir. Und flugs war Grübeln, wenn denn noch ein Rest übrig geblieben sein sollte, verschwunden.
Jagdinstinkt! Auflaufen, einfangen! Das ging ganz schnell, ohne mein Tempo verändern zu müssen. Später im Ziel erfuhr ich, dass der arme Kerl wohl noch fürchterlich eingebrochen ist, denn er kam fast 1 Stunde nach mir ins Ziel. Mit diesem Wissen hätte wahrscheinlich Beschützerinstinkt über Jagdtrieb gesiegt, aber Situationen werden aus dem Hier und Jetzt entschieden. Den nächsten Läufer konnte ich auch schon vor mir sehen. Wollte ich nicht ewig lange aufschließen, war nun eine moderate Tempoverschärfung angesagt, und zack, eingesammelt. Wer war das eigentlich, der mich vor geraumer Zeit mit Gelaber über Sinn und Unsinn der Teilnahme, der Entbehrungen dabei und überhaupt zugesülzt hatte?
Nach vorne geht’s, einige Minuten später: der da, zwar weit entfernt noch, aber der geht doch den Berg rauf! Oh ja, jetzt haben wir noch Power, und schwupps, vorbei, Position Nummer 4. Okay, das sieht ganz gut aus. Man muss bei einem Trainingslauf ja nicht vorne um die Plätze mitlaufen, aber man darf es doch. Jetzt das Ding nach Hause bringen! Obwohl, Platz 4 ist irgendwie undankbar, Platz 3 ist Podestplatz, wär schöner, also einmal noch überholen wär schon gut. Schade nur, dass ich so gar keine Übersicht über Zwischenzeiten habe. Egal, jetzt geht’s etwas flotter zur Sache. Die letzte Stunde (oder so) kann man ja auch bei einem langen Lauf noch mal ein kleines Ferkelchen raus lassen (muss ja nicht gleich eine ausgewachsene Sau sein).
Etwas später: eine große Versuchung auszusteigen, denn ich laufe auf ein Gebäude zu und sehe ein Schild: Seniorenheim Hagental. Hier könnte ich mich doch niederlassen, man muss schließlich an die Zukunft denken. Dann entscheide ich mich doch dafür, erstmal den Lauf vernünftig zu beenden. Es dauert dann einige weitere Minuten, bis der nächste Läufer vor mir auftaucht. Ich bin recht schnell dran. Später, als ich seinen Zieleinlauf mitbekomme, erfahre ich, dass es Jörg Peter ist.
Jörg Peter: das ist nicht irgendwer. Das ist der letzte Marathonmeister der DDR und immer noch der Inhaber der deutschen Marathonbestzeit (2:08:47 aus dem Jahr 1988)! Wow, ich habe einen Marathonmeister überholt, und der ist sogar noch jünger als ich. Als fairer Sportler wünscht er mir noch Glück für den weiteren Lauf. Nun bin ich also Dritter. Weiter muss es jetzt gar nicht mehr nach vorne gehen. Etwas Abwechslung bringen nun die letzten Halbmarathonis, aber die ermuntere ich, die letzten Kilometer auch noch zu schaffen (Beschützerinstinkt). Die Schlusskilometer gehen durch Ortschaften, auf Feldwegen und entlang einer Bundesstraße. Macht nichts, die Schönheiten der Strecke waren vorher, und nun, das Ziel fast vor Augen, ist Ästhetik zweitrangig.
Ich bin jetzt in Quedlinburg. Rechts ein Sportplatz mit Menschen darin. Ist das das Ziel? Das wär nicht schlecht: jetzt brauche ich das nicht, noch lange weiter zu laufen. Und tatsächlich, der rote Pfeil weist ins Stadion hinein. Als ich die Tartanbahn betrete, höre ich den Sprecher „…der zweite Läufer der langen Strecke…“ Ich schaue die Stadionrunde entlang, entdecke aber keinen Läufer. Als dann mein Name ertönt, wird mir klar: ich muss noch einen Läufer überholt haben, ohne dass ich es bemerkt habe. Mit einem verhaltenen Zielspurt laufe ich die letzten Meter und bin im Ziel: 5:44:36 h sagt meine Uhr.
Nun gibt’s nur noch eine kleine Zusatzanforderung: Mein Plan sah 70 km vor. Mein Großhirn kann prima argumentieren, dass 67 oder 70 km kein wirklicher Unterschied sind und dass ich in 3 Wochen keine einzige Sekunde schneller oder langsamer laufen werde wegen dieser 3 Kilometer Differenz. Aber wenn ich mir 70 km vornehme, laufe ich 70 km und nicht 67 km. Also drehe ich nach Verschnaufpause noch 4 Runden im Stadion, die Anfangsmeter habe ich schon vor dem Start beim Einlaufen herausgeholt. Beim Wiederanlaufen erlebe ich die anstrengendsten und unrundesten Meter des ganzen Tages, aber nach 100 Metern finde ich wieder in so etwas wie eine Laufbewegung hinein.
Auch bei der Siegerehrung lässt man sich nicht lumpen: sie wird von einer Ruderweltmeisterin und einem Ruderweltmeister vorgenommen. Dem „Blockwart“ kommt die Aufgabe zu, ihnen die Pokale rüber zu tragen, die die beiden dann überreichen. Gnädiger als gestern und halb verschwörerisch flüstert er mir zu: „Wenn ich gewusst hätte, was du heute vorhast…“ Ich habe gar nichts vorgehabt, außer meinen Trainingsplan penibel einzuhalten, aber meine Erwiderung „…lang gefahren… sitzen… Beine lockern…“ prallt ebenso ab wie der gestrige Wunsch nach zügiger Startnummernausgabe.
Fazit: Die Strecke sowie Freundlichkeit und Engagement der vielen Helfer bieten das Potenzial für ein wahres Laufhighlight. Für eine Premiere hat unterm Strich das meiste prima geklappt, und bei der geplanten zweiten Auflage werden sicherlich die Anfangsdefizite beseitigt sein.
Bernd