Harz 5 oder: eine Liebeserklärung
Verfasst: 27.04.2008, 18:24
Ich war unrasiert, hatte mich nicht geschminkt, die Wahl der Kleidung hatte ich einzig unter dem Diktat des Wetters vorgenommen, dabei der farblichen Harmonie von T-Shirt, Tight, Jacke, Socken, Schuhen und Stirnband nicht einmal ansatzweise einen einzigen Gedanken gewidmet. Und zu allem Überfluss hatte ich am Vorabend ein großes (!) Radler und ein alkoholhaltiges Weizenbier getrunken. Konnte ein Lauf unter diesen Bedingungen überhaupt gelingen? War ein Start unter diesen verkorksten Bedingungen noch sinnvoll? Das bittere Gift des Zweifels hatte die Blut-Hirn-Schranke überwunden und wütete in allen meinen Hirnregionen.
Dann stand ich im Startbereich mit den anderen Foris. Mit einer Mischung aus Argwohn und Mitleid wurden meine Bartstoppeln gemustert. Man habe munkeln gehört, hieß es, dass, ausgelöst durch intensivste Diskussionen über läuferische Etikette in einem großen deutschen Laufforum, der DLV sich des Themas angenommen habe und mit dem Veranstalter der Harzquerung in einem großen Feldversuch Sanktionsmaßnahmen testen wolle. Von stoppellängenabhängigen Zeitaufschlägen sei die Rede, ja, selbst nachträgliche Disqualifikationen schienen nicht ausgeschlossen, schenke ein Läufer oder eine Läuferin diesen Fragen nicht die gebührende Aufmerksamkeit. Ich war deprimiert, fing zu zittern an, und als ich den Reißverschluss meiner Laufjacke schließen wollte, verhakte ich ihn dabei so, dass gar nichts mehr ging. Auch Jörgs tatkräftige Mithilfe konnte daran nichts ändern. Ein böses Omen!
Doch dann kehrte der alte Kampfeswille zurück. Ich würde mich stellen, wollte als Versuchsmäuserich prüfen, ob ein Laufen unter Vernachlässigung von Beauty-Fragen möglich sei, und um noch eins draufzusetzen, würde ich, böte sich die Gelegenheit, im Zielkanal überholen und von dort direkt in den nächsten Supermarkt laufen und einen Großeinkauf tätigen. Jawoll!
Ohne Vorankündigung knallte es plötzlich, und knapp 400 Starter setzten sich in Bewegung: einige für die 25 km bis Benneckendorf, der größte Teil aber für die laut Ausschreibung 51 km lange Harzquerung. Sofort hieß es, Höhe zu gewinnen, und so war es ein recht gemächliches Anfangstempo. Dennoch sortierte sich das Feld früh, denn das Wohlfühltempo ist eben bei jedem leicht unterschiedlich.
Die Bedingungen waren ideal, frische, würzige Waldluft füllte die Lungen, und der längere Anstieg vertrieb ein eventuelles Morgenfrösteln. Ich mag dieses Laufen in der Natur. Die oft schmalen, unebenen, von Wurzeln durchzogenen Wege durch den Wald erfordern aber eine gut ausgeprägte Koordinationsleistung der Bein- und Fußmuskulatur sowie hohe Aufmerksamkeit, will man nicht den Boden aus nächster Nähe betrachten. Das Gleiche gilt für die Streckenabschnitte, die auf Wiesen oder grasbewachsenen Schneisen im Wald verlaufen. Auch hier müssen die Füße die durch den Bewuchs nicht sichtbaren Unebenheiten ausgleichen.
Ich hatte mich recht schnell eingelaufen und fand streckenweise immer wieder Begleiter, die in etwa mein Tempo liefen, bis schließlich der eine oder andere sich wieder absetzte. Die Verpflegungsstellen waren etwas spärlich verteilt, insbesondere bis zur ersten waren fast 11 km zurückzulegen. Das wusste ich allerdings vorher, und so hielt ich jeweils kurz an, trank in Ruhe 2 Becher und kam auf diese Weise gut klar.
An dieser Stelle ist eine Liebeserklärung an den Harz, die Schönheit der Landschaft und diese wunderbare Strecke, auf der wir gestern laufen durften, angebracht. Als Kind, aufgewachsen in einer Kleinstadt, mit einem Aktionsradius, der den Besuch bei 20 km entfernt wohnenden Verwandten zur Weltreise mutieren ließ, kannte ich den Harz nur aus dem Erdkundeunterricht, hatte keinerlei visuelle Vorstellung und verband mit dem Klang des Namens irgendwie Begriffe wie knorrig, Fels, Meißel.
Eine erste nähere Bekanntschaft hatte ich vor etlichen Jahren (noch vor meiner Läuferzeit) auf einer 1-Wochen-Wanderung mit Freunden gemacht und verbinde damit noch heute Schönheit, Lebendigkeit und Abwechslung. Und genau diese Abwechslung war das, was ich auch jetzt wieder erlebte: Laufen auf weichem Waldboden, von Blättern übersät, dann immer noch Wald, aber naturbelassen, wurzeldurchsetzt, einige normale Waldwege, manchmal in Schlamm übergehend, kleine Bäche, die auf zusammengeschusterten Holzbrücken überquert werden, der Blick auf den See, aber auch Passagen, bei denen links und rechts des Weges Wiesen das Blickfeld füllen, oder es geht quer über die Wiese ohne festen Weg, die Richtung nur an den Spuren der Vorläufer und eine Markierung am gegenüberliegenden Ende zu erkennen.
Um die Schönheit der Strecke auch nur annähernd treffend zu beschreiben, müsste ich sie wahrscheinlich noch mal in Ruhe begehen, und dann würde eher ein Buch herauskommen. Da das aber keiner kaufen würde, lasse ich das lieber.
Hingegen will ich noch ein Phänomen erwähnen, das ich mehrfach zwischendurch erlebt habe, nämlich eine Art Déjà-vû-Erlebnis. „Diese Brücke über das Bächlein kennst du doch“, „auf diesem schmalen Hangweg bist du doch schon gelaufen“, ging es mir oft durch den Kopf. Ich war vorher schon den Brocken-Marathon und im letzten Jahr den Ottonenlauf auf dem Selketalstieg gelaufen. Natürlich waren es nicht die gleichen Stellen, die ich dort wahrgenommen hatte, denn das passt von der Streckenführung her nicht. Aber es zeigt die eigene Identität der Landschaft, die von diesen Gegebenheiten geprägt wird und die ihr das Gesicht verleihen.
Zurück zum Lauf: Ich lief gerade auf einem von Wiesen umsäumten Feldweg, als ich einen Wanderer von mir sah. Beim Näherkommen dachte ich: Nanü, den kennst du doch, und richtig, es war Martin, der als Walker 2 Stunden früher gestartet war. Er hatte eine Kamera dabei, lief kurz vor und machte 2 Bilder: eins von seinem Finger, dann eins von mir. Ein kleines Stück lief er noch nebenher, um sich dann wieder in den Walking-Schritt fallen zu lassen.
Bei der Übertragung des Hamburg-Marathons am Sonntag hörte ich Waldemar Cierpinski, der seinen Sohn Falk auf dem Rad begleitete, auf die Reporterfrage, wie es dem Sohn gehe, sagen: „Er hat eine große Blase.“ Die hätte ich mir bei der Harzquerung auch gewünscht. So aber ließ sich ein Pinkelstopp nicht vermeiden.
Einige Zeit später überholte ich eine Gruppe; einer der Läufer legte zu und blieb kurz hinter mir. Im Gespräch stellte sich heraus, dass er in meiner Altersklasse lief. Das war mir zu diesem Zeitpunkt, etwa die Hälfte der Strecke lag hinter uns, ziemlich egal, aber meinen Mitläufer schien das zu animieren, unbedingt dranbleiben zu wollen, und wir spielten in der Folge Ziehharmonika. Wäre ein Gummiband zwischen uns gespannt gewesen, dann wäre dieses beim Bergauflaufen arg auseinander gezogen worden, während es sich bergab geschlossen hätte. Ich hätte gut zu zweit laufen können, aber dieses Hin und Her machte mich nervös, da die dadurch entstehende Hektik die Harmonie mit der Natur störte. Ich war ganz froh, als mein Begleiter (besser wohl Nachgleiter) das virtuelle Gummiband irgendwann zum Reißen brachte und zurück blieb.
Mehr und mehr tauchten nun auch sich gemächlich bewegende Wesen vor mir auf. Wahrscheinlich wäre ich auf ewig unwissend geblieben, hätte ich nicht beim Näherkommen die Schilder mit der Aufschrift „Wanderer“ gesehen. Gottseidank, dachte ich mir, es hätten sonst ja auch Waldschrate oder Wegelagerer sein können. Alle waren aber ausgesprochen nett und gingen insbesondere auf engen Wegen kurz ein Stück zur Seite, um die Läufer vorbei zu lassen.
Der Vorteil eines Trainingslaufes ist, dass man ein Tempo wählt, das man über die gesamte Strecke gut durchhalten kann. Damit das nicht falsch rüberkommt: Bei jedem Lauf, egal in welcher Geschwindigkeit, macht sich ab 30, 35 km die muskuläre Ermüdung bemerkbar, und wenn dann noch mehrere Anstiege zu bewältigen sind, erst recht. Es ist allerdings ein Unterschied, ob man dabei ständig am Limit läuft oder in einem Bereich, der noch Reserven lässt.
Ich hielt also mein Tempo recht konstant bei und ließ nunmehr Läufer um Läufer hinter mir. Das galt besonders für den zweiten längeren Anstieg, der dem Höhenprofil nach bei km 36 beginnen sollte, laut Forerunner aber schon nach 32 km anfing. Entgegen meinen sonstigen Gepflogenheiten hatte ich die GPS-Uhr mitgenommen, weil die Harzquerung keine km-Schilder kennt und ich gerne eine Standortbestimmung und Orientierung habe. Sogar den Brustgurt hatte ich, aber nur zur nachträglichen statistischen Auswertung, umgebunden.
Mitten im Aufstieg überholte ich etwa bei km 34 einen bekannten Ultraläufer meiner Altersklasse und, wie ich später erfuhr, sogar noch einen zweiten AK-Kollegen, den ich allerdings nicht kannte. Das ließ mich allmählich ans Ziel denken und dass wohl eine recht gute Platzierung herausspringen müsste.
Hinter dem Poppenberg, hier war wohl zur Wahrung von Anstand und Sitte eine Getränkestation und somit Beobachter aufgestellt, begann dann der in meinen Augen unangenehmste Streckenabschnitt mit dem, allerdings einzigen, wirklich steilen Abstieg. Zur Vermeidung harter Oberschenkel mit der unvermeidlichen Folge von 3 – 4 Tagen Trainingspause bemühte ich mich, gedämpft und mit moderatem Tempo hinab zu laufen. Offensichtlich war diese Taktik erfolgreich, denn die Beine sind okay geblieben.
Aus dem Wald heraus kommend, ging es später direkt über eine Wiese. Auf dem Kamm angekommen, konnte ich gut die Laufstrecke überblicken und sah keinen anderen Läufer mehr vor mir. Also dachte ich, meine Endplatzierung gefunden zu haben. Im folgenden Waldstück tauchte dann allerdings doch noch ein weiterer Läufer vor mir auf. Fies und den Regeln der runnical correctness diametral entgegengesetzt, dachte ich mir: „Das ist dein Opfer, an dem bleibst du dran und überholst ihn erst im Zielkanal.“
Als mein Vorläufer bei einem letzten kurzen, aber heftigen Anstieg ins Gehen wechselte, machte ich das auch. Okay, viele lange Anstiege lagen hinter uns beiden, und es war anstrengend. Eine kleine Weile blieb ich noch hinter diesem Läufer und sagte mir dann: Was’n Quatsch! Lauf deinen eigenen Lauf, egal ob vor, in oder nach dem Zielkanal. Also weiter! Ein letzter Wiesenweg, eine letzte hässliche Teerstraße, ein Schotterweg, und schon war links das Ziel zu erkennen. Einen letzten Kreisbogen gelaufen, und dann mit leichter Beschleunigung auf der Stadiongeraden ins Ziel hinein.
Etwas überrascht war ich dann doch, als ich den Sprecher laut „Fünf“ rufen hörte. Dann begannen bange Minuten, die schlimmsten des ganzen Tages. Wenn doch nur die Ungewissheit nicht wäre! Würde man mich zur Beauty-Kontrolle zitieren? Wie streng würden die Prüfer vorgehen? Wäre der erste Check unwiderruflich, oder gäbe es eine B-Probe? Mit welcher Zeitstrafe – oder gar Disqualifikation? - hätte ich wohl zu rechnen?
Dann die Erlösung! Der Fotograf rief die ersten Sechs zum Zielfoto, man rief mich als Nummer 5 hinzu. Nach Vorliegen dieses offiziellen Dokuments würde man bestimmt keine Verschiebungen mehr vornehmen. Alle Sechs bekamen einen Rotkäppchensekt und einen Tulpenstrauß, nicht ohne die Ansage: „Den müsst ihr aber wieder abgeben, ist nur fürs Siegerfoto.“
Bei der späteren Siegerehrung wurde er aber erneut überreicht, und nun durfte man ihn auch behalten. Das ist praktisch, denn da freut sich meine Frau, dass ich ihr Blumen mitbringe. Zusätzlich gab’s noch eine Saunabürste und ein Handtuch. War das etwa ein diskreter Hinweis, ich sollte lieber nicht direkt in den Supermarkt gehen, sondern erst duschen und das Handtuch benutzen?
So nach und nach hatten auch die restlichen Forum-Harzquerulanten erfolgreich das Ziel erreicht (alle vereint zu bewundern auf Martins Fotoseiten). Conni „Lachmöwe“ konnte ihren hässlichsten Pokal (ich zitiere nur) nicht durch einen noch hässlicheren toppen, sondern wurde stattdessen Besitzerin eines Mixers. Etwaige die design-mäßige Ästhetik desselben beschreibende Adjektive habe ich nicht vernommen.
Auf der Busfahrt zurück nach Wernigerode unterhielt ich mich noch mit einem Duisburger, der jetzt im Emsland wohnt. Beide stimmten wir darin überein, dass Deutschland wunderschöne Landschaften hat. Der Harz ist eine der schönsten davon!
Bernd
Dann stand ich im Startbereich mit den anderen Foris. Mit einer Mischung aus Argwohn und Mitleid wurden meine Bartstoppeln gemustert. Man habe munkeln gehört, hieß es, dass, ausgelöst durch intensivste Diskussionen über läuferische Etikette in einem großen deutschen Laufforum, der DLV sich des Themas angenommen habe und mit dem Veranstalter der Harzquerung in einem großen Feldversuch Sanktionsmaßnahmen testen wolle. Von stoppellängenabhängigen Zeitaufschlägen sei die Rede, ja, selbst nachträgliche Disqualifikationen schienen nicht ausgeschlossen, schenke ein Läufer oder eine Läuferin diesen Fragen nicht die gebührende Aufmerksamkeit. Ich war deprimiert, fing zu zittern an, und als ich den Reißverschluss meiner Laufjacke schließen wollte, verhakte ich ihn dabei so, dass gar nichts mehr ging. Auch Jörgs tatkräftige Mithilfe konnte daran nichts ändern. Ein böses Omen!
Doch dann kehrte der alte Kampfeswille zurück. Ich würde mich stellen, wollte als Versuchsmäuserich prüfen, ob ein Laufen unter Vernachlässigung von Beauty-Fragen möglich sei, und um noch eins draufzusetzen, würde ich, böte sich die Gelegenheit, im Zielkanal überholen und von dort direkt in den nächsten Supermarkt laufen und einen Großeinkauf tätigen. Jawoll!
Ohne Vorankündigung knallte es plötzlich, und knapp 400 Starter setzten sich in Bewegung: einige für die 25 km bis Benneckendorf, der größte Teil aber für die laut Ausschreibung 51 km lange Harzquerung. Sofort hieß es, Höhe zu gewinnen, und so war es ein recht gemächliches Anfangstempo. Dennoch sortierte sich das Feld früh, denn das Wohlfühltempo ist eben bei jedem leicht unterschiedlich.
Die Bedingungen waren ideal, frische, würzige Waldluft füllte die Lungen, und der längere Anstieg vertrieb ein eventuelles Morgenfrösteln. Ich mag dieses Laufen in der Natur. Die oft schmalen, unebenen, von Wurzeln durchzogenen Wege durch den Wald erfordern aber eine gut ausgeprägte Koordinationsleistung der Bein- und Fußmuskulatur sowie hohe Aufmerksamkeit, will man nicht den Boden aus nächster Nähe betrachten. Das Gleiche gilt für die Streckenabschnitte, die auf Wiesen oder grasbewachsenen Schneisen im Wald verlaufen. Auch hier müssen die Füße die durch den Bewuchs nicht sichtbaren Unebenheiten ausgleichen.
Ich hatte mich recht schnell eingelaufen und fand streckenweise immer wieder Begleiter, die in etwa mein Tempo liefen, bis schließlich der eine oder andere sich wieder absetzte. Die Verpflegungsstellen waren etwas spärlich verteilt, insbesondere bis zur ersten waren fast 11 km zurückzulegen. Das wusste ich allerdings vorher, und so hielt ich jeweils kurz an, trank in Ruhe 2 Becher und kam auf diese Weise gut klar.
An dieser Stelle ist eine Liebeserklärung an den Harz, die Schönheit der Landschaft und diese wunderbare Strecke, auf der wir gestern laufen durften, angebracht. Als Kind, aufgewachsen in einer Kleinstadt, mit einem Aktionsradius, der den Besuch bei 20 km entfernt wohnenden Verwandten zur Weltreise mutieren ließ, kannte ich den Harz nur aus dem Erdkundeunterricht, hatte keinerlei visuelle Vorstellung und verband mit dem Klang des Namens irgendwie Begriffe wie knorrig, Fels, Meißel.
Eine erste nähere Bekanntschaft hatte ich vor etlichen Jahren (noch vor meiner Läuferzeit) auf einer 1-Wochen-Wanderung mit Freunden gemacht und verbinde damit noch heute Schönheit, Lebendigkeit und Abwechslung. Und genau diese Abwechslung war das, was ich auch jetzt wieder erlebte: Laufen auf weichem Waldboden, von Blättern übersät, dann immer noch Wald, aber naturbelassen, wurzeldurchsetzt, einige normale Waldwege, manchmal in Schlamm übergehend, kleine Bäche, die auf zusammengeschusterten Holzbrücken überquert werden, der Blick auf den See, aber auch Passagen, bei denen links und rechts des Weges Wiesen das Blickfeld füllen, oder es geht quer über die Wiese ohne festen Weg, die Richtung nur an den Spuren der Vorläufer und eine Markierung am gegenüberliegenden Ende zu erkennen.
Um die Schönheit der Strecke auch nur annähernd treffend zu beschreiben, müsste ich sie wahrscheinlich noch mal in Ruhe begehen, und dann würde eher ein Buch herauskommen. Da das aber keiner kaufen würde, lasse ich das lieber.
Hingegen will ich noch ein Phänomen erwähnen, das ich mehrfach zwischendurch erlebt habe, nämlich eine Art Déjà-vû-Erlebnis. „Diese Brücke über das Bächlein kennst du doch“, „auf diesem schmalen Hangweg bist du doch schon gelaufen“, ging es mir oft durch den Kopf. Ich war vorher schon den Brocken-Marathon und im letzten Jahr den Ottonenlauf auf dem Selketalstieg gelaufen. Natürlich waren es nicht die gleichen Stellen, die ich dort wahrgenommen hatte, denn das passt von der Streckenführung her nicht. Aber es zeigt die eigene Identität der Landschaft, die von diesen Gegebenheiten geprägt wird und die ihr das Gesicht verleihen.
Zurück zum Lauf: Ich lief gerade auf einem von Wiesen umsäumten Feldweg, als ich einen Wanderer von mir sah. Beim Näherkommen dachte ich: Nanü, den kennst du doch, und richtig, es war Martin, der als Walker 2 Stunden früher gestartet war. Er hatte eine Kamera dabei, lief kurz vor und machte 2 Bilder: eins von seinem Finger, dann eins von mir. Ein kleines Stück lief er noch nebenher, um sich dann wieder in den Walking-Schritt fallen zu lassen.
Bei der Übertragung des Hamburg-Marathons am Sonntag hörte ich Waldemar Cierpinski, der seinen Sohn Falk auf dem Rad begleitete, auf die Reporterfrage, wie es dem Sohn gehe, sagen: „Er hat eine große Blase.“ Die hätte ich mir bei der Harzquerung auch gewünscht. So aber ließ sich ein Pinkelstopp nicht vermeiden.
Einige Zeit später überholte ich eine Gruppe; einer der Läufer legte zu und blieb kurz hinter mir. Im Gespräch stellte sich heraus, dass er in meiner Altersklasse lief. Das war mir zu diesem Zeitpunkt, etwa die Hälfte der Strecke lag hinter uns, ziemlich egal, aber meinen Mitläufer schien das zu animieren, unbedingt dranbleiben zu wollen, und wir spielten in der Folge Ziehharmonika. Wäre ein Gummiband zwischen uns gespannt gewesen, dann wäre dieses beim Bergauflaufen arg auseinander gezogen worden, während es sich bergab geschlossen hätte. Ich hätte gut zu zweit laufen können, aber dieses Hin und Her machte mich nervös, da die dadurch entstehende Hektik die Harmonie mit der Natur störte. Ich war ganz froh, als mein Begleiter (besser wohl Nachgleiter) das virtuelle Gummiband irgendwann zum Reißen brachte und zurück blieb.
Mehr und mehr tauchten nun auch sich gemächlich bewegende Wesen vor mir auf. Wahrscheinlich wäre ich auf ewig unwissend geblieben, hätte ich nicht beim Näherkommen die Schilder mit der Aufschrift „Wanderer“ gesehen. Gottseidank, dachte ich mir, es hätten sonst ja auch Waldschrate oder Wegelagerer sein können. Alle waren aber ausgesprochen nett und gingen insbesondere auf engen Wegen kurz ein Stück zur Seite, um die Läufer vorbei zu lassen.
Der Vorteil eines Trainingslaufes ist, dass man ein Tempo wählt, das man über die gesamte Strecke gut durchhalten kann. Damit das nicht falsch rüberkommt: Bei jedem Lauf, egal in welcher Geschwindigkeit, macht sich ab 30, 35 km die muskuläre Ermüdung bemerkbar, und wenn dann noch mehrere Anstiege zu bewältigen sind, erst recht. Es ist allerdings ein Unterschied, ob man dabei ständig am Limit läuft oder in einem Bereich, der noch Reserven lässt.
Ich hielt also mein Tempo recht konstant bei und ließ nunmehr Läufer um Läufer hinter mir. Das galt besonders für den zweiten längeren Anstieg, der dem Höhenprofil nach bei km 36 beginnen sollte, laut Forerunner aber schon nach 32 km anfing. Entgegen meinen sonstigen Gepflogenheiten hatte ich die GPS-Uhr mitgenommen, weil die Harzquerung keine km-Schilder kennt und ich gerne eine Standortbestimmung und Orientierung habe. Sogar den Brustgurt hatte ich, aber nur zur nachträglichen statistischen Auswertung, umgebunden.
Mitten im Aufstieg überholte ich etwa bei km 34 einen bekannten Ultraläufer meiner Altersklasse und, wie ich später erfuhr, sogar noch einen zweiten AK-Kollegen, den ich allerdings nicht kannte. Das ließ mich allmählich ans Ziel denken und dass wohl eine recht gute Platzierung herausspringen müsste.
Hinter dem Poppenberg, hier war wohl zur Wahrung von Anstand und Sitte eine Getränkestation und somit Beobachter aufgestellt, begann dann der in meinen Augen unangenehmste Streckenabschnitt mit dem, allerdings einzigen, wirklich steilen Abstieg. Zur Vermeidung harter Oberschenkel mit der unvermeidlichen Folge von 3 – 4 Tagen Trainingspause bemühte ich mich, gedämpft und mit moderatem Tempo hinab zu laufen. Offensichtlich war diese Taktik erfolgreich, denn die Beine sind okay geblieben.
Aus dem Wald heraus kommend, ging es später direkt über eine Wiese. Auf dem Kamm angekommen, konnte ich gut die Laufstrecke überblicken und sah keinen anderen Läufer mehr vor mir. Also dachte ich, meine Endplatzierung gefunden zu haben. Im folgenden Waldstück tauchte dann allerdings doch noch ein weiterer Läufer vor mir auf. Fies und den Regeln der runnical correctness diametral entgegengesetzt, dachte ich mir: „Das ist dein Opfer, an dem bleibst du dran und überholst ihn erst im Zielkanal.“
Als mein Vorläufer bei einem letzten kurzen, aber heftigen Anstieg ins Gehen wechselte, machte ich das auch. Okay, viele lange Anstiege lagen hinter uns beiden, und es war anstrengend. Eine kleine Weile blieb ich noch hinter diesem Läufer und sagte mir dann: Was’n Quatsch! Lauf deinen eigenen Lauf, egal ob vor, in oder nach dem Zielkanal. Also weiter! Ein letzter Wiesenweg, eine letzte hässliche Teerstraße, ein Schotterweg, und schon war links das Ziel zu erkennen. Einen letzten Kreisbogen gelaufen, und dann mit leichter Beschleunigung auf der Stadiongeraden ins Ziel hinein.
Etwas überrascht war ich dann doch, als ich den Sprecher laut „Fünf“ rufen hörte. Dann begannen bange Minuten, die schlimmsten des ganzen Tages. Wenn doch nur die Ungewissheit nicht wäre! Würde man mich zur Beauty-Kontrolle zitieren? Wie streng würden die Prüfer vorgehen? Wäre der erste Check unwiderruflich, oder gäbe es eine B-Probe? Mit welcher Zeitstrafe – oder gar Disqualifikation? - hätte ich wohl zu rechnen?
Dann die Erlösung! Der Fotograf rief die ersten Sechs zum Zielfoto, man rief mich als Nummer 5 hinzu. Nach Vorliegen dieses offiziellen Dokuments würde man bestimmt keine Verschiebungen mehr vornehmen. Alle Sechs bekamen einen Rotkäppchensekt und einen Tulpenstrauß, nicht ohne die Ansage: „Den müsst ihr aber wieder abgeben, ist nur fürs Siegerfoto.“
Bei der späteren Siegerehrung wurde er aber erneut überreicht, und nun durfte man ihn auch behalten. Das ist praktisch, denn da freut sich meine Frau, dass ich ihr Blumen mitbringe. Zusätzlich gab’s noch eine Saunabürste und ein Handtuch. War das etwa ein diskreter Hinweis, ich sollte lieber nicht direkt in den Supermarkt gehen, sondern erst duschen und das Handtuch benutzen?
So nach und nach hatten auch die restlichen Forum-Harzquerulanten erfolgreich das Ziel erreicht (alle vereint zu bewundern auf Martins Fotoseiten). Conni „Lachmöwe“ konnte ihren hässlichsten Pokal (ich zitiere nur) nicht durch einen noch hässlicheren toppen, sondern wurde stattdessen Besitzerin eines Mixers. Etwaige die design-mäßige Ästhetik desselben beschreibende Adjektive habe ich nicht vernommen.
Auf der Busfahrt zurück nach Wernigerode unterhielt ich mich noch mit einem Duisburger, der jetzt im Emsland wohnt. Beide stimmten wir darin überein, dass Deutschland wunderschöne Landschaften hat. Der Harz ist eine der schönsten davon!
Bernd