100 km Biel - Mein Bericht
Verfasst: 17.06.2008, 09:31
Eine unglaubliche Leistung. Wie hat er das wieder gemacht? Buffon rettet den Italienern durch eine Glanzparade bei einem rumänischen Elfmeter kurz vor Schluß das 1:1 Unentschieden. Abpfiff.
Die Halle leert sich. Ich bleibe sitzen auf meiner Zuschauerbank im Bieler Eisstadion, schaue auf die Großbildleinwand ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Viele Läufer haben noch einiges zu erledigen. Umziehen, Klamotten abgeben. Ich habe alles erledigt, ich bin bereit. Bin ich das wirklich?
Ich bin vor allem müde. Die letzte Nacht im Hotel habe ich so gut wie nicht geschlafen. Spät hat sie mich erwischt, die Nervosität vor meinem ersten Bieler 100er, sehr spät. Gestern abend eben, als ich eigentlich schlafen wollte. Auch heute nachmittag war es nicht mehr als ein Ausruhen im Hotel. Das Hotel. In einer viertel Stunde könnte ich dort sein, ein Bier an der Bar trinken und das nächste EM-Spiel ansehen. Natürlich werde ich das nicht tun, aber der Gedanke ist da. 100km. Ich kann nicht fassen, daß ich wirklich hier sitze.
Die Zeit verrinnt, vermutlich läuft auf der Leinwand schon Holland-Frankreich, doch ich starre ins Leere. 20min noch, einmal auf die Toilette, dann trotte ich zum Start. Die Apathie weicht nur langsam der Vorfreude. Dann ist sie plötzlich da.
Vergiß die Müdigkeit, Du hast gut trainiert, es ist Dein Wetter. 12°C ist es jetzt; der Sprecher informiert uns, daß es die Nacht bis auf 6°C abkühlen wird aber vor allem: Trocken soll es bleiben, eine wohltuende Aussicht nach den heftigen Schauern und Platzregen der vergangenen Nacht.
Um mich herum gespannte Nervosität, Schulterklopfen, Lächeln. Alle Ansagen des Sprechers in deutsch und in französisch, und er hat viel zu erzählen der Mann. Dann ist es endlich soweit. Der Start und langsam setzt sich die Masse in Bewegung. Ich bewege mich mit. Nach etwas 1,5min bin ich über die Startlinie. Langsam. Links und rechts werde ich überholt. Langsam. Mangels Erfahrung hatte ich mir vorgenommen, strikt nach Puls zu laufen, erst einmal mit maximal 134, also knapp 72% meiner Hfmax, egal welche km-Schnitte sich daraus ergeben würden.
Die ersten Kilometer gehen durch Biel und sind einzeln markiert. Die Stimmung ist gut, bei den Zuschauern und bei den Läufern. Viele ermahnen sich zu einem langsamen Tempo, einige preschen durch das noch dicht gedrängte Feld. Meine Stirnlampe ist noch aus, die Strassen sind hell erleuchtet. Immer wieder kontrolliere ich meine HF, bremse wenn nötig etwas ab. Nach dem Trubel mitten in der Innenstadt wird es wieder etwas ruhiger und schon sind 5km um. Brutto habe ich dafür knapp 34min gebraucht. Eine Zeit ohne grossen Wert, es ist noch weit. Eine Zahl habe ich mir im Vorfeld eingeprägt: 36min. Wenn man alle 5km-Abschnitte in 36min läuft, dann sind das genau 12 Stunden für die gesamte Strecke. Eine gute Orientierung, mehr nicht.
Kaum aus Biel heraus geht es über einen Kanal und schon kommt die erste kräftige Steigung. Sofort verfall ich, dem Beispiel vieler Läufer folgend, in einen zügigen Gehschritt. Immer schön den Puls unten halten. Es geht lange bergauf und gehend überhole ich einige, die hier laufen und schon leicht keuchen. Es ist noch weit. Bergab lasse ich es rollen und schon kommt eine Verpflegungsstation in Sicht. Was für ein Chaos. Gedrängle, Geschubse. Ich greife mir einen Becher Iso und spüle damit mein erstes Gel hinunter, schlucke einen Becher Wasser hinterher und laufe weiter. Ich habe reichlich für alle 10km Gel dabei für die erste Hälfte und im Rucksack, den ich bis Kirchberg habe bringen lassen, warten trockene Sachen und die Gels für die zweite Streckenhälfte auf mich.
Das 10km-Schild habe ich wohl übersehen, auf Feldwegen geht es weiter durch die Nacht. Zeit meine Stirnlampe einzuschalten. Für das noch sehr enge Feld ist der Weg recht schmal, zumal viel nebeneinander gelaufen wird. Gelegtnlich ergeben sich Lücken, durch die ich überholen kann. Ja, tatsächlich, mein Puls pendelt bei 133/134 und es läuft wunderbar. Es ist jetzt richtig dunkel hier draussen, nur der Lichtkegel meiner Lampe und die Lichter anderer Läufer sind zu sehen. Zu hören gibt es nur das rhythmische hundertfache Scharren der Füsse.
Es ist herrlich, einfach wunderbar. Die Müdigkeit ist wie weggeblasen, das Adrenalin zirkuliert und ich freue mich an diesem Lauf und auf die nächsten Stunden. Das 15km Schild wird passiert, erstaunt nehme ich hin, daß ich trotz der längeren Wanderung an der Steigung für die letzten 10km nur 1:07h gebraucht habe, das ist wohl schneller als 36min auf 5km. Plötzlich wird es etwas hektisch, in kurzer Folge überholen uns die schnellen Halbmarathon- und Marathonläufer, die eine halbe Stunde nach uns gestartet sind. Während die jeweils Führenden noch ein „Platz da“ rufendes Mountainbike zur Unterstützung haben, wedeln die späteren schnellen Hirsche im Slalom durch das noch immer sehr enge Feld. Spaß kann das doch eigentlich nicht machen. Später kommen noch die Staffettenläufer, die um 23:00 Uhr gestartet sind. Wenigstens der Spuk mit den Halbmarathonis ist ja bald vorbei.
In Aarberg laufen wir auf eine wunderschöne überdachte Holzbrücke zu Die Gelegenheit zu einem Foto lasse ich mir nicht nehmen, auch wenn ich dafür kurz stehen bleiben muß. Am Ende der Brücke werden wir dann selbst fotografiert, ich werde dabei erwischt, wie ich meine Kamera gerade wieder in meiner Hüfttasche verstaue. In Aarberg ist großer Bahnhof mit Verpflegungsstation. Für uns geht es links weiter, rechts laufen die Halbmarathonis ins Ziel und frische Staffelläufer übernehmen den Stab. Bald darauf erreichen wir schon km 20, weniger als 34min habe ich für diesen Abschnitt gebraucht. Ganz langsam erscheint am dunklen Horizont die Zahl 11, gaanz langsam, es ist noch weit.
Irgendwann auf diesem Streckenabschnitt ist es dann mit dem beschaulichen Füssescharren vorbei. Wir laufen durch eine Herde von Fahrradfahrern, den Velo-Coaches, die auf ihre Läufer warten, um sie ab hier zu begleiten. Gute Güte, sind das viele. Und ich lerne die Kritiker dieser Fahrradbegleiter in den nächsten Stunden verstehen. Sie stören einfach, einige haben nervige rote Blinkleuchten, zum Glück nur wenige ganz furchtbare, dafür aber laute Musik und die meisten blockieren den Laufweg oder zischen unvermutet an einem vorbei. Schön ist das nicht. Ganz deutlich verliert der meditative Charakter, den der Lauf ohne diese Velos hätte.
Über den Lauf gibt es in dieser Phase nicht viel zu berichten. Es ist dunkel, ich laufe halt einfach immer locker weiter, kontrolliere meine HF und gehe größere Anstiege zügig hoch. Zwischendurch an den Verpflegungsstellen herrscht immer noch eifriges Gedrängel in 2er und 3er Reihen. Aber es gibt alles, was man braucht. Ich ergänze meine Gels immer mit einem Stück Brot und Banane, trinke Iso, Wasser und Bouillon und gehe dabei ein paar Schritte. Bei km 30 denke ich: Mann, so frisch habe ich mich noch nie nach 30km gefühlt. Bei km 35 denke ich: Mann, so frisch habe ich mich.... ja genau. Die Zeit vertreibe ich mir mit allerlei Gedanken, ich habe ja Zeit und anstrengend ist es irgendwie auch nicht. Zwischendurch versuche ich natürlich immer, meine Endzeit abzuschätzen. Ein lächerliches Unterfangen zu diesem Zeitpunkt, aber ich habe ja sonst nichts zu tun außer laufen. Und da sich die 5km-Abschnitte alle im Bereich von 33-36min befinden leuchtet die 11 am dunklen Horizont jetzt doch langsam etwas heller. Aber es ist noch weit.
In Oberramsern, bei km 38,5 passiert endlich wieder was. Die Marathonis, die in Biel eine zusätzliche Schleife gedreht haben, laufen hier ins Ziel, von jetzt an erfolgen schnelle Überholmanöver nur noch durch die Staffelläufer. Außerdem piepst zum ersten Mal eine Matte unter unseren Füssen, man könnte jetzt mit Teilwertung aussteigen, aber so frisch......
Wir laufen weiter durch dunklen Wald und verschlafene Dörfer, ab und zu eine Feier vor einer Kneipe. Km 40, es ist jetzt 2:30 Uhr nachts und ich bin gegen alle vorherigen Befürchtungen hellwach, geniesse meinen Lauf, freue mich auf meine Wechselklamotten bei km 56 in Kirchberg. Völlig unspektakulär absolviere ich die Marathondistanz, kein Schild weist darauf hin. Nur kurz schreckt mich der Gedanke, daß noch nicht einmal die Hälfte geschafft ist. Ich fühle mich immer noch frisch und unangestrengt, laufe wie eine Maschine, überhole ständig andere Läufer, werde selbst nur selten überholt, Fast ist mir ein wenig unheimlich. Es geht jetzt wieder ordentlich bergauf, das 45km-Schild verpasse ich wieder und kann daher das 50km-Schild kaum erwarten. Knapp 37min habe ich für die beiden letzten 5km-Abschnitte im Schnitt gebraucht, das ist okay. Viel mehr freut mich meine Zwischenzeit zur Halbzeit: 5:46:53, da ist doch jetzt Luft auf die 12h. Wenn man das einfach verdoppeln würde, wäre ich sogar bei knapp 11,5h, aber die zweite Hälfte wird sicher schwieriger.
Bis Kirchberg geht es wohl leicht bergab, denn für die nächsten 5km benötige ich keine 32min. Ich bin jetzt fast 6:20h unterwegs, unglaublich. Zeitlich habe ich damit den 6h-Lauf in Troisdorf überholt und auch mein persönlicher Streckenrekord ist nicht mehr fern. Es ist jetzt 4:20 Uhr und ganz zaghaft beginnt es zu dämmern. Etwas zu zaghaft für meinen Geschmack, denn nach Kirchberg soll der berüchtigte Emmendamm kommen und ich dachte eigentlich, da sei es schon hell und ich könnte meine Stirnlampe in Kirchberg lassen. Aber ich freue mich auf ein trockenes T-Shirt, eine neue Weste und einen trockenen Buff, die Zeit fürs Umziehen will ich mir nehmen.
In Kirchberg wieder über eine Zeitmessmatte und dann erst einmal verpflegen. Das letzte Gel und das Standardprogramm, mittlerweile hat sich das Feld auch stark genug auseinandergezogen, man kann recht frei zugreifen. Dann die Suche nach den Wechselklamotten. „Wo finde ich denn..?“ Fragende Gesichter, zuckende Schultern. „Vielleicht hinten am Sanizelt“. Also ein paar Meter weiter, da ist kein Zelt, nur ein Krankenwagen und ein Streckenposten, der mir den Weg nach links durch eine Unterführung weist. Ja Schxxx drauf, zurück laufe ich nicht mehr und suche mich blöd. Außerdem: ich kann eh´ keine Gels mehr sehen, spare ich die paar Minuten halt ein.
Nach ein paar hundert Metern geht es dann auf den Emmendamm, den sogenannten Ho-Tschi-Min-Pfad. Die schwache Dämmerung wird von Bäumen abgeschirmt. Was bin ich froh, daß ich in Kirchberg nicht in Versuchung gekommen bin, die Stirnlampe abzugeben. Die Läufer ohne Lampe, die tasten sich rechts vorwärts, über vorstehende Wurzeln und über Steine, von denen nicht wenige rund und glatt sind. Ein Vorteil des Weges: die nervigen Fahrradbegleiter sind hier verboten, wir Läufer sind wieder unter uns. Links rauscht mit Macht die Emme, die Vögel zwitschern dem erwachenden Morgen entgegen. Es könnte hier noch viel schöner sein, wenn man sich nicht auf jeden seiner Schritte so hochangestrengt konzentrieren müßte, um nicht umzuknicken, zu stolpern oder auszurutschen. Obwohl ich auch hier viel überhole, bin ich dann doch erleichtert, als wir irgendwann abbiegen und auf einem normalen Weg weiterlaufen können. Nach der Verpflegungsstelle dann die normale kurze Gehpause zum Essen und Trinken und dann ist es wirklich hell genug, um kurz stehen zu bleiben und die Stirnlampe einzupacken. Platz genug ist in der Hüfttasche, außer der Kamera und ein paar Tempos ist sie schließlich entgegen meinen Planungen leer.
Weiter geht es, der letzte 5km-Abschnitt auf dem Emmendamm (60) war in 35min absolviert, jetzt kann man wieder laufen und ich überhole lustig weiter. Und sehen kann man endlich etwas von der Landschaft, neue Eindrücke sammeln, die Gedanken kreisen nicht mehr nur um sich selbst. Ich erlaube mir nun einen Puls von 139-141 (75% der Hfmax). Schon ist km 65 erreicht, meine Uhr zeigt mir 29:20min für die letzte 5km-Runde an. Getrübt wird meine Freude darüber durch großen Trubel, die Fahrradbegleiter dürfen wieder auf die Strecke. „Die habe ich ja nun überhaupt nicht vermißt“ rutscht es mir heraus. Mein Nebenmann reagiert nicht. Vielleicht hat er mich nicht verstanden, vielleicht sucht er auch konzentriert seinen Velo-Coach.
Kurz danach der nächste Verpflegungspunkt, nachdem es über die Emme geht. Soeben habe ich Detlef Ackermann von Laufen-in-Köln.de überholt, was mich erst irritiert und dann doch mit etwas Stolz erfüllt, immerhin ein sehr bekannter Ultraläufer. Nach einem Stück Wald geht es auf asphaltierter Strasse immer leicht ansteigend weiter.
Kilometer 70
In zwei Dingen ein Einschnitt für mich. Zum einen merke ich, daß mir der Schotterweg auf dem Emmendamm doch ganz schön in die Beine gegangen ist, vielleicht ist es aber auch nur die normale Ermüdung, doch hier ist es erstmals mit dem gemütlichen Joggen vorbei. Es wird anstrengend und auch mental steigt die Anforderung, nicht bei jedem kleinen Hügel in den Gehschritt zu verfallen, sondern „locker“ weiterzulaufen, wenn der Puls dabei nicht über 141 ansteigt. Zum anderen aber habe ich bis hier fast genau 8h gebraucht und es sind nur noch 30km. Bis 12h wären es noch 4h für 30km, so langsam kann ich nicht mehr werden, dazu geht es mir noch zu gut. Ab jetzt wird nach jedem Abschnitt eine neue Marke zu errechnen versucht: Reicht es vielleicht für 11:30h? Die Strasse zieht sich weiter leicht bergauf, viele gehen hier, ich laufe. Nicht mehr locker, wirklich nicht, aber ich laufe.
Kilometer 75
Keine 30min für die letzten 5km?! Verpflegungsstelle und dritte Zeitmessmatte in Bibern. Vom Streckenprofil her weiß ich: Jetzt kommt der letzte heftige Anstieg und dann geht es eine ganze Weile bergab, da kann man es wieder rollen lassen. Die Strasse schraubt sich nach oben, ich gehe langsam, Gelegenheit die Kamera hervorzukramen und ein paar Bilder zu machen. Dann geht es bergab. Und wie. Ich versuche zwar es rollen zu lassen, ziehe aber leicht die Bremse als ich merke, daß dieses Gefälle meinen Muskeln und Knien nicht sehr gut tut. Igendwie muss ich ja auch noch den Rest der Strecke bewältigen.
Kilometer 80
Durch die Steigung von Bibern ein 36:30er Abschnitt, immer noch okay, weiter geht die gebremste Schussfahrt bis zur nächsten Verpflegungsstelle. Kurze Gehpause zum Essen und Trinken, weiter geht es. Die Strecke führt nun flach auf einem Feldweg entlang der Aare. Lange, sehr lange. Rechts der Fluß, links Felder. Schön eigentlich. Nur mit dem Geniessen, das ist nun definitiv vorbei. Nach der steilen Abfahrt ist es soweit: Die Beine wollen nicht mehr. Bei jedem Schritt signalisieren sie: Du mußt gehen, wir können nicht mehr. Nur kurz gehen. Ist dies der Moment wo es bei den Ultraläufern heißt: Ab jetzt läuft man nur noch mit dem Kopf? Vermutlich. Schön, daß mein Kopf das weiß. Weiter. Was für ein wunderbares Wort. Weiter. So zielgerichtet und klar. Wei-ter, zwei Silben: wei ter, für jedes Bein eine Silbe. wei-links ter-rechts. „Nur eine kurze Gehpause, die anderen gehen doch auch.“ Wei ter. Ich habe mein Mantra gefunden. Wei ter. Der Puls ist konstant bei 140, ich stakse konstant immer wei ter, blicke immer wieder zur Uhr, rechne. Wann kommt endlich km 85? Klappt es mit 11:30? Wei ter. Die Geher überholen. Blick zur Uhr. Keine zwei Minuten vergangen. Wie oft schaue ich noch auf die Uhr, wenn ich es in 11:30h schaffe? Unvorstellbar große Zahl! Die Zeit dehnt sich. Wei ter.
Kilometer 85
Endlich, 15 bis zum Finish, die letzten 5km in 31min, wow. Es geht doch ihr Beine. Lauft. Wei ter. Bis hier habe ich keine 9:40h gebraucht, nur noch 15km. Das ist eine Brückenrunde, das müßte ich doch kriechend in 1:50h schaffen, lächerlich. Wei ter. Wir gehen an der nächsten Verpflegungsstelle, versprochen. Wei ter.
Verpflegungsstelle in Büren. Km 87 steht auf dem Schild. Erst? Oje. Endlich gehen. Eine schöne überdachte Holzbrücke über die Aare, komm, nur ein Foto, kurze Pause, na gut. Noch ein Stück gehen. Den günstigen Moment fürs Anlaufens abpassen. Es geht leicht bergab, los. Über eine Brücke, jetzt ist der Fluß links. Rechts eine Gärtnerei, wei ter. Linkskurve, Feldweg.
Kilometer 90
Und wieder ändert sich etwas, und das liegt nicht daran, daß ich für die letzten 5km nur 33min gebraucht habe. Irgendetwas macht klick. Und zwar direkt nach dem 90km-Schild. Jetzt sind es nur noch 9,x Kilometer, einstellig. Von irgendwo kommt ein Schub. Jetzt brauche ich kein Mantra mehr. Jetzt weiß mein Körper, wissen vor allem auch meine Beine, daß sie diese lächerlich Reststrecke irgendwie durchlaufen werden. Es geht um eine Linkskurve und ich traue meinen Augen nicht. Da hinten geht es schon wieder aufwärts. Egal, jetzt hält mich nix mehr auf. 10:12h stehen auf meiner Uhr, nur noch eine kleine Brückenrunde, viel mehr als 1:10 kann ich dafür nicht mehr brauchen. Es ist anstrengend, aber es ist gut. Die Steigung gehe ich wieder zügig hinauf, auf der anderen Seite eine Verpflegungsstelle, 94km steht auf dem Schild. Essen will ich jetzt nicht mehr . Ein Becher Iso, einer mit Cola im Gehen getrunken. Ein Läufer neben mir sieht mich an. „Nur noch 6km, das wird eine klasse Zeit, selbst wenn wir den Rest gehen!“ sage ich. Er lächelt. „Aber wir werden nicht gehen“ füge ich grinsend hinzu und lasse mich wieder in den Trab fallen. Er läuft auch los.
Kilometer 95
Ab jetzt wird jeder Kilometer einzeln angezeigt. Meine Uhr sagt 10:45h, ich werde unter 11:20h bleiben, da bin ich jetzt sicher. Glücksgefühle trotz der Anstrengung, Tränen schiessen mir in die Augen. Der Weg ist weiterhin recht wellig, aber das ist jetzt drissunejal. Weiterkämpfen. 96 in 6:23min, 97 in 6:09min, haha. Schon wieder Verpflegung. Jetzt noch? Ich bin schon fast vorbei, grapsche dann doch noch einen Becher Cola und schütte ihn mir laufend herein. Wieder hoch. 98 in 6:59min, egal. Ich krame im Laufen meine Kamera heraus. Bergab, Rechtskurve unter einer Brücke durch. Kurzer Stopp für das Foto des 99km-Schild, weiter, es in 6:04min passieren. Flaggen sind über die Strecke gespannt, die irgendwie durch eine Baustelle führt. Dann Zuschauer, Spaliere, der Sprecher im Ziel. Ich bin überwältigt, was ein Gefühl. Rechtskurve, jubelnde Menschen, dort ist das Ziel. Mein Name wird verkündet, aber ich stoppe für ein letztes Foto des Ziels mit der Uhr. Kurzes Zögern des Sprechers, dann ein „oh, ein Profi“.
Ich renne los, reisse die Arme hoch, die Uhr über der Ziellinie zeigt unglaubliche 11:16:xx. Ich jubele und schluchze gleichzeitig, unmöglich, dieses Gefühl zu beschreiben, als ich über diese Matte lauf. Geschafft!
Danke für´s Durchhalten
Hier noch etwas Statistik der Durchgangszeiten:
Km 38,5 4:23:03, Platz 1300
Km 56,1 6:25:46, Platz 1036
Km 76,6 8:43:58, Platz 810
Ziel 11:16:51, Platz 678, Durchschnitt 6:46min/km
Scheinbar habe ich mir das ganz gut eingeteiltJ
Die Halle leert sich. Ich bleibe sitzen auf meiner Zuschauerbank im Bieler Eisstadion, schaue auf die Großbildleinwand ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Viele Läufer haben noch einiges zu erledigen. Umziehen, Klamotten abgeben. Ich habe alles erledigt, ich bin bereit. Bin ich das wirklich?
Ich bin vor allem müde. Die letzte Nacht im Hotel habe ich so gut wie nicht geschlafen. Spät hat sie mich erwischt, die Nervosität vor meinem ersten Bieler 100er, sehr spät. Gestern abend eben, als ich eigentlich schlafen wollte. Auch heute nachmittag war es nicht mehr als ein Ausruhen im Hotel. Das Hotel. In einer viertel Stunde könnte ich dort sein, ein Bier an der Bar trinken und das nächste EM-Spiel ansehen. Natürlich werde ich das nicht tun, aber der Gedanke ist da. 100km. Ich kann nicht fassen, daß ich wirklich hier sitze.
Die Zeit verrinnt, vermutlich läuft auf der Leinwand schon Holland-Frankreich, doch ich starre ins Leere. 20min noch, einmal auf die Toilette, dann trotte ich zum Start. Die Apathie weicht nur langsam der Vorfreude. Dann ist sie plötzlich da.
Vergiß die Müdigkeit, Du hast gut trainiert, es ist Dein Wetter. 12°C ist es jetzt; der Sprecher informiert uns, daß es die Nacht bis auf 6°C abkühlen wird aber vor allem: Trocken soll es bleiben, eine wohltuende Aussicht nach den heftigen Schauern und Platzregen der vergangenen Nacht.
Um mich herum gespannte Nervosität, Schulterklopfen, Lächeln. Alle Ansagen des Sprechers in deutsch und in französisch, und er hat viel zu erzählen der Mann. Dann ist es endlich soweit. Der Start und langsam setzt sich die Masse in Bewegung. Ich bewege mich mit. Nach etwas 1,5min bin ich über die Startlinie. Langsam. Links und rechts werde ich überholt. Langsam. Mangels Erfahrung hatte ich mir vorgenommen, strikt nach Puls zu laufen, erst einmal mit maximal 134, also knapp 72% meiner Hfmax, egal welche km-Schnitte sich daraus ergeben würden.
Die ersten Kilometer gehen durch Biel und sind einzeln markiert. Die Stimmung ist gut, bei den Zuschauern und bei den Läufern. Viele ermahnen sich zu einem langsamen Tempo, einige preschen durch das noch dicht gedrängte Feld. Meine Stirnlampe ist noch aus, die Strassen sind hell erleuchtet. Immer wieder kontrolliere ich meine HF, bremse wenn nötig etwas ab. Nach dem Trubel mitten in der Innenstadt wird es wieder etwas ruhiger und schon sind 5km um. Brutto habe ich dafür knapp 34min gebraucht. Eine Zeit ohne grossen Wert, es ist noch weit. Eine Zahl habe ich mir im Vorfeld eingeprägt: 36min. Wenn man alle 5km-Abschnitte in 36min läuft, dann sind das genau 12 Stunden für die gesamte Strecke. Eine gute Orientierung, mehr nicht.
Kaum aus Biel heraus geht es über einen Kanal und schon kommt die erste kräftige Steigung. Sofort verfall ich, dem Beispiel vieler Läufer folgend, in einen zügigen Gehschritt. Immer schön den Puls unten halten. Es geht lange bergauf und gehend überhole ich einige, die hier laufen und schon leicht keuchen. Es ist noch weit. Bergab lasse ich es rollen und schon kommt eine Verpflegungsstation in Sicht. Was für ein Chaos. Gedrängle, Geschubse. Ich greife mir einen Becher Iso und spüle damit mein erstes Gel hinunter, schlucke einen Becher Wasser hinterher und laufe weiter. Ich habe reichlich für alle 10km Gel dabei für die erste Hälfte und im Rucksack, den ich bis Kirchberg habe bringen lassen, warten trockene Sachen und die Gels für die zweite Streckenhälfte auf mich.
Das 10km-Schild habe ich wohl übersehen, auf Feldwegen geht es weiter durch die Nacht. Zeit meine Stirnlampe einzuschalten. Für das noch sehr enge Feld ist der Weg recht schmal, zumal viel nebeneinander gelaufen wird. Gelegtnlich ergeben sich Lücken, durch die ich überholen kann. Ja, tatsächlich, mein Puls pendelt bei 133/134 und es läuft wunderbar. Es ist jetzt richtig dunkel hier draussen, nur der Lichtkegel meiner Lampe und die Lichter anderer Läufer sind zu sehen. Zu hören gibt es nur das rhythmische hundertfache Scharren der Füsse.
Es ist herrlich, einfach wunderbar. Die Müdigkeit ist wie weggeblasen, das Adrenalin zirkuliert und ich freue mich an diesem Lauf und auf die nächsten Stunden. Das 15km Schild wird passiert, erstaunt nehme ich hin, daß ich trotz der längeren Wanderung an der Steigung für die letzten 10km nur 1:07h gebraucht habe, das ist wohl schneller als 36min auf 5km. Plötzlich wird es etwas hektisch, in kurzer Folge überholen uns die schnellen Halbmarathon- und Marathonläufer, die eine halbe Stunde nach uns gestartet sind. Während die jeweils Führenden noch ein „Platz da“ rufendes Mountainbike zur Unterstützung haben, wedeln die späteren schnellen Hirsche im Slalom durch das noch immer sehr enge Feld. Spaß kann das doch eigentlich nicht machen. Später kommen noch die Staffettenläufer, die um 23:00 Uhr gestartet sind. Wenigstens der Spuk mit den Halbmarathonis ist ja bald vorbei.
In Aarberg laufen wir auf eine wunderschöne überdachte Holzbrücke zu Die Gelegenheit zu einem Foto lasse ich mir nicht nehmen, auch wenn ich dafür kurz stehen bleiben muß. Am Ende der Brücke werden wir dann selbst fotografiert, ich werde dabei erwischt, wie ich meine Kamera gerade wieder in meiner Hüfttasche verstaue. In Aarberg ist großer Bahnhof mit Verpflegungsstation. Für uns geht es links weiter, rechts laufen die Halbmarathonis ins Ziel und frische Staffelläufer übernehmen den Stab. Bald darauf erreichen wir schon km 20, weniger als 34min habe ich für diesen Abschnitt gebraucht. Ganz langsam erscheint am dunklen Horizont die Zahl 11, gaanz langsam, es ist noch weit.
Irgendwann auf diesem Streckenabschnitt ist es dann mit dem beschaulichen Füssescharren vorbei. Wir laufen durch eine Herde von Fahrradfahrern, den Velo-Coaches, die auf ihre Läufer warten, um sie ab hier zu begleiten. Gute Güte, sind das viele. Und ich lerne die Kritiker dieser Fahrradbegleiter in den nächsten Stunden verstehen. Sie stören einfach, einige haben nervige rote Blinkleuchten, zum Glück nur wenige ganz furchtbare, dafür aber laute Musik und die meisten blockieren den Laufweg oder zischen unvermutet an einem vorbei. Schön ist das nicht. Ganz deutlich verliert der meditative Charakter, den der Lauf ohne diese Velos hätte.
Über den Lauf gibt es in dieser Phase nicht viel zu berichten. Es ist dunkel, ich laufe halt einfach immer locker weiter, kontrolliere meine HF und gehe größere Anstiege zügig hoch. Zwischendurch an den Verpflegungsstellen herrscht immer noch eifriges Gedrängel in 2er und 3er Reihen. Aber es gibt alles, was man braucht. Ich ergänze meine Gels immer mit einem Stück Brot und Banane, trinke Iso, Wasser und Bouillon und gehe dabei ein paar Schritte. Bei km 30 denke ich: Mann, so frisch habe ich mich noch nie nach 30km gefühlt. Bei km 35 denke ich: Mann, so frisch habe ich mich.... ja genau. Die Zeit vertreibe ich mir mit allerlei Gedanken, ich habe ja Zeit und anstrengend ist es irgendwie auch nicht. Zwischendurch versuche ich natürlich immer, meine Endzeit abzuschätzen. Ein lächerliches Unterfangen zu diesem Zeitpunkt, aber ich habe ja sonst nichts zu tun außer laufen. Und da sich die 5km-Abschnitte alle im Bereich von 33-36min befinden leuchtet die 11 am dunklen Horizont jetzt doch langsam etwas heller. Aber es ist noch weit.
In Oberramsern, bei km 38,5 passiert endlich wieder was. Die Marathonis, die in Biel eine zusätzliche Schleife gedreht haben, laufen hier ins Ziel, von jetzt an erfolgen schnelle Überholmanöver nur noch durch die Staffelläufer. Außerdem piepst zum ersten Mal eine Matte unter unseren Füssen, man könnte jetzt mit Teilwertung aussteigen, aber so frisch......
Wir laufen weiter durch dunklen Wald und verschlafene Dörfer, ab und zu eine Feier vor einer Kneipe. Km 40, es ist jetzt 2:30 Uhr nachts und ich bin gegen alle vorherigen Befürchtungen hellwach, geniesse meinen Lauf, freue mich auf meine Wechselklamotten bei km 56 in Kirchberg. Völlig unspektakulär absolviere ich die Marathondistanz, kein Schild weist darauf hin. Nur kurz schreckt mich der Gedanke, daß noch nicht einmal die Hälfte geschafft ist. Ich fühle mich immer noch frisch und unangestrengt, laufe wie eine Maschine, überhole ständig andere Läufer, werde selbst nur selten überholt, Fast ist mir ein wenig unheimlich. Es geht jetzt wieder ordentlich bergauf, das 45km-Schild verpasse ich wieder und kann daher das 50km-Schild kaum erwarten. Knapp 37min habe ich für die beiden letzten 5km-Abschnitte im Schnitt gebraucht, das ist okay. Viel mehr freut mich meine Zwischenzeit zur Halbzeit: 5:46:53, da ist doch jetzt Luft auf die 12h. Wenn man das einfach verdoppeln würde, wäre ich sogar bei knapp 11,5h, aber die zweite Hälfte wird sicher schwieriger.
Bis Kirchberg geht es wohl leicht bergab, denn für die nächsten 5km benötige ich keine 32min. Ich bin jetzt fast 6:20h unterwegs, unglaublich. Zeitlich habe ich damit den 6h-Lauf in Troisdorf überholt und auch mein persönlicher Streckenrekord ist nicht mehr fern. Es ist jetzt 4:20 Uhr und ganz zaghaft beginnt es zu dämmern. Etwas zu zaghaft für meinen Geschmack, denn nach Kirchberg soll der berüchtigte Emmendamm kommen und ich dachte eigentlich, da sei es schon hell und ich könnte meine Stirnlampe in Kirchberg lassen. Aber ich freue mich auf ein trockenes T-Shirt, eine neue Weste und einen trockenen Buff, die Zeit fürs Umziehen will ich mir nehmen.
In Kirchberg wieder über eine Zeitmessmatte und dann erst einmal verpflegen. Das letzte Gel und das Standardprogramm, mittlerweile hat sich das Feld auch stark genug auseinandergezogen, man kann recht frei zugreifen. Dann die Suche nach den Wechselklamotten. „Wo finde ich denn..?“ Fragende Gesichter, zuckende Schultern. „Vielleicht hinten am Sanizelt“. Also ein paar Meter weiter, da ist kein Zelt, nur ein Krankenwagen und ein Streckenposten, der mir den Weg nach links durch eine Unterführung weist. Ja Schxxx drauf, zurück laufe ich nicht mehr und suche mich blöd. Außerdem: ich kann eh´ keine Gels mehr sehen, spare ich die paar Minuten halt ein.
Nach ein paar hundert Metern geht es dann auf den Emmendamm, den sogenannten Ho-Tschi-Min-Pfad. Die schwache Dämmerung wird von Bäumen abgeschirmt. Was bin ich froh, daß ich in Kirchberg nicht in Versuchung gekommen bin, die Stirnlampe abzugeben. Die Läufer ohne Lampe, die tasten sich rechts vorwärts, über vorstehende Wurzeln und über Steine, von denen nicht wenige rund und glatt sind. Ein Vorteil des Weges: die nervigen Fahrradbegleiter sind hier verboten, wir Läufer sind wieder unter uns. Links rauscht mit Macht die Emme, die Vögel zwitschern dem erwachenden Morgen entgegen. Es könnte hier noch viel schöner sein, wenn man sich nicht auf jeden seiner Schritte so hochangestrengt konzentrieren müßte, um nicht umzuknicken, zu stolpern oder auszurutschen. Obwohl ich auch hier viel überhole, bin ich dann doch erleichtert, als wir irgendwann abbiegen und auf einem normalen Weg weiterlaufen können. Nach der Verpflegungsstelle dann die normale kurze Gehpause zum Essen und Trinken und dann ist es wirklich hell genug, um kurz stehen zu bleiben und die Stirnlampe einzupacken. Platz genug ist in der Hüfttasche, außer der Kamera und ein paar Tempos ist sie schließlich entgegen meinen Planungen leer.
Weiter geht es, der letzte 5km-Abschnitt auf dem Emmendamm (60) war in 35min absolviert, jetzt kann man wieder laufen und ich überhole lustig weiter. Und sehen kann man endlich etwas von der Landschaft, neue Eindrücke sammeln, die Gedanken kreisen nicht mehr nur um sich selbst. Ich erlaube mir nun einen Puls von 139-141 (75% der Hfmax). Schon ist km 65 erreicht, meine Uhr zeigt mir 29:20min für die letzte 5km-Runde an. Getrübt wird meine Freude darüber durch großen Trubel, die Fahrradbegleiter dürfen wieder auf die Strecke. „Die habe ich ja nun überhaupt nicht vermißt“ rutscht es mir heraus. Mein Nebenmann reagiert nicht. Vielleicht hat er mich nicht verstanden, vielleicht sucht er auch konzentriert seinen Velo-Coach.
Kurz danach der nächste Verpflegungspunkt, nachdem es über die Emme geht. Soeben habe ich Detlef Ackermann von Laufen-in-Köln.de überholt, was mich erst irritiert und dann doch mit etwas Stolz erfüllt, immerhin ein sehr bekannter Ultraläufer. Nach einem Stück Wald geht es auf asphaltierter Strasse immer leicht ansteigend weiter.
Kilometer 70
In zwei Dingen ein Einschnitt für mich. Zum einen merke ich, daß mir der Schotterweg auf dem Emmendamm doch ganz schön in die Beine gegangen ist, vielleicht ist es aber auch nur die normale Ermüdung, doch hier ist es erstmals mit dem gemütlichen Joggen vorbei. Es wird anstrengend und auch mental steigt die Anforderung, nicht bei jedem kleinen Hügel in den Gehschritt zu verfallen, sondern „locker“ weiterzulaufen, wenn der Puls dabei nicht über 141 ansteigt. Zum anderen aber habe ich bis hier fast genau 8h gebraucht und es sind nur noch 30km. Bis 12h wären es noch 4h für 30km, so langsam kann ich nicht mehr werden, dazu geht es mir noch zu gut. Ab jetzt wird nach jedem Abschnitt eine neue Marke zu errechnen versucht: Reicht es vielleicht für 11:30h? Die Strasse zieht sich weiter leicht bergauf, viele gehen hier, ich laufe. Nicht mehr locker, wirklich nicht, aber ich laufe.
Kilometer 75
Keine 30min für die letzten 5km?! Verpflegungsstelle und dritte Zeitmessmatte in Bibern. Vom Streckenprofil her weiß ich: Jetzt kommt der letzte heftige Anstieg und dann geht es eine ganze Weile bergab, da kann man es wieder rollen lassen. Die Strasse schraubt sich nach oben, ich gehe langsam, Gelegenheit die Kamera hervorzukramen und ein paar Bilder zu machen. Dann geht es bergab. Und wie. Ich versuche zwar es rollen zu lassen, ziehe aber leicht die Bremse als ich merke, daß dieses Gefälle meinen Muskeln und Knien nicht sehr gut tut. Igendwie muss ich ja auch noch den Rest der Strecke bewältigen.
Kilometer 80
Durch die Steigung von Bibern ein 36:30er Abschnitt, immer noch okay, weiter geht die gebremste Schussfahrt bis zur nächsten Verpflegungsstelle. Kurze Gehpause zum Essen und Trinken, weiter geht es. Die Strecke führt nun flach auf einem Feldweg entlang der Aare. Lange, sehr lange. Rechts der Fluß, links Felder. Schön eigentlich. Nur mit dem Geniessen, das ist nun definitiv vorbei. Nach der steilen Abfahrt ist es soweit: Die Beine wollen nicht mehr. Bei jedem Schritt signalisieren sie: Du mußt gehen, wir können nicht mehr. Nur kurz gehen. Ist dies der Moment wo es bei den Ultraläufern heißt: Ab jetzt läuft man nur noch mit dem Kopf? Vermutlich. Schön, daß mein Kopf das weiß. Weiter. Was für ein wunderbares Wort. Weiter. So zielgerichtet und klar. Wei-ter, zwei Silben: wei ter, für jedes Bein eine Silbe. wei-links ter-rechts. „Nur eine kurze Gehpause, die anderen gehen doch auch.“ Wei ter. Ich habe mein Mantra gefunden. Wei ter. Der Puls ist konstant bei 140, ich stakse konstant immer wei ter, blicke immer wieder zur Uhr, rechne. Wann kommt endlich km 85? Klappt es mit 11:30? Wei ter. Die Geher überholen. Blick zur Uhr. Keine zwei Minuten vergangen. Wie oft schaue ich noch auf die Uhr, wenn ich es in 11:30h schaffe? Unvorstellbar große Zahl! Die Zeit dehnt sich. Wei ter.
Kilometer 85
Endlich, 15 bis zum Finish, die letzten 5km in 31min, wow. Es geht doch ihr Beine. Lauft. Wei ter. Bis hier habe ich keine 9:40h gebraucht, nur noch 15km. Das ist eine Brückenrunde, das müßte ich doch kriechend in 1:50h schaffen, lächerlich. Wei ter. Wir gehen an der nächsten Verpflegungsstelle, versprochen. Wei ter.
Verpflegungsstelle in Büren. Km 87 steht auf dem Schild. Erst? Oje. Endlich gehen. Eine schöne überdachte Holzbrücke über die Aare, komm, nur ein Foto, kurze Pause, na gut. Noch ein Stück gehen. Den günstigen Moment fürs Anlaufens abpassen. Es geht leicht bergab, los. Über eine Brücke, jetzt ist der Fluß links. Rechts eine Gärtnerei, wei ter. Linkskurve, Feldweg.
Kilometer 90
Und wieder ändert sich etwas, und das liegt nicht daran, daß ich für die letzten 5km nur 33min gebraucht habe. Irgendetwas macht klick. Und zwar direkt nach dem 90km-Schild. Jetzt sind es nur noch 9,x Kilometer, einstellig. Von irgendwo kommt ein Schub. Jetzt brauche ich kein Mantra mehr. Jetzt weiß mein Körper, wissen vor allem auch meine Beine, daß sie diese lächerlich Reststrecke irgendwie durchlaufen werden. Es geht um eine Linkskurve und ich traue meinen Augen nicht. Da hinten geht es schon wieder aufwärts. Egal, jetzt hält mich nix mehr auf. 10:12h stehen auf meiner Uhr, nur noch eine kleine Brückenrunde, viel mehr als 1:10 kann ich dafür nicht mehr brauchen. Es ist anstrengend, aber es ist gut. Die Steigung gehe ich wieder zügig hinauf, auf der anderen Seite eine Verpflegungsstelle, 94km steht auf dem Schild. Essen will ich jetzt nicht mehr . Ein Becher Iso, einer mit Cola im Gehen getrunken. Ein Läufer neben mir sieht mich an. „Nur noch 6km, das wird eine klasse Zeit, selbst wenn wir den Rest gehen!“ sage ich. Er lächelt. „Aber wir werden nicht gehen“ füge ich grinsend hinzu und lasse mich wieder in den Trab fallen. Er läuft auch los.
Kilometer 95
Ab jetzt wird jeder Kilometer einzeln angezeigt. Meine Uhr sagt 10:45h, ich werde unter 11:20h bleiben, da bin ich jetzt sicher. Glücksgefühle trotz der Anstrengung, Tränen schiessen mir in die Augen. Der Weg ist weiterhin recht wellig, aber das ist jetzt drissunejal. Weiterkämpfen. 96 in 6:23min, 97 in 6:09min, haha. Schon wieder Verpflegung. Jetzt noch? Ich bin schon fast vorbei, grapsche dann doch noch einen Becher Cola und schütte ihn mir laufend herein. Wieder hoch. 98 in 6:59min, egal. Ich krame im Laufen meine Kamera heraus. Bergab, Rechtskurve unter einer Brücke durch. Kurzer Stopp für das Foto des 99km-Schild, weiter, es in 6:04min passieren. Flaggen sind über die Strecke gespannt, die irgendwie durch eine Baustelle führt. Dann Zuschauer, Spaliere, der Sprecher im Ziel. Ich bin überwältigt, was ein Gefühl. Rechtskurve, jubelnde Menschen, dort ist das Ziel. Mein Name wird verkündet, aber ich stoppe für ein letztes Foto des Ziels mit der Uhr. Kurzes Zögern des Sprechers, dann ein „oh, ein Profi“.
Ich renne los, reisse die Arme hoch, die Uhr über der Ziellinie zeigt unglaubliche 11:16:xx. Ich jubele und schluchze gleichzeitig, unmöglich, dieses Gefühl zu beschreiben, als ich über diese Matte lauf. Geschafft!
Danke für´s Durchhalten
Hier noch etwas Statistik der Durchgangszeiten:
Km 38,5 4:23:03, Platz 1300
Km 56,1 6:25:46, Platz 1036
Km 76,6 8:43:58, Platz 810
Ziel 11:16:51, Platz 678, Durchschnitt 6:46min/km
Scheinbar habe ich mir das ganz gut eingeteiltJ