Try running in my shoes
Verfasst: 22.10.2009, 17:10
Ein Monat ohne Wettkampf ist möglich, aber sinnlos. Dröge gähnt mich die Sporttasche in der Abstellkammer an. Werde hier noch laufwahnsinnig. Vor lauter Langeweile hopse ich morgens aus der U-Bahn und renne zur Arbeit. Abends das Gleiche, nur umgekehrt. Morgens ist das Spreeufer noch tourifrei und vermüllt. Abends laufe ich American Football, ohne Körperschutz. Jeden Morgen steht kurz hinterm Kanzlerklo der diensthabende Graureiher und starrt in die Spree. Ich grüße, aber er würdigt mich nur eines kurzen Blickes, wir kennen uns schon. Ein paar Meter weiter taucht der Haubentaucher ab. Die Tauben grüße ich nicht, aus Prinzip. Immer wieder sonntags gebe ich mir die Kante. 30 Kilometer im MRT mit einer 15 Kilo schweren Musikanlage. Schaffe trotzdem die 100 Kilometer pro Woche nie. Dafür laufe ich die Treppen bis in die 6. Etage hoch. Im Büro zerfetzt es mir dann regelmäßig die Oberschenkel.
Endlich. Es ist September, es ist Schorfheidemarathon. Es wird regnen. Mein Dreamteam will trotzdem mitkommen. Bin irritiert. Mein Zeitplan kommt völlig durcheinander - bin bereits eine halbe Stunde vor dem Start vor Ort. Und gehe erst mal aufs Örtchen. Im Startblock suche ich in der Masse von 20 Läufern meine Lieblingskonkurrentin, finde aber nur die Waldläuferin, diesmal ohne Waldläufer, der mit Achilles kämpft. Reibe mir die Hände, weil's kalt ist - und weil ich meine Lieblingskonkurrentin beim Regenerieren vom gestrigen 6-Stunden-Lauf in Bernau wähne. Gute Chancen also, das Ding wieder zu gewinnen. Es nieselt. Sieht auch nicht so aus, als ob das in den nächsten Stunden aufhört. Langsam setzt sich die Läufermasse in Bewegung. Am Ende werden 69 Läufer ins Ziel kommen.
Die Strecke ist bescheiden schön. Wie immer. Spätestens auf dem Feldweg, mitten über den Acker, frage ich mich wieder mal, wie ich auf die blöde Idee gekommen bin, hier mitzulaufen. Die Füße tun weh, der Magen zum Glück nicht. Es ist kalt und ich laufe die meisten Abschnitte allein. Einziger Trost sind die Waldstrecken. Ich liebe diesen Laubwald, so schön gibt's das fast nur in der Schorfheide. Ich gucke nicht auf die Uhr, warum auch, meine Lieblingskonkurrentin ist ja nicht da. Sehe aus wie ein begossener Pudel. 2 Kilometer vorm Ziel hat das Bummeln ein Ende, gebe nochmal Gas. Soll ja nicht so aussehen, als hätte es Spaß gemacht. Im Ziel bietet mir mein Coach den Regenschirm an. Lehne dankend ab. Nach 42 Kilometern permanenter Wässerung wäre das etwas weicheiig - und sinnlos. Wie aus dem Nichts taucht meine Lieblingskonkurrentin auf, diesmal 7 Minuten schneller als ich. Gucke doof. Die exakt 4 Stunden sind mir jetzt peinlich. Wenigstens halte ich noch den Streckenrekord. Wir sehen uns dann auf dem Brocken - hasta la vista, Baby!
4 Wochen später, Freitagmorgen. Eigentlich wollte ich die Sachen schon gestern abend gepackt haben. Eigentlich wollte ich mir neue Schnürsenkel gekauft haben. Und eigentlich wollte ich noch den Garten umgegraben haben. Und gegen 12 Uhr mittags in Schierke sein. Packe erstmal die Sporttasche, danach die Klamotten für eine Woche Urlaub und den Spielzeugkoffer fürs Kind. Man muß Prioritäten setzen. Mit 2 Stunden Verspätung landen wir im Harz, wo der Familienclan bereits ein einwöchiges Trainingslager aufgeschlagen hat. Es gibt massenhaft Pilze, im Wald und auf dem Teller. Weiß nicht, ob das so gut ist vorm Marathon. Wird es dann auch nicht sein. Aber dazu später.
Vor dem Rathaus in Wernigerode, wo's die Startunterlagen gibt, lungert ein Moderator rum und sucht eine Frau, die sich den Marathon antut. Und darüber reden will. Scheinbar gelangweilt sehe ich mir das Werbeschild vom Waldemar-Cierpinski-Laufshirt an und hoffe, dass der Kelch an mir vorübergeht. Meine Familie petzt und ich werde vors Mikro gezerrt. Verwirre den Mann mit meinem Mikrogalgenhumor, dass es auf der zweiten Hälfte ja nur noch abwärts geht. Oute mich offenbar unfreiwillig als Opfer und werde sofort von einem herumlungernden Journalisten angesprochen. Bin jetzt selbst verwirrt und rede wirres Zeug. Nach einem Foto läßt er mich frei. Ich kann endlich unser Kind zum Brockenkinderlauf anmelden. Nach neuen Laufschuhen und täglichem 800-Meter-Tempodauerlauf zur Kita hat Papa Bedenken, ob Kind die 2 Kilometer schafft. Opa wirft ein, dass es 1 Kilometer nur bergauf geht. Danke, das war nicht konstruktiv. Unser Kind wird die jüngste Teilnehmerin beim Harzgebirgslauf. Yes, we can!
Samstagmorgen. Es ist kalt und naß. Was sonst. Im Rudel wollen wir den Brocken bezwingen. Unser Kind läuft sich mit ihrem Cousin schon mal warm und saut ihren Trainingsanzug ein. Ihr Opa positioniert sich auf der Hälfte der Strecke des Brockenkinderlaufes, damit die Enkelchen nicht zu weit laufen, und wird anschließend, nach 9 Jahren Laufabstinenz, den 11-Kilometer-Lauf absolvieren. Als Letzter. Aller Wiederanfang ist schwer. Ich mache mich als Erste von der Wiese. Habe diesmal nur ein Singlet als Kälteschutz für den Brockengipfel eingepackt, da ich nicht wieder die Jacke um die Hüften wickeln will. Bin ja schließlich kein Walker. Da ich schon die ganze Woche Hunger hatte, habe ich sicherheitshalber 3 Powergel eingepackt. Und reichlich Papier für die Notdurft. Für den Fall, dass ich die Pilze wieder dahin bringen muss, wo sie herkommen.
Es läuft erstaunlich gut. Die ersten Anstiege merke ich kaum. Letztes Jahr, mit Jörg, mußte ich schon an Steigungen passen, die ich diesmal kaum zur Kenntnis nehme. Das ist verdächtig. Ich traue meinen Beinen nicht, kontrolliere immer wieder die HF. Rechne mir aus, dass ich knapp 10 km/h langsam sein kann, um in 2 Stunden oben zu sein. Diesmal wartet mein Dreamteam nicht oben. Diesmal läuft Schnecki selber. Frage mich, ob sie es geschafft hat. Es läuft immer noch gut. Überhole meine Lieblingskonkurrentin. Bin überhaupt nicht schadenfroh. Langsam werden die Bäume kleiner und die Luft kälter. Jetzt muß doch endlich dieser blöde Plattenweg kommen. Gleich hinter dem 16. Kilometerschild beginnt er dann. Heute hat mich der Montanwahn gepackt. Kraft meiner Pilzsuppe laufe ich die ersten Meter, immer am Rand lang. Dann ist Schicht im Schacht. Mit großen Schritten kämpfe ich mich nach oben. Ihr wißt schon Mädels, dass das hier ein Wettkampf ist, fragt der Letzte, der noch läuft und zieht wie die Brockenbahn an uns vorbei. Das muß ein Highlander sein. Es kann nur einen geben.
Der Weg nimmt kein Ende. Jedes Jahr kommt er mir länger vor. Es ist saukalt, eisiger Wind. Oben alles im Nebel. Die Plattitüde kostet Kraft und, vor allem Zeit, viel zu viel Zeit. Die 2 Stunden sind um und ich bin immer noch nicht oben. Aus der Traum von 4 Stunden, vergiß es. Ein Lowlander wie ich wird nie 4 Stunden schaffen. Bin sauer und das treibt mich nach oben. Um mich herum dicker Nebel. Zum Glück finde ich den Brockenstein und gebe ihm einen freundlichen Klaps. Das ist purer Aberglaube und eines wissenschaftlich gebildeten Menschens völlig unwürdig. Aber es hilft. Bei Kilometer 20 nehme ich das zweite Powergel und rolle bergab. Erhol dich - mein Mantra für die nächsten Kilometer. Skeptisch belauere ich meinen Magen. Bloß keine Krämpfe jetzt, sonst ist der Tag versaut. Aber alles ist gut. Bei Kilometer 32 dann noch ein Bergfest. Gönne mir den Luxus, zwischen Laufen und Gehen zu wechseln.
Vor dem nächsten Anstieg, bei Kilometer 36, wollen die Pilze wieder nach Hause. Es hilft nichts, ich muß in den Wald. Das Problem ist nach 2 Minuten erledigt. Vor mir taucht eine Läuferin auf. Die läuft genau das Tempo, das ich laufen will. Überholen? Nö, lieber jagen als gejagt werden. Ich hänge mich in ihren Windschatten. Du mußt ein Schwein sein in dieser Welt. An der nächsten und letzten Steigung hängt sie mich ab. Mich wirst du nicht so schnell los. Einen Kilometer später hefte ich mich wieder an ihre Fersen. Anderthalb Kilometer vorm Ziel halte ich's nicht mehr aus und überhole. Was soll jetzt noch passieren? Laufe wie eine besengte Sau ins Ziel. Soll ja nicht so aussehen, als hätte es Spaß gemacht. 4 Stunden und 10 Minuten - ich glaub es nicht. Das ist persönliche Bestzeit am Brocken. 15 Minuten schneller als im letzten Jahr. Meine Lieblingskonkurrentin kommt 12 Minuten nach mir ins Ziel.
Mein Coach und mein Vater nehmen mich im Ziel in Empfang. Unser Kind hat die 2 Kilometer geschafft, sogar laufend. Stolz wie Bolle hat sie mit ihrem Cousin mit Medaille und Urkunde vor der Kamera posiert. Und abends ist sie kein bißchen müde. Als mir mein Coach dann noch das Waldemar-Cierpinski-Laufshirt in die Hand drückt, ist der Tag perfekt. Drei mit dem Laufvirus infizierte Generationen - eine echte Familienepedemie eben. Am nächsten Tag geht's weiter nach Thüringen. Ich gönne mir eine Woche Regeneration mit zwei kleinen Läufchen bei Schneeregen, Baden im Thermalbad und meiner persönlichen Ärztin, die mir meinen Stoffwechsel erklärt. Brav fülle ich meine Eiweiß- und Kohlenhydratspeicher und genieße den Rundumservice im Familienhotel. Samstagmorgen, während ich die Sachen packe, denke ich mit Wehmut ans schöne Schlaubetal. Wie gern würde ich jetzt durch den bunten Buchenwald laufen. Hoffentlich haben die Jungs und Mädels gutes Wetter. Wir fahren nach Sachsen.
Am nächsten Morgen steht Dresden auf der Liste. Den Marathon kenne ich schon von vor 4 Jahren. Hatte damals einen blinden Passagier an Bord. Die Laufzeit war grottenschlecht und es war der letzte Marathon für die nächsten 10 Monate. Mein Coach setzt mich rechtzeitig im Startgebiet aus. Es ist kalt und - natürlich - es regnet. Reihe mich ordnungsgemäß in Block C ein, aber ganz weit vorne. Während ich in einer gelben Adidas-Plastetüte vor mich hinfriere, fällt mir der Spruch meines Kumpels wieder ein. Dass man viel Geld dafür bezahlt, um mitten in der Nacht in einer Mülltüte durch die Gegend zu rennen. Total bekloppt. Fällt hier aber nicht weiter auf. Den Startschuß höre ich nicht, plötzlich setzen sich 7000 Läufer in Bewegung. Am Anfang ist es trotz breiter Strasse etwas eng. Ich laufe mich frei. Finde mein Tempo. 12,5 km/h - vielleicht ein bißchen zu schnell?! Genieße den Anblick der Stadt, in der ich 10 Jahre gelebt habe. Und finde sie immer noch schön. Kann mich an den Streckenverlauf noch ungefähr erinnern. Wir laufen am Haus meines Kumpels vorbei. Er steht nicht an der Strecke, ist ja auch noch mitten in der Nacht. Alle 5 Kilometer trinke ich warmen Tee und taue langsam auf. Die Straßenbahnschienen sind tückisch. Beim Ausweichen platsche ich voll mit dem Fuß in eine Pfütze. Na prima, das wird Blasen geben.
Das erstemal an der Schloßkirche vorbei. Es geht in die zweite Runde. Gucke auf die Uhr. Was ist das denn? 1:45 steht da. Kann doch nicht sein. Mir geht's richtig gut. Diesmal steht auch mein Kumpel mit der ganzen Familie an der Strecke und läuft sogar ein paar Meter neben mir her. Ich muß meine Endorphine weitergeben. Wenige Minuten später weiß mein Coach bereits, wie's läuft. Er beginnt zu rechnen. An der Elbe laufe ich gegen den kalten Wind, fast wie beim Oberelbemarathon. Komische Streckenführung. Mehrfach kommen uns die Spitzenläufer entgegen. Im Großen Garten wird gebaut. Ich überhole eine blinde Läuferin, bin erstaunt, wie gut ihr Begleiter sie über die Strecke führt. Sie sind richtig schnell. Warte auf den Hammermann. Zwei schnelle Marathons in 9 Tagen - das kann nicht gutgehen. Laufe an der VW-Manufaktur vorbei. Hier bin ich vor 4 Jahre abgestorben. Weiter durch die Stadt. Kilometer 30 bei 2:31.
Dann endlich kommt das Erwartete. Der linke Oberschenkel beginnt langsam, aber stetig zu schmerzen, bis in die Hüfte. Die Fußsohlen brennen. Die Achillessehen teilen mit, dass sie den Brocken noch nicht ganz vergessen haben. Fehlt nur noch mein spezieller Freund, der Magen. Ist aber heute anscheinend nicht sauer. Versuche, die Füße anders aufzusetzen, um den Oberschenkel anders zu belasten. So richtig hilft das nicht. Habe das Gefühl, ganz langsam zu werden. Das war's dann wohl. Egal, wie schnell oder langsam ich laufe, das Bein tut immer gleich weh. Dann kann ich auch schnell laufen. Bei Schmerzen soll man aufhören. Das kann nur einer sagen, der nie welche hatte. Kann jetzt nicht aufhören. Habe exakt 94 Cent pro Kilometer bezahlt und die Laufuhr ist noch nicht abgelaufen. Ein Himmelreich für ein Fahrrad! Laufe an meinem alten Studentenwohnheim vorbei. Da drin gibt's Duschen und ich weiß sogar, wo. Mach dem Elend doch ein Ende - lauf einfach schneller!
5 Kilometer vorm Ziel läuft es etwas besser. Die Strecke ist gemein. Man läuft fast an der Schloßkirche vorbei, nur auf der falschen Elbseite. Und dann muß man wieder zurück. Und über diese blöde Kopfsteinpflasterschloßbrücke. Und wieder an der Schloßkirche vorbei. Und wenn Du denkst, jetzt hast Du's geschafft - vergiß es. Du mußt noch am Landtag vorbei und noch weiter. Blick auf die Uhr. 3:33. Sprint. Kann nicht mehr. Links und rechts Zuschauer, überall Zuschauer. Warum schreien mich alle an? 3:34. Noch 50 Meter. Jetzt nicht auf die Schnauze packen. Geschafft! 3:34:32. Was für eine bekloppte Zeit. Habe das Gefühl, dass mir gleich die Beine abfallen. Nehme meine Medaille in Empfang. Wickel mich in eine weiße Plastikplane. Wanke völlig desorientiert im Zielbereich umher, bis mich mein Coach anpfeift. Zum Glück hat er richtig gerechnet und wartet schon auf mich. Und fragt mich als erstes, ob ich abgekürzt habe oder warum ich schon im Ziel bin. Das baut doch richtig auf. So ist er, mein Coach.
Eine Stunde später bin ich wieder geschniegelt und gebügelt. Meine persönliche Ärztin tut was für meinen Stoffwechsel und ich vernichte mindestens 2 Teller Nudeln. Im Auto, auf dem Weg nach Hause, weiß ich nicht, wohin mit meinen Beinen. Jede Haltung ist unangenehm. Montagmorgen habe ich das Gefühl, nie wieder laufen zu können. Dienstagmorgen habe ich das Gefühl, überhaupt nicht gelaufen zu sein. Den Rest der Woche denke ich darüber nach. Und darüber, dass im November kein Wettkampf ist. Ein Monat ohne Wettkampf ist möglich, aber sinnlos.
Ich habe den 1., 8. und 4. Platz in der Altersklasse belegt, aber keinen Blumentopf gewonnen. Nur einen Pokal. Von meinen Eltern.
Endlich. Es ist September, es ist Schorfheidemarathon. Es wird regnen. Mein Dreamteam will trotzdem mitkommen. Bin irritiert. Mein Zeitplan kommt völlig durcheinander - bin bereits eine halbe Stunde vor dem Start vor Ort. Und gehe erst mal aufs Örtchen. Im Startblock suche ich in der Masse von 20 Läufern meine Lieblingskonkurrentin, finde aber nur die Waldläuferin, diesmal ohne Waldläufer, der mit Achilles kämpft. Reibe mir die Hände, weil's kalt ist - und weil ich meine Lieblingskonkurrentin beim Regenerieren vom gestrigen 6-Stunden-Lauf in Bernau wähne. Gute Chancen also, das Ding wieder zu gewinnen. Es nieselt. Sieht auch nicht so aus, als ob das in den nächsten Stunden aufhört. Langsam setzt sich die Läufermasse in Bewegung. Am Ende werden 69 Läufer ins Ziel kommen.
Die Strecke ist bescheiden schön. Wie immer. Spätestens auf dem Feldweg, mitten über den Acker, frage ich mich wieder mal, wie ich auf die blöde Idee gekommen bin, hier mitzulaufen. Die Füße tun weh, der Magen zum Glück nicht. Es ist kalt und ich laufe die meisten Abschnitte allein. Einziger Trost sind die Waldstrecken. Ich liebe diesen Laubwald, so schön gibt's das fast nur in der Schorfheide. Ich gucke nicht auf die Uhr, warum auch, meine Lieblingskonkurrentin ist ja nicht da. Sehe aus wie ein begossener Pudel. 2 Kilometer vorm Ziel hat das Bummeln ein Ende, gebe nochmal Gas. Soll ja nicht so aussehen, als hätte es Spaß gemacht. Im Ziel bietet mir mein Coach den Regenschirm an. Lehne dankend ab. Nach 42 Kilometern permanenter Wässerung wäre das etwas weicheiig - und sinnlos. Wie aus dem Nichts taucht meine Lieblingskonkurrentin auf, diesmal 7 Minuten schneller als ich. Gucke doof. Die exakt 4 Stunden sind mir jetzt peinlich. Wenigstens halte ich noch den Streckenrekord. Wir sehen uns dann auf dem Brocken - hasta la vista, Baby!
4 Wochen später, Freitagmorgen. Eigentlich wollte ich die Sachen schon gestern abend gepackt haben. Eigentlich wollte ich mir neue Schnürsenkel gekauft haben. Und eigentlich wollte ich noch den Garten umgegraben haben. Und gegen 12 Uhr mittags in Schierke sein. Packe erstmal die Sporttasche, danach die Klamotten für eine Woche Urlaub und den Spielzeugkoffer fürs Kind. Man muß Prioritäten setzen. Mit 2 Stunden Verspätung landen wir im Harz, wo der Familienclan bereits ein einwöchiges Trainingslager aufgeschlagen hat. Es gibt massenhaft Pilze, im Wald und auf dem Teller. Weiß nicht, ob das so gut ist vorm Marathon. Wird es dann auch nicht sein. Aber dazu später.
Vor dem Rathaus in Wernigerode, wo's die Startunterlagen gibt, lungert ein Moderator rum und sucht eine Frau, die sich den Marathon antut. Und darüber reden will. Scheinbar gelangweilt sehe ich mir das Werbeschild vom Waldemar-Cierpinski-Laufshirt an und hoffe, dass der Kelch an mir vorübergeht. Meine Familie petzt und ich werde vors Mikro gezerrt. Verwirre den Mann mit meinem Mikrogalgenhumor, dass es auf der zweiten Hälfte ja nur noch abwärts geht. Oute mich offenbar unfreiwillig als Opfer und werde sofort von einem herumlungernden Journalisten angesprochen. Bin jetzt selbst verwirrt und rede wirres Zeug. Nach einem Foto läßt er mich frei. Ich kann endlich unser Kind zum Brockenkinderlauf anmelden. Nach neuen Laufschuhen und täglichem 800-Meter-Tempodauerlauf zur Kita hat Papa Bedenken, ob Kind die 2 Kilometer schafft. Opa wirft ein, dass es 1 Kilometer nur bergauf geht. Danke, das war nicht konstruktiv. Unser Kind wird die jüngste Teilnehmerin beim Harzgebirgslauf. Yes, we can!
Samstagmorgen. Es ist kalt und naß. Was sonst. Im Rudel wollen wir den Brocken bezwingen. Unser Kind läuft sich mit ihrem Cousin schon mal warm und saut ihren Trainingsanzug ein. Ihr Opa positioniert sich auf der Hälfte der Strecke des Brockenkinderlaufes, damit die Enkelchen nicht zu weit laufen, und wird anschließend, nach 9 Jahren Laufabstinenz, den 11-Kilometer-Lauf absolvieren. Als Letzter. Aller Wiederanfang ist schwer. Ich mache mich als Erste von der Wiese. Habe diesmal nur ein Singlet als Kälteschutz für den Brockengipfel eingepackt, da ich nicht wieder die Jacke um die Hüften wickeln will. Bin ja schließlich kein Walker. Da ich schon die ganze Woche Hunger hatte, habe ich sicherheitshalber 3 Powergel eingepackt. Und reichlich Papier für die Notdurft. Für den Fall, dass ich die Pilze wieder dahin bringen muss, wo sie herkommen.
Es läuft erstaunlich gut. Die ersten Anstiege merke ich kaum. Letztes Jahr, mit Jörg, mußte ich schon an Steigungen passen, die ich diesmal kaum zur Kenntnis nehme. Das ist verdächtig. Ich traue meinen Beinen nicht, kontrolliere immer wieder die HF. Rechne mir aus, dass ich knapp 10 km/h langsam sein kann, um in 2 Stunden oben zu sein. Diesmal wartet mein Dreamteam nicht oben. Diesmal läuft Schnecki selber. Frage mich, ob sie es geschafft hat. Es läuft immer noch gut. Überhole meine Lieblingskonkurrentin. Bin überhaupt nicht schadenfroh. Langsam werden die Bäume kleiner und die Luft kälter. Jetzt muß doch endlich dieser blöde Plattenweg kommen. Gleich hinter dem 16. Kilometerschild beginnt er dann. Heute hat mich der Montanwahn gepackt. Kraft meiner Pilzsuppe laufe ich die ersten Meter, immer am Rand lang. Dann ist Schicht im Schacht. Mit großen Schritten kämpfe ich mich nach oben. Ihr wißt schon Mädels, dass das hier ein Wettkampf ist, fragt der Letzte, der noch läuft und zieht wie die Brockenbahn an uns vorbei. Das muß ein Highlander sein. Es kann nur einen geben.
Der Weg nimmt kein Ende. Jedes Jahr kommt er mir länger vor. Es ist saukalt, eisiger Wind. Oben alles im Nebel. Die Plattitüde kostet Kraft und, vor allem Zeit, viel zu viel Zeit. Die 2 Stunden sind um und ich bin immer noch nicht oben. Aus der Traum von 4 Stunden, vergiß es. Ein Lowlander wie ich wird nie 4 Stunden schaffen. Bin sauer und das treibt mich nach oben. Um mich herum dicker Nebel. Zum Glück finde ich den Brockenstein und gebe ihm einen freundlichen Klaps. Das ist purer Aberglaube und eines wissenschaftlich gebildeten Menschens völlig unwürdig. Aber es hilft. Bei Kilometer 20 nehme ich das zweite Powergel und rolle bergab. Erhol dich - mein Mantra für die nächsten Kilometer. Skeptisch belauere ich meinen Magen. Bloß keine Krämpfe jetzt, sonst ist der Tag versaut. Aber alles ist gut. Bei Kilometer 32 dann noch ein Bergfest. Gönne mir den Luxus, zwischen Laufen und Gehen zu wechseln.
Vor dem nächsten Anstieg, bei Kilometer 36, wollen die Pilze wieder nach Hause. Es hilft nichts, ich muß in den Wald. Das Problem ist nach 2 Minuten erledigt. Vor mir taucht eine Läuferin auf. Die läuft genau das Tempo, das ich laufen will. Überholen? Nö, lieber jagen als gejagt werden. Ich hänge mich in ihren Windschatten. Du mußt ein Schwein sein in dieser Welt. An der nächsten und letzten Steigung hängt sie mich ab. Mich wirst du nicht so schnell los. Einen Kilometer später hefte ich mich wieder an ihre Fersen. Anderthalb Kilometer vorm Ziel halte ich's nicht mehr aus und überhole. Was soll jetzt noch passieren? Laufe wie eine besengte Sau ins Ziel. Soll ja nicht so aussehen, als hätte es Spaß gemacht. 4 Stunden und 10 Minuten - ich glaub es nicht. Das ist persönliche Bestzeit am Brocken. 15 Minuten schneller als im letzten Jahr. Meine Lieblingskonkurrentin kommt 12 Minuten nach mir ins Ziel.
Mein Coach und mein Vater nehmen mich im Ziel in Empfang. Unser Kind hat die 2 Kilometer geschafft, sogar laufend. Stolz wie Bolle hat sie mit ihrem Cousin mit Medaille und Urkunde vor der Kamera posiert. Und abends ist sie kein bißchen müde. Als mir mein Coach dann noch das Waldemar-Cierpinski-Laufshirt in die Hand drückt, ist der Tag perfekt. Drei mit dem Laufvirus infizierte Generationen - eine echte Familienepedemie eben. Am nächsten Tag geht's weiter nach Thüringen. Ich gönne mir eine Woche Regeneration mit zwei kleinen Läufchen bei Schneeregen, Baden im Thermalbad und meiner persönlichen Ärztin, die mir meinen Stoffwechsel erklärt. Brav fülle ich meine Eiweiß- und Kohlenhydratspeicher und genieße den Rundumservice im Familienhotel. Samstagmorgen, während ich die Sachen packe, denke ich mit Wehmut ans schöne Schlaubetal. Wie gern würde ich jetzt durch den bunten Buchenwald laufen. Hoffentlich haben die Jungs und Mädels gutes Wetter. Wir fahren nach Sachsen.
Am nächsten Morgen steht Dresden auf der Liste. Den Marathon kenne ich schon von vor 4 Jahren. Hatte damals einen blinden Passagier an Bord. Die Laufzeit war grottenschlecht und es war der letzte Marathon für die nächsten 10 Monate. Mein Coach setzt mich rechtzeitig im Startgebiet aus. Es ist kalt und - natürlich - es regnet. Reihe mich ordnungsgemäß in Block C ein, aber ganz weit vorne. Während ich in einer gelben Adidas-Plastetüte vor mich hinfriere, fällt mir der Spruch meines Kumpels wieder ein. Dass man viel Geld dafür bezahlt, um mitten in der Nacht in einer Mülltüte durch die Gegend zu rennen. Total bekloppt. Fällt hier aber nicht weiter auf. Den Startschuß höre ich nicht, plötzlich setzen sich 7000 Läufer in Bewegung. Am Anfang ist es trotz breiter Strasse etwas eng. Ich laufe mich frei. Finde mein Tempo. 12,5 km/h - vielleicht ein bißchen zu schnell?! Genieße den Anblick der Stadt, in der ich 10 Jahre gelebt habe. Und finde sie immer noch schön. Kann mich an den Streckenverlauf noch ungefähr erinnern. Wir laufen am Haus meines Kumpels vorbei. Er steht nicht an der Strecke, ist ja auch noch mitten in der Nacht. Alle 5 Kilometer trinke ich warmen Tee und taue langsam auf. Die Straßenbahnschienen sind tückisch. Beim Ausweichen platsche ich voll mit dem Fuß in eine Pfütze. Na prima, das wird Blasen geben.
Das erstemal an der Schloßkirche vorbei. Es geht in die zweite Runde. Gucke auf die Uhr. Was ist das denn? 1:45 steht da. Kann doch nicht sein. Mir geht's richtig gut. Diesmal steht auch mein Kumpel mit der ganzen Familie an der Strecke und läuft sogar ein paar Meter neben mir her. Ich muß meine Endorphine weitergeben. Wenige Minuten später weiß mein Coach bereits, wie's läuft. Er beginnt zu rechnen. An der Elbe laufe ich gegen den kalten Wind, fast wie beim Oberelbemarathon. Komische Streckenführung. Mehrfach kommen uns die Spitzenläufer entgegen. Im Großen Garten wird gebaut. Ich überhole eine blinde Läuferin, bin erstaunt, wie gut ihr Begleiter sie über die Strecke führt. Sie sind richtig schnell. Warte auf den Hammermann. Zwei schnelle Marathons in 9 Tagen - das kann nicht gutgehen. Laufe an der VW-Manufaktur vorbei. Hier bin ich vor 4 Jahre abgestorben. Weiter durch die Stadt. Kilometer 30 bei 2:31.
Dann endlich kommt das Erwartete. Der linke Oberschenkel beginnt langsam, aber stetig zu schmerzen, bis in die Hüfte. Die Fußsohlen brennen. Die Achillessehen teilen mit, dass sie den Brocken noch nicht ganz vergessen haben. Fehlt nur noch mein spezieller Freund, der Magen. Ist aber heute anscheinend nicht sauer. Versuche, die Füße anders aufzusetzen, um den Oberschenkel anders zu belasten. So richtig hilft das nicht. Habe das Gefühl, ganz langsam zu werden. Das war's dann wohl. Egal, wie schnell oder langsam ich laufe, das Bein tut immer gleich weh. Dann kann ich auch schnell laufen. Bei Schmerzen soll man aufhören. Das kann nur einer sagen, der nie welche hatte. Kann jetzt nicht aufhören. Habe exakt 94 Cent pro Kilometer bezahlt und die Laufuhr ist noch nicht abgelaufen. Ein Himmelreich für ein Fahrrad! Laufe an meinem alten Studentenwohnheim vorbei. Da drin gibt's Duschen und ich weiß sogar, wo. Mach dem Elend doch ein Ende - lauf einfach schneller!
5 Kilometer vorm Ziel läuft es etwas besser. Die Strecke ist gemein. Man läuft fast an der Schloßkirche vorbei, nur auf der falschen Elbseite. Und dann muß man wieder zurück. Und über diese blöde Kopfsteinpflasterschloßbrücke. Und wieder an der Schloßkirche vorbei. Und wenn Du denkst, jetzt hast Du's geschafft - vergiß es. Du mußt noch am Landtag vorbei und noch weiter. Blick auf die Uhr. 3:33. Sprint. Kann nicht mehr. Links und rechts Zuschauer, überall Zuschauer. Warum schreien mich alle an? 3:34. Noch 50 Meter. Jetzt nicht auf die Schnauze packen. Geschafft! 3:34:32. Was für eine bekloppte Zeit. Habe das Gefühl, dass mir gleich die Beine abfallen. Nehme meine Medaille in Empfang. Wickel mich in eine weiße Plastikplane. Wanke völlig desorientiert im Zielbereich umher, bis mich mein Coach anpfeift. Zum Glück hat er richtig gerechnet und wartet schon auf mich. Und fragt mich als erstes, ob ich abgekürzt habe oder warum ich schon im Ziel bin. Das baut doch richtig auf. So ist er, mein Coach.
Eine Stunde später bin ich wieder geschniegelt und gebügelt. Meine persönliche Ärztin tut was für meinen Stoffwechsel und ich vernichte mindestens 2 Teller Nudeln. Im Auto, auf dem Weg nach Hause, weiß ich nicht, wohin mit meinen Beinen. Jede Haltung ist unangenehm. Montagmorgen habe ich das Gefühl, nie wieder laufen zu können. Dienstagmorgen habe ich das Gefühl, überhaupt nicht gelaufen zu sein. Den Rest der Woche denke ich darüber nach. Und darüber, dass im November kein Wettkampf ist. Ein Monat ohne Wettkampf ist möglich, aber sinnlos.
Ich habe den 1., 8. und 4. Platz in der Altersklasse belegt, aber keinen Blumentopf gewonnen. Nur einen Pokal. Von meinen Eltern.