Django vergibt, die Stoppuhr nie… [DM 50 km, Marburg 2011]
Verfasst: 06.03.2011, 18:14
Wir waren noch keine 3 km gelaufen, und ich musste pinkeln. Heftig sogar. Das passte mir gar nicht. Nach 6 km meinte mein Vereinskollege Matthias, die Kälte würde ihm gehörig auf die Blase drücken. 2 km weiter scherte er rechts aus zum Straßenrand. Ich blieb tapfer, lief weiter und wollte die Zwangsunterbrechung möglichst weit hinausschieben.
Es war mein erster Ultra nach fast 3 Jahren (Harzquerung 2008), und ich hatte ein Problem. Ich wusste nicht, wo ich stand: ich schätzte mich auf etwa zwischen 3:40 und 3:50 ein, wäre gern unter 3:40 geblieben, traute mir das aber noch nicht so recht zu. Das Doofe daran war, dass die 3:40 nicht wegen der runden Zahl attraktiv war, sondern weil bereits eine Sekunde weniger das Starten in „Seeding A“ beim Comrades Ende Mai bedeuten würden. Diese Gemengelage ergab ein bröseliges Gemantsche in meinem Kopf, denn ich laufe lieber nach Gefühl, fragte mich aber wegen der Qualizeit: Soll ich’s nun riskieren, oder lass ich’s lieber gleich bleiben?
Ich entschied mich für die Beckenbauer-Variante: Schaun mer mal! Das Tempo nach dem Start fühlte sich viel zu schnell an, das heißt, eigentlich nicht, aber die Vorstellung, es nicht 10 oder 20, sondern gleich 50 km lang zu laufen, erfüllte mich mit Zweifel. Das Tempo war zum gemächlichen Laufen zu schnell, aber moderat genug, dass ich genügend Zeit zum Grübeln hatte, und das tat mir nicht gut. Ich hatte ein Kopfproblem, das mich fast den ganzen Lauf hindurch begleitete.
Mit 6 Läufern unseres Vereins waren wir gestartet. Einer weit vorneweg, er wurde am Ende Dritter. 2 weitere laufen in meiner Leistungsklasse, allerdings schätzte ich beide aktuell etwas stärker ein. Wir wollten zunächst zusammen laufen, leider musste einer der beiden aufgrund von Fersenproblemen aufgeben, aber mit dem zweiten, dem Kältepinkler Matthias, bildete ich ein festes Gespann, denn nach seiner ersten Pinkelpause lief er wieder zu mir auf. Die erste Runde beendeten wir in 42:56 min. Das war eigentlich ein Tick zu schnell und wir nahmen ein klein wenig Tempo heraus. Die zweite Runde endete in 44:04 min, das bedeutete nun genau eine Minute Vorsprung auf die 3:40. Indes, ich war skeptisch, kalkulierte ich doch einen Abfall der Rundenzeiten ein, vor allem für die letzte Runde.
Kurz nach Beginn der dritten Runde nahm mein Vereinskollege Matthias die zweite Auszeit. Das erinnerte mich schmerzlich daran, dass ich selbst auch eine Menge unnütz gewordener Flüssigkeit mit mir herumschleppte. Aber folgte ich Matthias, könnte ich die 3:40 gleich abschreiben. Komm, lauf lieber, anstatt es laufen zu lassen, jedenfalls solange es geht, motivierte ich mich. Nach einigen km hatte Matthias erneut aufgeschlossen, aber solche Aktionen (nicht das Pinkeln, sondern das Auflaufen) kosten Extrakraft, was sich später noch zeigen sollte. Kurz danach passierten wir das km-Schild 5: es war Halbzeit. Die folgenden km waren mental die schwersten des ganzen Laufes. Schmerzlich wurde mir bewusst, dass noch 24, noch 23, noch 22 km vor uns lagen. Zweimal würden wir hier noch vorbei kommen. Die Beine signalisierten andererseits erste deutliche Ermüdungserscheinungen.
Mit 44:21 min war die Runde langsamer als die vorherige, der Puffer schmolz. Würde er reichen? Der Marburger Rundkurs verläuft vereinfacht ausgedrückt zunächst Richtung Norden, um dann gen Süden zurückzuführen, garniert mit einigen Schlenkern. Zunehmender Nordwind war angesagt gewesen, und Nordwind herrschte vor, anfangs als eher laues Lüftchen, nun, mit Beginn der vierten Runde, blies er uns deutlich heftiger ins Gesicht. Bis zum vierten km kam er frontal von vorn, und wir waren ihm schutzlos ausgeliefert. Mit müder werdenden Beinen kämpften wir uns die kritischen Kilometer voran und waren froh, als wir windstilles Gebiet erreichten.
Als wir den sechsten km passiert hatten – hier liefen wir auf einem Radweg parallel zur Straße –, hörten wir von hinten Rufe, die Bahn frei zu machen. Wir wussten, was das bedeutete, liefen noch an einer 6-er Gruppe vorbei, um dann rechts einzuschwenken. Das Führungsfahrrad passierte uns, und in knappem Abstand dahinter lief Peter „Corruptor“ an uns vorbei. Er hatte einen Bestzeitenversuch über die 50 km-Strecke angekündigt und befand sich in seiner letzten Runde. Matthias schaute auf seine Uhr, und wir fingen an zu überschlagen, wie viel Zeit ihm noch bliebe und wie die Erfolgsaussichten wären.
Das zeigt übrigens, dass anders als beim Marathon die Streckenlänge das Problem ist und weniger das Tempo. Bei einem schnellen Marathon gelingen mir gegen Ende nicht einmal die simpelsten Grundrechenarten. Wir kamen jedenfalls zu dem Schluss, dass er es schaffen würde, aber knapp. Nun ja, am Ende hat er den Rekord um gute 1 ½ min unterboten und eine fulminante 2:52:13,7 h erzielt. Wir sahen ihn dann noch mal, als er uns auf der Wendepunktstrecke zwischen km 7 und 9 entgegen kam, und riefen ihm Anfeuerungsrufe zu.
Diese Einlage hatte auch den Vorteil, dass sie mich vom Grübeln über die Strecke und was noch vor uns lag, abhielt. Auch wenn wir Zwei die Anstrengung zunehmend in unseren Gliedern spürten, hielten wir doch leidlich das Tempo – 44:36 min für die vierte Runde sind ein akzeptabler Abfall – und waren seit etwa Mitte der vierten Runde auf Überholkurs. Auch bei der Wendepunktstrecke, auf der Corruptor uns entgegen kam, konnten wir feststellen, dass sich der Abstand zu weiteren Läufern verringert hatte.
Endlich, als die vierte Runde beendet war und wir in die Schlussrunde einbogen, wurde mein Kopf frei, begann der Lauf, Spaß zu machen. Sicher, überall spürte ich die Belastung, die Beine waren schwer, ich bemerkte schmerzhaft meine Füße, die mir die ersten Blutblasen unter den Zehnägeln signalisierten (Frage unseres Trainers nach dem Lauf: „Kommen die Blasen vom Schuh oder von den Socken?“ Antwort: „Von den Füßen!“), aber jetzt war der Lauf überschaubar geworden, diese eine, die letzte Runde noch, und jetzt war ich mir sicher, dass ich ordentlich durchkommen würde. Das alles war gewohntes Terrain, nicht diese Ungewissheit wie vorher.
Der Puffer auf die 3:40 h war auf 3 Sekunden geschmolzen. Das war kaum noch zu schaffen. Wie um mir eine Lektion zu erteilen, hatte der Wind noch einmal zugelegt, aber ich lief trotzig und mit der Kraft, die mir verblieben war, gegenan. Nun war nichts mehr einzuteilen. Diese Runde noch, nicht mehr! Jetzt war auch endgültig klar, dass es keinen Pinkelstopp geben würde. Matthias, mit dem ich immer noch zusammen lief, hing leicht hinter mir. Auch er setzte seine letzten Kraftreserven ein. Die markierte Marathonlinie durchliefen wir bei 3:06:09 h. Und immer noch überholten wir. Schon war die erste Frau vor uns aufgetaucht, die nach 30 km mehr als einen Kilometer Vorsprung gehabt hatte (gut abzuschätzen, da auch am Beginn der Strecke sich die, die eine Runde beginnen, und die, die sie schon beendet haben, entgegen laufen).
Bald waren wir dran und auf gleicher Höhe. Matthias rief mir zu, ich solle weiterrennen, er müsse nun doch herausnehmen. Die erste Frau schien froh, jemand gefunden zu haben, an den sie sich dranhängen konnte. Ich ermunterte sie, dranzubleiben und sich ziehen zu lassen. Kurz danach musste sie aber abreißen lassen, und ich zog allein von dannen. Die Hälfte der Runde lag hinter mir, ich hatte versäumt, die Zwischenzeit zu schauen, um abzuschätzen, ob meine magischen 3:40 noch eine Chance hatten. Beim nächsten Kilometer verwechselte ich die Endziffern des gelaufenen km mit den Gesamt-km und kam darauf, dass ich exzellent in der Zeit läge. Das machte mich dann doch stutzig, da es dem bisherigen Stand und dem Gegen-den-Wind-Laufen widersprach.
Beim siebten Kilometer, ich rannte immer noch, was der Körper so hergab, achtete ich darauf, endlich eine richtige Zeit und damit Chancenabwägung zu erhalten. Tja, und das war’s dann! 12:20 min blieben mir noch, das ist eigentlich kein besonders hohes Tempo, aber nach 47 flotten km in den Beinen sieht die Sache eben anders aus, und so war das heute nicht mehr zu schaffen. Sei’s drum! Das Ziel nahe vor Augen hielt ich das Tempo so einigermaßen bei und durchlief nach 3:40:22 h die Zeitnahme.
Unmittelbar hinter dem Ziel befand sich die Cafeteria mit angrenzendem WC. Dorthin lief ich direkt, bedankte mich bei meiner Blase und gönnte ihr die so lange verweigerte Entspannung. Währenddessen sinnierte ich, ob ich nun die eigentliche Laufleistung oder die Leistung, mit voller Blase noch ca. 3 ½ Stunden weitergelaufen zu sein, höher einstufen sollte.
Ein wenig später begegnete ich schon zum dritten Mal am heutigen Tag einem noch höchst lebendigen Fossil aus alten laufen-aktuell-Zeiten und seinerzeit auslösendem Element für den wohl lebendigsten und umfangreichsten Thread aller Zeiten, nämlich dem unübertrefflichen Laufjoe. Nach längerer Verletzungspause mal wieder unterwegs, jagte er mir angesichts des eiskalten Windes in seinem halbnackten, nur mit kurzem Höschen und dünnem T-Shirt leicht bekleideten Zustand Schauer der Kälte über den Rücken.
Nach und nach waren alle Läufer unseres Vereins eingetroffen bis auf einen, der verletzungsbedingt hatte ausscheiden müssen. Zunächst die Ergebnisliste, dann die Siegerehrung ergab, dass wir einen ausgesprochen erfolgreichen Wettkampf abgeliefert hatten. Bei 2 Goldmedaillen im Einzel, 2 silbernen in den Mannschaftswertungen und schließlich noch einer Bronzemedaille in der Einzelgesamtwertung war kein anderer Verein erfolgreicher gewesen.
Um das wenigstens ein klein wenig zu feiern, schickte der Trainer jemanden los, Bier zu holen. Der kam mit einem Sixpack vom Lidl zurück, und so erlebten wir dann die Siegerehrung in kalter Umgebung mit pisswarmem Bier, eine Kombination, die nach allgemeiner Einschätzung andersherum vorteilhafter gewesen wäre. Zu allem Überfluss bekleckerte ich meine Urkunde auch noch mit Bier.
Ich grübelte noch etwas darüber nach, ob es nicht doch vorteilhafter gewesen wäre, richtig zu tapern und damit vielleicht die überflüssigen 23 Sekunden einzusparen, kam aber, auch weil ich es ja doch nicht ändern konnte, zu dem Ergebnis, dass eine kontinuierliche Vorbereitung auf die 100 km in Jüterbog und den Comrades vier Wochen danach wichtiger sei.
Beim Blick in die Ergebnisliste auf den DUV-Seiten nahm ich noch einen kleinen Trost mit. Der rührige DUV-Statistiker hat nämlich sämtliche erfassten Ergebnisse um eine Spalte „alterskorrigierte Leistung“ erweitert. Das ist zwar nur eine Spielerei, aber die Älteren können sich darin sonnen, was für tolle Leistungen sie erbracht hätten, wenn sie ewig jung geblieben wären. Und danach wäre ich außer Peter „Corruptor“, dem ich anlässlich der Siegerehrung auch persönlich zu seinem wirklich phantastischen Rekord gratulieren konnte, der Einzige, der die 50 km unter 3 h gelaufen wäre.
Aber das ist wie mit allen Umrechnungstabellen. Da kann man sich trefflich dran ergötzen, was man laufen könnte, wenn man x kg weniger auf die Waage brächte, der Berg y Höhenmeter weniger hätte, der Wind z km/h weniger wehte oder man eben sounsoviel Jahre jünger wäre: Am Ende des Tages zählt nur das, was man tatsächlich zustande bringt. Und dennoch: manchmal ist der Gedanke ja doch ganz nett!
Bernd
Es war mein erster Ultra nach fast 3 Jahren (Harzquerung 2008), und ich hatte ein Problem. Ich wusste nicht, wo ich stand: ich schätzte mich auf etwa zwischen 3:40 und 3:50 ein, wäre gern unter 3:40 geblieben, traute mir das aber noch nicht so recht zu. Das Doofe daran war, dass die 3:40 nicht wegen der runden Zahl attraktiv war, sondern weil bereits eine Sekunde weniger das Starten in „Seeding A“ beim Comrades Ende Mai bedeuten würden. Diese Gemengelage ergab ein bröseliges Gemantsche in meinem Kopf, denn ich laufe lieber nach Gefühl, fragte mich aber wegen der Qualizeit: Soll ich’s nun riskieren, oder lass ich’s lieber gleich bleiben?
Ich entschied mich für die Beckenbauer-Variante: Schaun mer mal! Das Tempo nach dem Start fühlte sich viel zu schnell an, das heißt, eigentlich nicht, aber die Vorstellung, es nicht 10 oder 20, sondern gleich 50 km lang zu laufen, erfüllte mich mit Zweifel. Das Tempo war zum gemächlichen Laufen zu schnell, aber moderat genug, dass ich genügend Zeit zum Grübeln hatte, und das tat mir nicht gut. Ich hatte ein Kopfproblem, das mich fast den ganzen Lauf hindurch begleitete.
Mit 6 Läufern unseres Vereins waren wir gestartet. Einer weit vorneweg, er wurde am Ende Dritter. 2 weitere laufen in meiner Leistungsklasse, allerdings schätzte ich beide aktuell etwas stärker ein. Wir wollten zunächst zusammen laufen, leider musste einer der beiden aufgrund von Fersenproblemen aufgeben, aber mit dem zweiten, dem Kältepinkler Matthias, bildete ich ein festes Gespann, denn nach seiner ersten Pinkelpause lief er wieder zu mir auf. Die erste Runde beendeten wir in 42:56 min. Das war eigentlich ein Tick zu schnell und wir nahmen ein klein wenig Tempo heraus. Die zweite Runde endete in 44:04 min, das bedeutete nun genau eine Minute Vorsprung auf die 3:40. Indes, ich war skeptisch, kalkulierte ich doch einen Abfall der Rundenzeiten ein, vor allem für die letzte Runde.
Kurz nach Beginn der dritten Runde nahm mein Vereinskollege Matthias die zweite Auszeit. Das erinnerte mich schmerzlich daran, dass ich selbst auch eine Menge unnütz gewordener Flüssigkeit mit mir herumschleppte. Aber folgte ich Matthias, könnte ich die 3:40 gleich abschreiben. Komm, lauf lieber, anstatt es laufen zu lassen, jedenfalls solange es geht, motivierte ich mich. Nach einigen km hatte Matthias erneut aufgeschlossen, aber solche Aktionen (nicht das Pinkeln, sondern das Auflaufen) kosten Extrakraft, was sich später noch zeigen sollte. Kurz danach passierten wir das km-Schild 5: es war Halbzeit. Die folgenden km waren mental die schwersten des ganzen Laufes. Schmerzlich wurde mir bewusst, dass noch 24, noch 23, noch 22 km vor uns lagen. Zweimal würden wir hier noch vorbei kommen. Die Beine signalisierten andererseits erste deutliche Ermüdungserscheinungen.
Mit 44:21 min war die Runde langsamer als die vorherige, der Puffer schmolz. Würde er reichen? Der Marburger Rundkurs verläuft vereinfacht ausgedrückt zunächst Richtung Norden, um dann gen Süden zurückzuführen, garniert mit einigen Schlenkern. Zunehmender Nordwind war angesagt gewesen, und Nordwind herrschte vor, anfangs als eher laues Lüftchen, nun, mit Beginn der vierten Runde, blies er uns deutlich heftiger ins Gesicht. Bis zum vierten km kam er frontal von vorn, und wir waren ihm schutzlos ausgeliefert. Mit müder werdenden Beinen kämpften wir uns die kritischen Kilometer voran und waren froh, als wir windstilles Gebiet erreichten.
Als wir den sechsten km passiert hatten – hier liefen wir auf einem Radweg parallel zur Straße –, hörten wir von hinten Rufe, die Bahn frei zu machen. Wir wussten, was das bedeutete, liefen noch an einer 6-er Gruppe vorbei, um dann rechts einzuschwenken. Das Führungsfahrrad passierte uns, und in knappem Abstand dahinter lief Peter „Corruptor“ an uns vorbei. Er hatte einen Bestzeitenversuch über die 50 km-Strecke angekündigt und befand sich in seiner letzten Runde. Matthias schaute auf seine Uhr, und wir fingen an zu überschlagen, wie viel Zeit ihm noch bliebe und wie die Erfolgsaussichten wären.
Das zeigt übrigens, dass anders als beim Marathon die Streckenlänge das Problem ist und weniger das Tempo. Bei einem schnellen Marathon gelingen mir gegen Ende nicht einmal die simpelsten Grundrechenarten. Wir kamen jedenfalls zu dem Schluss, dass er es schaffen würde, aber knapp. Nun ja, am Ende hat er den Rekord um gute 1 ½ min unterboten und eine fulminante 2:52:13,7 h erzielt. Wir sahen ihn dann noch mal, als er uns auf der Wendepunktstrecke zwischen km 7 und 9 entgegen kam, und riefen ihm Anfeuerungsrufe zu.
Diese Einlage hatte auch den Vorteil, dass sie mich vom Grübeln über die Strecke und was noch vor uns lag, abhielt. Auch wenn wir Zwei die Anstrengung zunehmend in unseren Gliedern spürten, hielten wir doch leidlich das Tempo – 44:36 min für die vierte Runde sind ein akzeptabler Abfall – und waren seit etwa Mitte der vierten Runde auf Überholkurs. Auch bei der Wendepunktstrecke, auf der Corruptor uns entgegen kam, konnten wir feststellen, dass sich der Abstand zu weiteren Läufern verringert hatte.
Endlich, als die vierte Runde beendet war und wir in die Schlussrunde einbogen, wurde mein Kopf frei, begann der Lauf, Spaß zu machen. Sicher, überall spürte ich die Belastung, die Beine waren schwer, ich bemerkte schmerzhaft meine Füße, die mir die ersten Blutblasen unter den Zehnägeln signalisierten (Frage unseres Trainers nach dem Lauf: „Kommen die Blasen vom Schuh oder von den Socken?“ Antwort: „Von den Füßen!“), aber jetzt war der Lauf überschaubar geworden, diese eine, die letzte Runde noch, und jetzt war ich mir sicher, dass ich ordentlich durchkommen würde. Das alles war gewohntes Terrain, nicht diese Ungewissheit wie vorher.
Der Puffer auf die 3:40 h war auf 3 Sekunden geschmolzen. Das war kaum noch zu schaffen. Wie um mir eine Lektion zu erteilen, hatte der Wind noch einmal zugelegt, aber ich lief trotzig und mit der Kraft, die mir verblieben war, gegenan. Nun war nichts mehr einzuteilen. Diese Runde noch, nicht mehr! Jetzt war auch endgültig klar, dass es keinen Pinkelstopp geben würde. Matthias, mit dem ich immer noch zusammen lief, hing leicht hinter mir. Auch er setzte seine letzten Kraftreserven ein. Die markierte Marathonlinie durchliefen wir bei 3:06:09 h. Und immer noch überholten wir. Schon war die erste Frau vor uns aufgetaucht, die nach 30 km mehr als einen Kilometer Vorsprung gehabt hatte (gut abzuschätzen, da auch am Beginn der Strecke sich die, die eine Runde beginnen, und die, die sie schon beendet haben, entgegen laufen).
Bald waren wir dran und auf gleicher Höhe. Matthias rief mir zu, ich solle weiterrennen, er müsse nun doch herausnehmen. Die erste Frau schien froh, jemand gefunden zu haben, an den sie sich dranhängen konnte. Ich ermunterte sie, dranzubleiben und sich ziehen zu lassen. Kurz danach musste sie aber abreißen lassen, und ich zog allein von dannen. Die Hälfte der Runde lag hinter mir, ich hatte versäumt, die Zwischenzeit zu schauen, um abzuschätzen, ob meine magischen 3:40 noch eine Chance hatten. Beim nächsten Kilometer verwechselte ich die Endziffern des gelaufenen km mit den Gesamt-km und kam darauf, dass ich exzellent in der Zeit läge. Das machte mich dann doch stutzig, da es dem bisherigen Stand und dem Gegen-den-Wind-Laufen widersprach.
Beim siebten Kilometer, ich rannte immer noch, was der Körper so hergab, achtete ich darauf, endlich eine richtige Zeit und damit Chancenabwägung zu erhalten. Tja, und das war’s dann! 12:20 min blieben mir noch, das ist eigentlich kein besonders hohes Tempo, aber nach 47 flotten km in den Beinen sieht die Sache eben anders aus, und so war das heute nicht mehr zu schaffen. Sei’s drum! Das Ziel nahe vor Augen hielt ich das Tempo so einigermaßen bei und durchlief nach 3:40:22 h die Zeitnahme.
Unmittelbar hinter dem Ziel befand sich die Cafeteria mit angrenzendem WC. Dorthin lief ich direkt, bedankte mich bei meiner Blase und gönnte ihr die so lange verweigerte Entspannung. Währenddessen sinnierte ich, ob ich nun die eigentliche Laufleistung oder die Leistung, mit voller Blase noch ca. 3 ½ Stunden weitergelaufen zu sein, höher einstufen sollte.
Ein wenig später begegnete ich schon zum dritten Mal am heutigen Tag einem noch höchst lebendigen Fossil aus alten laufen-aktuell-Zeiten und seinerzeit auslösendem Element für den wohl lebendigsten und umfangreichsten Thread aller Zeiten, nämlich dem unübertrefflichen Laufjoe. Nach längerer Verletzungspause mal wieder unterwegs, jagte er mir angesichts des eiskalten Windes in seinem halbnackten, nur mit kurzem Höschen und dünnem T-Shirt leicht bekleideten Zustand Schauer der Kälte über den Rücken.
Nach und nach waren alle Läufer unseres Vereins eingetroffen bis auf einen, der verletzungsbedingt hatte ausscheiden müssen. Zunächst die Ergebnisliste, dann die Siegerehrung ergab, dass wir einen ausgesprochen erfolgreichen Wettkampf abgeliefert hatten. Bei 2 Goldmedaillen im Einzel, 2 silbernen in den Mannschaftswertungen und schließlich noch einer Bronzemedaille in der Einzelgesamtwertung war kein anderer Verein erfolgreicher gewesen.
Um das wenigstens ein klein wenig zu feiern, schickte der Trainer jemanden los, Bier zu holen. Der kam mit einem Sixpack vom Lidl zurück, und so erlebten wir dann die Siegerehrung in kalter Umgebung mit pisswarmem Bier, eine Kombination, die nach allgemeiner Einschätzung andersherum vorteilhafter gewesen wäre. Zu allem Überfluss bekleckerte ich meine Urkunde auch noch mit Bier.
Ich grübelte noch etwas darüber nach, ob es nicht doch vorteilhafter gewesen wäre, richtig zu tapern und damit vielleicht die überflüssigen 23 Sekunden einzusparen, kam aber, auch weil ich es ja doch nicht ändern konnte, zu dem Ergebnis, dass eine kontinuierliche Vorbereitung auf die 100 km in Jüterbog und den Comrades vier Wochen danach wichtiger sei.
Beim Blick in die Ergebnisliste auf den DUV-Seiten nahm ich noch einen kleinen Trost mit. Der rührige DUV-Statistiker hat nämlich sämtliche erfassten Ergebnisse um eine Spalte „alterskorrigierte Leistung“ erweitert. Das ist zwar nur eine Spielerei, aber die Älteren können sich darin sonnen, was für tolle Leistungen sie erbracht hätten, wenn sie ewig jung geblieben wären. Und danach wäre ich außer Peter „Corruptor“, dem ich anlässlich der Siegerehrung auch persönlich zu seinem wirklich phantastischen Rekord gratulieren konnte, der Einzige, der die 50 km unter 3 h gelaufen wäre.
Aber das ist wie mit allen Umrechnungstabellen. Da kann man sich trefflich dran ergötzen, was man laufen könnte, wenn man x kg weniger auf die Waage brächte, der Berg y Höhenmeter weniger hätte, der Wind z km/h weniger wehte oder man eben sounsoviel Jahre jünger wäre: Am Ende des Tages zählt nur das, was man tatsächlich zustande bringt. Und dennoch: manchmal ist der Gedanke ja doch ganz nett!
Bernd