Südafrika, 87 km: “Were the human brain able to recall the pain of Field’s Hill…”
Verfasst: 03.06.2011, 23:00
“…no one would run the down Comrades twice.”Oh nein, ich vertraute dem Läufer und Schriftsteller George Sheehan und lief den DOWN Comrades kein zweites Mal. Doch ich kannte nicht die Schmerzen der Big Five des UP Comrades: die Strapazen von Cowies Hill, Field’s Hill und Botha’s Hill, die Qual von Inchanga und nicht das Martyrium von Polly Shortts, vor allem Polly Shorts, verdammte, verfluchte Polly Shortts!
Nicht zu vergessen die vielen namenlosen Steigungen, manche lang, nur unmerklich ansteigend, andere kurz und giftig, und zwischendurch immer wieder Verlust der mühsam erkämpften Höhe durch abfallende Streckenteile. Der Start erfolgt auf Meereshöhe, das Ziel liegt 650 m hoch. Aber das täuscht. Durch den ständigen Auf- und Ab-Wechsel zeigt der Forerunner am Ende fast 2.000 Meter rauf und mehr als 1.300 Meter runter an. Das ist der Up Run, den will ich heute laufen. Nicht ich allein: mehr als 19.000 sind gemeldet. Was mir ein wenig Sorge bereitet, ist die letzte Wettervorhersage: 24° in Pietermaritzburg und Sonne; Schatten gibt es kaum auf der Strecke.
Durban
Es ist noch dunkel, morgens kurz vor 5.30 Uhr. Ich stehe im ersten Startblock, Seeding A. Als traditionell Shosholoza angestimmt wird, die Menge lautstark mitsingt, knien direkt vor mir 2 Schwarze nieder. Meine Vermutung, dass dies ein Zeichen der Ehrerbietung ist, entpuppt sich als irrig, als ich die Pfütze bemerke, die sich zunehmend zu meinen Füßen bildet. Nach dem wiederum traditionellen Krähen des Hahnes fällt der Startschuss. Tausende Läufer setzen sich in Bewegung. Obwohl die Dr. Pixley Kaseme eine breite Straße ist, wird es ganz schnell ganz eng, da die Läufer aus den hinteren Blöcken wild und ungestüm nach vorne stürmen. Zu eng, ich fühle mich eingezwängt, muss aufpassen, dass ich nicht stürze oder gestürzt werde.
Bald geht es auf eine Autobrücke, aufwärts. Läufer, wohin das Auge nur sehen kann, aber es entzerrt sich langsam, der Intimabstand ist mittlerweile wieder gewahrt. Es ist noch kühl, ein leichter Wind weht. Ich trage den Plastikponcho eines der Sponsoren, eine der besten Startbeigaben überhaupt, trägt sich angenehm, wärmt, ohne stickig zu werden. Ich bin sorgsam bemüht, locker und ja nicht zu schnell zu laufen. Viele halten es ähnlich, der Abstand zu ihnen verändert sich nur wenig, andere dagegen hetzen nach wie vor nach vorn, als würde hier das Rennen entschieden. Wir gewinnen Höhe, aber verlieren auch einen Teil davon wieder. Am Horizont wird es allmählich heller. Als der erste der Big Five auftaucht, ist die Dunkelheit gerade vorbei.
Cowies Hill
Cowies is encountered approximately 14 km from the start and is a moderately difficult climb rising about 137 m in the space of 1,5 km. [der offiziellen Website entnommen]
Die Anstrengung ist spürbar, aber noch erträglich. Mit kleinen Schritten bewege ich mich Meter für Meter aufwärts, bis ich den Kamm erreicht habe. Na immerhin, der erste ist geschafft. Noch behalte ich meinen Poncho an, denn immer mal wieder wird der Wind hässlich kalt. Die ersten Unterhaltungen ergeben sich, was man denn so vorhabe. So um die 8 Stunden, antworte ich wahrheitsgemäß, füge aber immer hinzu, dass ich das locker anginge, kein Zwang, kein Stress. Nach dem anstrengenden, immer gegen die Uhr gelaufenen Hunderter von vor 4 Wochen will ich heute einen „Fun Run“ machen, heißt: locker und entspannt drauflos laufen und sehen, was sich ergibt.
Allerdings muss ich erkennen, dass die Anstiege das Bild leicht verfälschen, denn locker Hügel hochrennen, geht nicht so recht, das ist immer mit Anstrengung verbunden. Die genannten 8 Stunden als denkbare Endzeit sind daher kein Plan, sondern eher eine Abschätzung, was sich bei weitgehend „lockerem Laufen“ und nach der knappen Regeneration ergeben könnten.
Fields Hill
This hill is approximately 22 km from Durban and rises some 213 m over a distance of 3 km. It offers a foretaste of things to come.
Das ist der Hügel, den Sheehan so gefürchtet hat. Er ist in der Tat äußerst unangenehm, beim Up Run erst recht, wie ich beim langen und sich zäh dahin schleppenden Anstieg feststelle. Das Problem ist nicht mal so sehr der Anstieg als solcher, den ich wie ein Uhrwerk abspule. Das Problem ist die Schräge. Der zweite der Big Five ist Teil einer Autobahn, die verläuft kurvig und ist für Autos gebaut. Das bedeutet, sie ist schräg geneigt, und das Laufen auf dieser Schräge knickt die Füße ab, was zunehmend schmerzhafter wird. Ich kneife die Augen zusammen, denn wir laufen gegen die Sonne. Hier begegne ich Didier. Didier ist Franzose, lebt in Australien, er ist zum ersten Mal dabei.„I don’t know, what pace to run.“„Run the pace, you think you could run forever.“ Wir begegnen uns noch öfter im Laufe des Rennens, am Ende finisht er mit 8:01 h in einer exzellenten Zeit.
Der größte Teil des Rennens liegt noch vor mir, aber mir fällt das Laufen nicht leicht. Im Gegenteil, nach 25 km habe ich das Gefühl, bereits jetzt so viel Kraft liegen gelassen zu haben wie sonst im Marathonlauf. Da geht das Rennen aber schon allmählich in die Endphase, während es heute noch nicht mal richtig angefangen hat. Ich sinniere, dass meine Leidensfähigkeit so langsam abnimmt. Vielleicht bewirkt das auch die Vorstellung davon, was noch auf mich zukommt. Sicher spielt auch das überwiegende, kraftzehrende Bergauflaufen mit hinein.
Und ein weiterer, psychologischer Faktor ist nicht zu unterschätzen. Beim Comrades gibt es keine km-Schilder, also, es gibt sie doch, aber andersherum, beginnend „86 km to go“ und dann abwärts zählend. Ich mag das nicht. Das ist, als würde man Schülern, statt ihnen eine erfolgreich absolvierte Klasse zu bescheinigen, ein Zeugnis aushändigen mit „Noch 8 Jahre bis zum Abitur“. Nicht die Konzentration und das Aufbauen auf kleine, überschaubare Teilziele geraten in den Mittelpunkt, sondern nur das, was noch NICHT geschafft ist. Trotzdem sehe ich die grobe Richtlinie 8 Stunden noch als realistisch.
Ich sollte jetzt etwas essen. 87 km ohne Energiezufuhr ist riskant. Also schnappe ich mir nach 30 km ein Stück Banane. Bananen vertrage ich gut, später kommt noch ein Experiment mit einer mehligen Kartoffel hinzu, die liegt mir aber zu pampig im Mund, schlimmer als Gel. Die insgesamt vielleicht 3 Bananen, die ich im Laufe des Rennens verzehre, liefern mir genügend Energie. Nie käme ich auf die Idee, einen Sprengstoffgürtel prall gefüllt mit modischen Gels mitzuschleppen. Wir gewinnen mehr und mehr an Höhe, befinden uns ca. 700 m über dem Meeresspiegel, als der dritte der Big Five vor uns liegt.
Botha’s Hill
Botha’s Hill offers another challenge with a somewhat lesser altitude rise of some ± 150 m, and covering a distance of 2,4 km, but is nevertheless taxing.
Mit kleinen, in gleichmäßigem Rhythmus durchgezogenen Schritten kämpfe ich mich Meter um Meter voran. Viele gehen hier oder wechseln in einen Lauf-/Geh-Rhythmus. Es hat sich gelohnt, in die Hunderter-Vorbereitung leichtes Bergauf-Training zu integrieren: 2-mal die Woche, Abraumhalde, 1,4 km, 70 Höhenmeter, 4-mal rauf und runter. Jetzt profitiere ich davon. Botha’s Hill zieht sich ewig hin. Als ich endlich oben bin, beginnt wohl der schönste Teil der Strecke mit Blick auf eine Art von grüner, fruchtbarer Mittelgebirgslandschaft. Im sonstigen Verlauf ist die 87 km-Strecke nicht besonders schön: fast ausschließlich Asphalt; mal Autobahn, mal Landstraße, mal Stadtstraße; meistens ebene Decke, manchmal holperig, manchmal geneigt, manchmal mit unangenehmen Querrillen. Aber dieser Lauf ist eben kein Landschaftslauf, dieser Lauf ist Abenteuer, Leiden, Grenzerfahrung.
Nachdem ich den Kamm des Hügels hinter mir habe, diesen Blick genieße, kühlenden Wind verspüre – denn mittlerweile ist es warm geworden – , habe ich das Gefühl, neu in das Rennen hinein gefunden zu haben. Jetzt ist es endlich einmal das, was ich angestrebt habe, nämlich lockeres, unbeschwertes Laufen. Bald schließe ich zu einem „Grünen“ auf, dem Inhaber einer grünen Startnummer, das bedeutet, er hat mindestens 10, in diesem Fall 13 Comrades erfolgreich gefinisht. Er erzählt, dass nach der kurz vor uns liegenden „halfway mark“ bis auf Polly Shortts die Hügel geschafft seien und es sich viel angenehmer liefe. Ich höre ihm aufmerksam zu. Das klingt gut.
Plötzlich bemerke ich etwas ganz dicht bei mir, immer näher kommt es, na klar: Das ist ein Gedanke, der mich beschleicht: „Eine zweite Silbermedaille wär doch schön. Sieht ja doof aus, wenn neben der ersten von 2005 etwas andersfarbiges hängt. Blöd zu erklären, wenn jemand fragt, warum.“ Ich liege ganz gut in der Zeit. 7:30 h für eine Silbermedaille sollten zu schaffen sein. Und hier, nach 41 km und „46 km to go“, fällt die Entscheidung: Ich werde um Silber laufen. Das bedeutet ab jetzt: Kein einfaches Draufloslaufen mehr, keine unnützen Verzögerungen, sondern Zeitmanagement! Wenn es nicht klappen sollte: nun ja, ist auch okay. Aber ich habe nun ein Zeitziel.
Etwas später passiere ich die „halfway mark“. Hier ist ordentlich was los, hier boxt der Papst. An der Verpflegungsstation nutze ich die Gelegenheit nachzuschmieren. Eine Helferin hält eine Vaselinetube in die Höhe und bietet an ihrer anderen Hand eine Portion davon an. Im Vorbeilaufen streife ich etwas auf meine Finger und schmiere meinen Schritt ein. Überhaupt die Verpflegung: 48 Stationen gibt es, an jeder diverse Getränke und an vielen feste Nahrung (Bananen, Kartoffeln, Kekse etc.), an einigen eben auch Vaseline sowie Sonnencreme. Eine solch perfekte Versorgung kenne ich von keinem anderen Lauf. Das Genialste aber sind die Getränke. Sie werden in zugeschweißten, kleinen Plastikbeuteln angeboten, schätzungsweise 100 ml. Da schnappe ich mir meistens 2 Beutel, reiße den ersten mit den Zähnen auf und kann dann schluckweise und ohne viel zu verschütten trinken. Den zweiten Beutel kippe ich mir oft zur Kühlung über den Kopf. Perfekt!
Etwas weiter bieten Helfer Rosen an. Ich schnappe mir eine und werfe sie, der Tradition gehorchend, auf „Arthur’s seat“ in Erinnerung an Arthur Newton, einen der Champions und Helden dieses Laufes.
Inchanga
Immediately after reaching the welcome milestone of the halfway mark, runners are confronted with this monster. It winds relentlessly for 2,5 km and also rises some 150 m in altitude.
In praller Sonne der Hitze ausgesetzt – die Vorhersage entpuppt sich als richtig -, noch aber mit etwas kühlendem Wind kämpfe ich mich inmitten der Läuferschlange den vierten Hügel der Big Five hoch. Immer mehr verfallen ins Gehen, wenige nur verbleiben, die sich wie ich laufenderweise langsam, aber beharrlich nach oben kämpfen. „Will this damned hill never end?“ schreie ich heraus, als er nach der nächsten Biegung immer noch weiter ansteigt. Die 2 schwarzen Läufer neben mir antworten nicht, blicken apathisch vor sich hin, als wenn ihr Geist sie bereits verlassen hätte und nur ihre leblosen Körper weiter einem Antriebsimpuls folgten.
Langsam wird es richtig heiß. Viele Anwohner, die links und rechts der Strecke ihre Grillgeräte aufgebaut haben, werden das begrüßen, wir Läufer nicht. Mir steigt der Geruch der Grillwaren und der Qualm der Holzkohle in die Nase, erschwert bisweilen das freie Atmen. Dafür nehmen die Anfeuerungsrufe zu, der Comrades ist in Südafrika ein Großereignis, ein Event. „Welcome, Germany!“, „Well done, Germany, well done!“ bisweilen auch „Hallo Deutschland“ oder „Hau rein!“ rufen sie, wenn sie mich sehen. Auch, wie mir scheint mit respektvollem Unterton: „A Grandmaster!“ Meist hebe ich einen Arm zum Gruß, manchmal rufe ich etwas zurück.
Ich trage mein T-Shirt von vor 6 Jahren, vorne und hinten ist es, von links nach rechts in scharz-rot-gold mit „Germany“ beflockt. In New York hatte ich seinerzeit gesehen, dass viele der Läufer ihre Herkunft kenntlich gemacht hatten, sei es per Fahne oder Text. Für die Zuschauer ist es eine Gaudi, für mich selbst wohltuend, den Zuspruch zu erhalten. Grandmaster kennzeichnet die Altersklasse M 60+. Vorne und hinten prangt eine große, rote „60“ auf meinem Trikot: die „age categoy tag“. Jeder Läufer muss 2 Startnummern tragen: vorne und hinten. Wer in die Preiswertung kommen will, muss ebenfalls vorne und hinten deutlich sichtbar seine Altersklasse zeigen.
Noch zuhause hatte ich die Ergebnislisten vergangener Jahre studiert und gesehen, dass die Siegerzeiten der M60+ oft sogar über 8 Stunden liegen. Daher schien es mir nicht unrealistisch, unter den ersten 3 zu landen. Also kaufte ich beim Abholen der Startunterlagen 2 dieser „tags“ und nähte sie auf mein Trikot. (Ja, mann kann das!)
Die Hitze nimmt weiter zu, vor allem in den Ortschaften staut sie sich. Ich schnappe mir immer mehrere Beutel und schütte mir das kalte Wasser über den Kopf. Die Trinkerei schränke ich etwas ein, da sonst der Druck auf die Blase zu groß wird, und ich will ja nicht ständig zum Pinkeln stehenbleiben. 30 km liegen noch vor mir, ich denke an die Qualen, die das noch bedeutet, und wieder habe ich das Gefühl, dass meine Leidensfähigkeit abnimmt. Ich zwinge mich, die Gedanken an das Ende zu vertreiben und nur an den nächsten km zu denken. Die meisten Läufer neben oder vor mir werden langsamer, ich überhole viele. Immer mehr fallen zudem von einem Moment zum nächsten in den Gehschritt, auch auf ebener Strecke, auch in Bergabpassagen.
Vorne kann ich schon das Schild „10 km to go“ erkennen. Warum ist dieser verfluchte Lauf nicht 77 km lang? Warum müssen es 87 sein? Das sind doch beides krumme Zahlen. 77 wäre genauso gut, immerhin viel länger als ein Marathon! Verflucht nochmal, dann wäre ich wenigstens gleich im Ziel! Verdammte 10 Kilometer! Die brauch ich nicht! Sanft schaltet sich das Über-Ich ein: Die werden den Lauf nicht um 10 km verkürzen, meinetwegen schon gar nicht, und heute auf gar keinen Fall! Also Neuprogrammierung: der nächste km, nur der nächste km, „9 km to go“, und dann kommt 8 km vor dem Ziel die letzte Herausforderung, der letzte der Big Five.
PollyShortts
This is the ultimate in heartbreak hills. It lies in wait 80 km away from Durban and is often the make or break p oint for even the top contenders. The climb is 1,8 km in length with the summit at an altitude of 737 m (a rise of nearly 100 m).
Aber ich irre mich. Kurz vor „9 km to go“ beginnt bereits der Anstieg. Der Mensch-Maschine-Hybrid schaltet auf Maschinenmodus. In gleichmäßigem Rhythmus, ein Fuß vor den anderen, gewinne ich Höhenmeter. Doch die Schaltzentrale bleibt wachsam. Schnell-Scan: „Priorität: hoch, 1996, Halbmarathon, 3 km vorm Ziel, am Hügel überholt, Kraft verballert, anschließend geschlichen, Quälerei, Warnung: Wiederholung unbedingt vermeiden!“ Das werde ich heute auf gar keinen Fall wiederholen. Bald sieben Stunden bin ich auf den Beinen, 80 km habe ich mich gequält, zunehmend mehr. Jetzt will ich auch meine Silbermedaille haben! Die will ich durch nichts gefährden. Also wechsle ich in den Gehschritt – um sofort wieder anzulaufen. Um die Biegung herum kann ich erkennen, dass dort Sonne pur ankommt, und es wäre ja dumm, im Schatten zu gehen und in der Sonne zu laufen. Also mache ich es umgekehrt und nehme mit ca. 2/3 Laufen und 1/3 Gehen diese Hürde, spare etwas Kraft für später.
Endlich oben angekommen, entdecke ich, wie richtig diese Taktik war. Als Gradmesser für die Erschöpfung nehme ich immer die Zeit, die ich zum Trinken brauche. Je erschöpfter ich bin, um so länger die Pausen, um die so wichtige Sauerstoffzufuhr zu gewährleisten. Und ich brauche lange, bis ich den Beutel leer getrunken habe. Aber ich habe einen beruhigenden Zeitpuffer. Es kann kaum noch etwas schief gehen. Die Rechnerei ist einfach, und ich nehme sie nach jedem km vor. 87 km x 5 min = 435 min = 7:15 h. 15 min mehr kann ich mir erlauben (bis 7:30). 7 km to go, 6:49 zeigt die Uhr, also 9:xx von den 15 min verbraucht, verbleiben 5 min. 5 min für 7 km: selbst mit Tempo 5:40 reicht es, und ich liege momentan knapp über 5-er Tempo.
Das letzte Stück Banane habe ich vor 10 km gegessen, jetzt stelle ich auch das Trinken ein. Der Vorteil ist, dass ich den Rhythmus nicht mehr unterbrechen muss; ich bin sicher, dass ich jetzt so durchkomme. Nur Wasserbeutel zur Kühlung des Körpers schnappe ich mir noch.
Pietermaritzburg
Die Straßen und Häuser der Stadt speichern und reflektieren die Hitze noch mehr. Der unterwegs noch kühlende Wind fehlt jetzt völlig. Die Zuschauer stehen Spalier, klatschen, feuern an, treiben die Läufer voran. Die Füße platschen mittlerweile nur noch auf den Boden, die Blasen spüre ich kaum noch, nur weiter, km um km runterzählen. Dann verengt sich die Straße zu einer schmalen Gasse, Countdown, da vorne geht es ins Stadion hinein, die letzten 200 m. Erst hier, kurz vor dem Ziel, erwachen einige Läufer wieder und ziehen einen letzten Schlussspurt an.
Nachdem ich vorher Hunderte überholt habe, ziehen nun 3 oder 4 Läufer an mir vorbei. Mit meinem kleinen Minispurt kann ich nicht dagegen halten. Es ist mir aber auch völlig egal. Ich laufe auf die Zielmatten zu und mache etwas, was ich sonst nie tue, ich reiße beide Arme nach oben. Es ist keine Siegerpose, es ist eine Geste der Erlösung, der Erleichterung, diese Tortur endlich hinter mir zu haben und dem Körper zu geben, was des Körpers ist, nämlich Ruhe, Ruhe, Ruhe!
Willig lasse ich mich fotografieren, stelle mich vor eine Wand, bewege mich dann in Zeitlupe zum Ausgang. „Excuse me, could you jjjjjchchchchjjjjjchchch“ … „Sorry, could jjjjjjchchchhjjjjjchchchchch“ Ich japse nach Luft, brauche den Sauerstoff, mir wird fast schwindlig. Erst nach mehreren Anläufen kann ich meine Frage nach dem internationalen Zelt herausbringen. Dort der gleiche Ablauf. Ich muss mir mehr Zeit lassen. Nach etlichen Minuten geht es besser. Ich spüle unter der eiskalten Dusche den Schweiß und Dreck ab, setze mich, genieße das Nichtstun und schaue ab und an auf die Großleinwand mit dem Zieleinlauf.
Es ist laut, plötzlich schwillt der Lärm übermäßig an. Ich schaue hoch und werde Zeuge eines kleinen Dramas. Ein Läufer ist 20, 30 Meter vor dem Ziel zusammen gebrochen, er kann nicht mehr laufen. Die Uhr bewegt sich unerbittlich auf 9 Stunden zu. 9 Stunden, das trennt die Bill Rowan-Medaille (Bronze mit Silberrand) von der Bronzemedaille. Die Zuschauer feuern den Erschöpften an, andere Läufer hasten an ihm vorbei auf das Ziel zu, es sind nur noch wenige Sekunden. Er stützt sich auf beide Arme, nimmt ein intaktes Bein zur Hilfe und stößt sich ruckweise nach vorne. Er ist kurz vor dem Ziel, keiner im Stadion sitzt mehr, die Menge tobt, schreit, versucht, ihn zum Ziel zu treiben, gleich ist die 9. Stunde erreicht, mit letzter Kraft und in letzter Sekunde wirft dieses gepeinigte Energiebündel sich nach vorne über die Zielmatte und sichert sich tatsächlich mit 8:59:59 h noch die höherwertige Medaille, frenetisch bejubelt von der kochenden Menge.
Welch Kampfgeist, welche Leidenschaft, welche Emotion bricht sich in dieser Sekunde Bahn! Allein sie ist es wert, diese Reise und diesen Lauf unternommen zu haben.
Trainiert, gekämpft, gelitten: für nichts!
Nicht ganz so dramatisch, dennoch kaum weniger emotional verlaufen die Sekunden vor dem Kippen der anderen Medaillen, und besonders in der Stunde 12. 12 Stunden ist die Maximalzeit. Wer in dieser Zeit nicht den Lauf beendet, wird nicht gewertet. Diese 12. Stunde trennt mit Brutalität den, der es gerade noch rechtzeitig schafft, von dem, der nichts hat. Ein Held, ein Finisher, ein Comrade der eine, manifestiert durch die Medaille – ein Geschlagener, ein Niemand, wer 2 Meter hinter ihm läuft, in den Listen steht hinter seinem Namen ein DNF, er hat nichts zum Vorzeigen, Monate der Vorbereitung umsonst, Stunden des Kampfes, der Schinderei und Qualen für nichts! Hier die letzten Sekunden!
Durban, am Tag danach
Ich kenne meine Zeit: 7:23:10 h, eine sichere Silbermedaille. Sonst weiß ich nichts: keine Platzierung, keine Altersklassenposition. Mit meiner Zeit werde ich wohl unter den ersten 3 sein, aber ob es mehr ist, ist offen. Mehrfach während des Laufes riefen mir Begleiter zu: „The guy there in front of us, that’s Bruce Fordyce.He won the race 9 times.“Das ist der absolute Champion, der Held unter den Helden dieses Laufes. Kein anderer hat mehr Siege heraus gelaufen. Seine große Zeit war in den Achtzigern. Der könnte in meiner Altersklasse laufen, und der lief VOR mir.
Ich kaufe eine Zeitung. Ich erfahre, dass ich den 368. Platz erzielt habe (von 11.075 Finishern, nebenbei: über 8.000 der Gemeldeten sind entweder gar nicht gestartet oder haben nicht gefinished). Ich erfahre noch etwas. Bruce Fordyce hat mit 7:30:31 h gefinisht, und er läuft in der AK 50-59. Wow, ich war schneller als der Super-Champion, und der ist sogar noch jünger als ich! Nun will ich es aber wissen. Endlich finde ich einen Internetzugang. Da sehe ich es: erster der Altersklasse M60+! Sogar mit beträchtlichem Vorsprung.
Ich grüble. Laut Unterlagen sollten die jeweils ersten 3 eine Einladung zur „Victory Ceremony“ erhalten („…by invitation only“). Ich habe keine Einladung erhalten. Bei einem beliebigen Feld-, Wald- und Wiesenlauf nehme ich zwar nach Möglichkeit an der Siegerehrung teil, das gehört sich irgendwie so, aber wenn’s mir zu lang dauert, eben auch nicht. Da bin ich leidenschaftslos. Aber das hier ist etwas anderes. Das ist der größte, älteste und traditionsreichste Ultralauf überhaupt. Ich habe gekämpft, mich geschunden, und das möchte ich auch gewürdigt wissen. Auf das Preisgeld (wie ich später nachschlage immerhin 3.000 Rand, also ca. 300 €) kommt es mir gar nicht an.
Ich suche die Telefonnummer heraus und rufe im Veranstalterbüro an. Die Dame ist nicht gerade überqualifiziert, gibt mir aber eine Handynummer. Sie gehört der Ansprechpartnerin für die internationalen Läufer, diese hat mir im Vorfeld immer gut geholfen. Als ich mein Anliegen vortrage, gratuliert sie mir überschwänglich und verspricht, das zu klären und sich bei mir zu melden. Offensichtlich habe ich bei meinen Siegerehrungen wenig Glück, denn das war’s auch schon. Kein Anruf, keine Siegerehrung, nichts!
Ich tröste mich damit, dass es seit 2005, dem Jahr meines ersten Comrades, ganze 4 Zeiten unter 8 h gegeben hat. Die letzte Silbermedaille in der AK M60+ für eine Zeit unter 7:30 h liegt gar 8 Jahre zurück, alles übrigens erzielt im Down Run.Ein wenig ärgerlich ist es aber schon. „It’s not about the money, it’s about the honour.“
Bernd
Nicht zu vergessen die vielen namenlosen Steigungen, manche lang, nur unmerklich ansteigend, andere kurz und giftig, und zwischendurch immer wieder Verlust der mühsam erkämpften Höhe durch abfallende Streckenteile. Der Start erfolgt auf Meereshöhe, das Ziel liegt 650 m hoch. Aber das täuscht. Durch den ständigen Auf- und Ab-Wechsel zeigt der Forerunner am Ende fast 2.000 Meter rauf und mehr als 1.300 Meter runter an. Das ist der Up Run, den will ich heute laufen. Nicht ich allein: mehr als 19.000 sind gemeldet. Was mir ein wenig Sorge bereitet, ist die letzte Wettervorhersage: 24° in Pietermaritzburg und Sonne; Schatten gibt es kaum auf der Strecke.
Durban
Es ist noch dunkel, morgens kurz vor 5.30 Uhr. Ich stehe im ersten Startblock, Seeding A. Als traditionell Shosholoza angestimmt wird, die Menge lautstark mitsingt, knien direkt vor mir 2 Schwarze nieder. Meine Vermutung, dass dies ein Zeichen der Ehrerbietung ist, entpuppt sich als irrig, als ich die Pfütze bemerke, die sich zunehmend zu meinen Füßen bildet. Nach dem wiederum traditionellen Krähen des Hahnes fällt der Startschuss. Tausende Läufer setzen sich in Bewegung. Obwohl die Dr. Pixley Kaseme eine breite Straße ist, wird es ganz schnell ganz eng, da die Läufer aus den hinteren Blöcken wild und ungestüm nach vorne stürmen. Zu eng, ich fühle mich eingezwängt, muss aufpassen, dass ich nicht stürze oder gestürzt werde.
Bald geht es auf eine Autobrücke, aufwärts. Läufer, wohin das Auge nur sehen kann, aber es entzerrt sich langsam, der Intimabstand ist mittlerweile wieder gewahrt. Es ist noch kühl, ein leichter Wind weht. Ich trage den Plastikponcho eines der Sponsoren, eine der besten Startbeigaben überhaupt, trägt sich angenehm, wärmt, ohne stickig zu werden. Ich bin sorgsam bemüht, locker und ja nicht zu schnell zu laufen. Viele halten es ähnlich, der Abstand zu ihnen verändert sich nur wenig, andere dagegen hetzen nach wie vor nach vorn, als würde hier das Rennen entschieden. Wir gewinnen Höhe, aber verlieren auch einen Teil davon wieder. Am Horizont wird es allmählich heller. Als der erste der Big Five auftaucht, ist die Dunkelheit gerade vorbei.
Cowies Hill
Cowies is encountered approximately 14 km from the start and is a moderately difficult climb rising about 137 m in the space of 1,5 km. [der offiziellen Website entnommen]
Die Anstrengung ist spürbar, aber noch erträglich. Mit kleinen Schritten bewege ich mich Meter für Meter aufwärts, bis ich den Kamm erreicht habe. Na immerhin, der erste ist geschafft. Noch behalte ich meinen Poncho an, denn immer mal wieder wird der Wind hässlich kalt. Die ersten Unterhaltungen ergeben sich, was man denn so vorhabe. So um die 8 Stunden, antworte ich wahrheitsgemäß, füge aber immer hinzu, dass ich das locker anginge, kein Zwang, kein Stress. Nach dem anstrengenden, immer gegen die Uhr gelaufenen Hunderter von vor 4 Wochen will ich heute einen „Fun Run“ machen, heißt: locker und entspannt drauflos laufen und sehen, was sich ergibt.
Allerdings muss ich erkennen, dass die Anstiege das Bild leicht verfälschen, denn locker Hügel hochrennen, geht nicht so recht, das ist immer mit Anstrengung verbunden. Die genannten 8 Stunden als denkbare Endzeit sind daher kein Plan, sondern eher eine Abschätzung, was sich bei weitgehend „lockerem Laufen“ und nach der knappen Regeneration ergeben könnten.
Fields Hill
This hill is approximately 22 km from Durban and rises some 213 m over a distance of 3 km. It offers a foretaste of things to come.
Das ist der Hügel, den Sheehan so gefürchtet hat. Er ist in der Tat äußerst unangenehm, beim Up Run erst recht, wie ich beim langen und sich zäh dahin schleppenden Anstieg feststelle. Das Problem ist nicht mal so sehr der Anstieg als solcher, den ich wie ein Uhrwerk abspule. Das Problem ist die Schräge. Der zweite der Big Five ist Teil einer Autobahn, die verläuft kurvig und ist für Autos gebaut. Das bedeutet, sie ist schräg geneigt, und das Laufen auf dieser Schräge knickt die Füße ab, was zunehmend schmerzhafter wird. Ich kneife die Augen zusammen, denn wir laufen gegen die Sonne. Hier begegne ich Didier. Didier ist Franzose, lebt in Australien, er ist zum ersten Mal dabei.„I don’t know, what pace to run.“„Run the pace, you think you could run forever.“ Wir begegnen uns noch öfter im Laufe des Rennens, am Ende finisht er mit 8:01 h in einer exzellenten Zeit.
Der größte Teil des Rennens liegt noch vor mir, aber mir fällt das Laufen nicht leicht. Im Gegenteil, nach 25 km habe ich das Gefühl, bereits jetzt so viel Kraft liegen gelassen zu haben wie sonst im Marathonlauf. Da geht das Rennen aber schon allmählich in die Endphase, während es heute noch nicht mal richtig angefangen hat. Ich sinniere, dass meine Leidensfähigkeit so langsam abnimmt. Vielleicht bewirkt das auch die Vorstellung davon, was noch auf mich zukommt. Sicher spielt auch das überwiegende, kraftzehrende Bergauflaufen mit hinein.
Und ein weiterer, psychologischer Faktor ist nicht zu unterschätzen. Beim Comrades gibt es keine km-Schilder, also, es gibt sie doch, aber andersherum, beginnend „86 km to go“ und dann abwärts zählend. Ich mag das nicht. Das ist, als würde man Schülern, statt ihnen eine erfolgreich absolvierte Klasse zu bescheinigen, ein Zeugnis aushändigen mit „Noch 8 Jahre bis zum Abitur“. Nicht die Konzentration und das Aufbauen auf kleine, überschaubare Teilziele geraten in den Mittelpunkt, sondern nur das, was noch NICHT geschafft ist. Trotzdem sehe ich die grobe Richtlinie 8 Stunden noch als realistisch.
Ich sollte jetzt etwas essen. 87 km ohne Energiezufuhr ist riskant. Also schnappe ich mir nach 30 km ein Stück Banane. Bananen vertrage ich gut, später kommt noch ein Experiment mit einer mehligen Kartoffel hinzu, die liegt mir aber zu pampig im Mund, schlimmer als Gel. Die insgesamt vielleicht 3 Bananen, die ich im Laufe des Rennens verzehre, liefern mir genügend Energie. Nie käme ich auf die Idee, einen Sprengstoffgürtel prall gefüllt mit modischen Gels mitzuschleppen. Wir gewinnen mehr und mehr an Höhe, befinden uns ca. 700 m über dem Meeresspiegel, als der dritte der Big Five vor uns liegt.
Botha’s Hill
Botha’s Hill offers another challenge with a somewhat lesser altitude rise of some ± 150 m, and covering a distance of 2,4 km, but is nevertheless taxing.
Mit kleinen, in gleichmäßigem Rhythmus durchgezogenen Schritten kämpfe ich mich Meter um Meter voran. Viele gehen hier oder wechseln in einen Lauf-/Geh-Rhythmus. Es hat sich gelohnt, in die Hunderter-Vorbereitung leichtes Bergauf-Training zu integrieren: 2-mal die Woche, Abraumhalde, 1,4 km, 70 Höhenmeter, 4-mal rauf und runter. Jetzt profitiere ich davon. Botha’s Hill zieht sich ewig hin. Als ich endlich oben bin, beginnt wohl der schönste Teil der Strecke mit Blick auf eine Art von grüner, fruchtbarer Mittelgebirgslandschaft. Im sonstigen Verlauf ist die 87 km-Strecke nicht besonders schön: fast ausschließlich Asphalt; mal Autobahn, mal Landstraße, mal Stadtstraße; meistens ebene Decke, manchmal holperig, manchmal geneigt, manchmal mit unangenehmen Querrillen. Aber dieser Lauf ist eben kein Landschaftslauf, dieser Lauf ist Abenteuer, Leiden, Grenzerfahrung.
Nachdem ich den Kamm des Hügels hinter mir habe, diesen Blick genieße, kühlenden Wind verspüre – denn mittlerweile ist es warm geworden – , habe ich das Gefühl, neu in das Rennen hinein gefunden zu haben. Jetzt ist es endlich einmal das, was ich angestrebt habe, nämlich lockeres, unbeschwertes Laufen. Bald schließe ich zu einem „Grünen“ auf, dem Inhaber einer grünen Startnummer, das bedeutet, er hat mindestens 10, in diesem Fall 13 Comrades erfolgreich gefinisht. Er erzählt, dass nach der kurz vor uns liegenden „halfway mark“ bis auf Polly Shortts die Hügel geschafft seien und es sich viel angenehmer liefe. Ich höre ihm aufmerksam zu. Das klingt gut.
Plötzlich bemerke ich etwas ganz dicht bei mir, immer näher kommt es, na klar: Das ist ein Gedanke, der mich beschleicht: „Eine zweite Silbermedaille wär doch schön. Sieht ja doof aus, wenn neben der ersten von 2005 etwas andersfarbiges hängt. Blöd zu erklären, wenn jemand fragt, warum.“ Ich liege ganz gut in der Zeit. 7:30 h für eine Silbermedaille sollten zu schaffen sein. Und hier, nach 41 km und „46 km to go“, fällt die Entscheidung: Ich werde um Silber laufen. Das bedeutet ab jetzt: Kein einfaches Draufloslaufen mehr, keine unnützen Verzögerungen, sondern Zeitmanagement! Wenn es nicht klappen sollte: nun ja, ist auch okay. Aber ich habe nun ein Zeitziel.
Etwas später passiere ich die „halfway mark“. Hier ist ordentlich was los, hier boxt der Papst. An der Verpflegungsstation nutze ich die Gelegenheit nachzuschmieren. Eine Helferin hält eine Vaselinetube in die Höhe und bietet an ihrer anderen Hand eine Portion davon an. Im Vorbeilaufen streife ich etwas auf meine Finger und schmiere meinen Schritt ein. Überhaupt die Verpflegung: 48 Stationen gibt es, an jeder diverse Getränke und an vielen feste Nahrung (Bananen, Kartoffeln, Kekse etc.), an einigen eben auch Vaseline sowie Sonnencreme. Eine solch perfekte Versorgung kenne ich von keinem anderen Lauf. Das Genialste aber sind die Getränke. Sie werden in zugeschweißten, kleinen Plastikbeuteln angeboten, schätzungsweise 100 ml. Da schnappe ich mir meistens 2 Beutel, reiße den ersten mit den Zähnen auf und kann dann schluckweise und ohne viel zu verschütten trinken. Den zweiten Beutel kippe ich mir oft zur Kühlung über den Kopf. Perfekt!
Etwas weiter bieten Helfer Rosen an. Ich schnappe mir eine und werfe sie, der Tradition gehorchend, auf „Arthur’s seat“ in Erinnerung an Arthur Newton, einen der Champions und Helden dieses Laufes.
Inchanga
Immediately after reaching the welcome milestone of the halfway mark, runners are confronted with this monster. It winds relentlessly for 2,5 km and also rises some 150 m in altitude.
In praller Sonne der Hitze ausgesetzt – die Vorhersage entpuppt sich als richtig -, noch aber mit etwas kühlendem Wind kämpfe ich mich inmitten der Läuferschlange den vierten Hügel der Big Five hoch. Immer mehr verfallen ins Gehen, wenige nur verbleiben, die sich wie ich laufenderweise langsam, aber beharrlich nach oben kämpfen. „Will this damned hill never end?“ schreie ich heraus, als er nach der nächsten Biegung immer noch weiter ansteigt. Die 2 schwarzen Läufer neben mir antworten nicht, blicken apathisch vor sich hin, als wenn ihr Geist sie bereits verlassen hätte und nur ihre leblosen Körper weiter einem Antriebsimpuls folgten.
Langsam wird es richtig heiß. Viele Anwohner, die links und rechts der Strecke ihre Grillgeräte aufgebaut haben, werden das begrüßen, wir Läufer nicht. Mir steigt der Geruch der Grillwaren und der Qualm der Holzkohle in die Nase, erschwert bisweilen das freie Atmen. Dafür nehmen die Anfeuerungsrufe zu, der Comrades ist in Südafrika ein Großereignis, ein Event. „Welcome, Germany!“, „Well done, Germany, well done!“ bisweilen auch „Hallo Deutschland“ oder „Hau rein!“ rufen sie, wenn sie mich sehen. Auch, wie mir scheint mit respektvollem Unterton: „A Grandmaster!“ Meist hebe ich einen Arm zum Gruß, manchmal rufe ich etwas zurück.
Ich trage mein T-Shirt von vor 6 Jahren, vorne und hinten ist es, von links nach rechts in scharz-rot-gold mit „Germany“ beflockt. In New York hatte ich seinerzeit gesehen, dass viele der Läufer ihre Herkunft kenntlich gemacht hatten, sei es per Fahne oder Text. Für die Zuschauer ist es eine Gaudi, für mich selbst wohltuend, den Zuspruch zu erhalten. Grandmaster kennzeichnet die Altersklasse M 60+. Vorne und hinten prangt eine große, rote „60“ auf meinem Trikot: die „age categoy tag“. Jeder Läufer muss 2 Startnummern tragen: vorne und hinten. Wer in die Preiswertung kommen will, muss ebenfalls vorne und hinten deutlich sichtbar seine Altersklasse zeigen.
Noch zuhause hatte ich die Ergebnislisten vergangener Jahre studiert und gesehen, dass die Siegerzeiten der M60+ oft sogar über 8 Stunden liegen. Daher schien es mir nicht unrealistisch, unter den ersten 3 zu landen. Also kaufte ich beim Abholen der Startunterlagen 2 dieser „tags“ und nähte sie auf mein Trikot. (Ja, mann kann das!)
Die Hitze nimmt weiter zu, vor allem in den Ortschaften staut sie sich. Ich schnappe mir immer mehrere Beutel und schütte mir das kalte Wasser über den Kopf. Die Trinkerei schränke ich etwas ein, da sonst der Druck auf die Blase zu groß wird, und ich will ja nicht ständig zum Pinkeln stehenbleiben. 30 km liegen noch vor mir, ich denke an die Qualen, die das noch bedeutet, und wieder habe ich das Gefühl, dass meine Leidensfähigkeit abnimmt. Ich zwinge mich, die Gedanken an das Ende zu vertreiben und nur an den nächsten km zu denken. Die meisten Läufer neben oder vor mir werden langsamer, ich überhole viele. Immer mehr fallen zudem von einem Moment zum nächsten in den Gehschritt, auch auf ebener Strecke, auch in Bergabpassagen.
Vorne kann ich schon das Schild „10 km to go“ erkennen. Warum ist dieser verfluchte Lauf nicht 77 km lang? Warum müssen es 87 sein? Das sind doch beides krumme Zahlen. 77 wäre genauso gut, immerhin viel länger als ein Marathon! Verflucht nochmal, dann wäre ich wenigstens gleich im Ziel! Verdammte 10 Kilometer! Die brauch ich nicht! Sanft schaltet sich das Über-Ich ein: Die werden den Lauf nicht um 10 km verkürzen, meinetwegen schon gar nicht, und heute auf gar keinen Fall! Also Neuprogrammierung: der nächste km, nur der nächste km, „9 km to go“, und dann kommt 8 km vor dem Ziel die letzte Herausforderung, der letzte der Big Five.
PollyShortts
This is the ultimate in heartbreak hills. It lies in wait 80 km away from Durban and is often the make or break p oint for even the top contenders. The climb is 1,8 km in length with the summit at an altitude of 737 m (a rise of nearly 100 m).
Aber ich irre mich. Kurz vor „9 km to go“ beginnt bereits der Anstieg. Der Mensch-Maschine-Hybrid schaltet auf Maschinenmodus. In gleichmäßigem Rhythmus, ein Fuß vor den anderen, gewinne ich Höhenmeter. Doch die Schaltzentrale bleibt wachsam. Schnell-Scan: „Priorität: hoch, 1996, Halbmarathon, 3 km vorm Ziel, am Hügel überholt, Kraft verballert, anschließend geschlichen, Quälerei, Warnung: Wiederholung unbedingt vermeiden!“ Das werde ich heute auf gar keinen Fall wiederholen. Bald sieben Stunden bin ich auf den Beinen, 80 km habe ich mich gequält, zunehmend mehr. Jetzt will ich auch meine Silbermedaille haben! Die will ich durch nichts gefährden. Also wechsle ich in den Gehschritt – um sofort wieder anzulaufen. Um die Biegung herum kann ich erkennen, dass dort Sonne pur ankommt, und es wäre ja dumm, im Schatten zu gehen und in der Sonne zu laufen. Also mache ich es umgekehrt und nehme mit ca. 2/3 Laufen und 1/3 Gehen diese Hürde, spare etwas Kraft für später.
Endlich oben angekommen, entdecke ich, wie richtig diese Taktik war. Als Gradmesser für die Erschöpfung nehme ich immer die Zeit, die ich zum Trinken brauche. Je erschöpfter ich bin, um so länger die Pausen, um die so wichtige Sauerstoffzufuhr zu gewährleisten. Und ich brauche lange, bis ich den Beutel leer getrunken habe. Aber ich habe einen beruhigenden Zeitpuffer. Es kann kaum noch etwas schief gehen. Die Rechnerei ist einfach, und ich nehme sie nach jedem km vor. 87 km x 5 min = 435 min = 7:15 h. 15 min mehr kann ich mir erlauben (bis 7:30). 7 km to go, 6:49 zeigt die Uhr, also 9:xx von den 15 min verbraucht, verbleiben 5 min. 5 min für 7 km: selbst mit Tempo 5:40 reicht es, und ich liege momentan knapp über 5-er Tempo.
Das letzte Stück Banane habe ich vor 10 km gegessen, jetzt stelle ich auch das Trinken ein. Der Vorteil ist, dass ich den Rhythmus nicht mehr unterbrechen muss; ich bin sicher, dass ich jetzt so durchkomme. Nur Wasserbeutel zur Kühlung des Körpers schnappe ich mir noch.
Pietermaritzburg
Die Straßen und Häuser der Stadt speichern und reflektieren die Hitze noch mehr. Der unterwegs noch kühlende Wind fehlt jetzt völlig. Die Zuschauer stehen Spalier, klatschen, feuern an, treiben die Läufer voran. Die Füße platschen mittlerweile nur noch auf den Boden, die Blasen spüre ich kaum noch, nur weiter, km um km runterzählen. Dann verengt sich die Straße zu einer schmalen Gasse, Countdown, da vorne geht es ins Stadion hinein, die letzten 200 m. Erst hier, kurz vor dem Ziel, erwachen einige Läufer wieder und ziehen einen letzten Schlussspurt an.
Nachdem ich vorher Hunderte überholt habe, ziehen nun 3 oder 4 Läufer an mir vorbei. Mit meinem kleinen Minispurt kann ich nicht dagegen halten. Es ist mir aber auch völlig egal. Ich laufe auf die Zielmatten zu und mache etwas, was ich sonst nie tue, ich reiße beide Arme nach oben. Es ist keine Siegerpose, es ist eine Geste der Erlösung, der Erleichterung, diese Tortur endlich hinter mir zu haben und dem Körper zu geben, was des Körpers ist, nämlich Ruhe, Ruhe, Ruhe!
Willig lasse ich mich fotografieren, stelle mich vor eine Wand, bewege mich dann in Zeitlupe zum Ausgang. „Excuse me, could you jjjjjchchchchjjjjjchchch“ … „Sorry, could jjjjjjchchchhjjjjjchchchchch“ Ich japse nach Luft, brauche den Sauerstoff, mir wird fast schwindlig. Erst nach mehreren Anläufen kann ich meine Frage nach dem internationalen Zelt herausbringen. Dort der gleiche Ablauf. Ich muss mir mehr Zeit lassen. Nach etlichen Minuten geht es besser. Ich spüle unter der eiskalten Dusche den Schweiß und Dreck ab, setze mich, genieße das Nichtstun und schaue ab und an auf die Großleinwand mit dem Zieleinlauf.
Es ist laut, plötzlich schwillt der Lärm übermäßig an. Ich schaue hoch und werde Zeuge eines kleinen Dramas. Ein Läufer ist 20, 30 Meter vor dem Ziel zusammen gebrochen, er kann nicht mehr laufen. Die Uhr bewegt sich unerbittlich auf 9 Stunden zu. 9 Stunden, das trennt die Bill Rowan-Medaille (Bronze mit Silberrand) von der Bronzemedaille. Die Zuschauer feuern den Erschöpften an, andere Läufer hasten an ihm vorbei auf das Ziel zu, es sind nur noch wenige Sekunden. Er stützt sich auf beide Arme, nimmt ein intaktes Bein zur Hilfe und stößt sich ruckweise nach vorne. Er ist kurz vor dem Ziel, keiner im Stadion sitzt mehr, die Menge tobt, schreit, versucht, ihn zum Ziel zu treiben, gleich ist die 9. Stunde erreicht, mit letzter Kraft und in letzter Sekunde wirft dieses gepeinigte Energiebündel sich nach vorne über die Zielmatte und sichert sich tatsächlich mit 8:59:59 h noch die höherwertige Medaille, frenetisch bejubelt von der kochenden Menge.
Welch Kampfgeist, welche Leidenschaft, welche Emotion bricht sich in dieser Sekunde Bahn! Allein sie ist es wert, diese Reise und diesen Lauf unternommen zu haben.
Trainiert, gekämpft, gelitten: für nichts!
Nicht ganz so dramatisch, dennoch kaum weniger emotional verlaufen die Sekunden vor dem Kippen der anderen Medaillen, und besonders in der Stunde 12. 12 Stunden ist die Maximalzeit. Wer in dieser Zeit nicht den Lauf beendet, wird nicht gewertet. Diese 12. Stunde trennt mit Brutalität den, der es gerade noch rechtzeitig schafft, von dem, der nichts hat. Ein Held, ein Finisher, ein Comrade der eine, manifestiert durch die Medaille – ein Geschlagener, ein Niemand, wer 2 Meter hinter ihm läuft, in den Listen steht hinter seinem Namen ein DNF, er hat nichts zum Vorzeigen, Monate der Vorbereitung umsonst, Stunden des Kampfes, der Schinderei und Qualen für nichts! Hier die letzten Sekunden!
Durban, am Tag danach
Ich kenne meine Zeit: 7:23:10 h, eine sichere Silbermedaille. Sonst weiß ich nichts: keine Platzierung, keine Altersklassenposition. Mit meiner Zeit werde ich wohl unter den ersten 3 sein, aber ob es mehr ist, ist offen. Mehrfach während des Laufes riefen mir Begleiter zu: „The guy there in front of us, that’s Bruce Fordyce.He won the race 9 times.“Das ist der absolute Champion, der Held unter den Helden dieses Laufes. Kein anderer hat mehr Siege heraus gelaufen. Seine große Zeit war in den Achtzigern. Der könnte in meiner Altersklasse laufen, und der lief VOR mir.
Ich kaufe eine Zeitung. Ich erfahre, dass ich den 368. Platz erzielt habe (von 11.075 Finishern, nebenbei: über 8.000 der Gemeldeten sind entweder gar nicht gestartet oder haben nicht gefinished). Ich erfahre noch etwas. Bruce Fordyce hat mit 7:30:31 h gefinisht, und er läuft in der AK 50-59. Wow, ich war schneller als der Super-Champion, und der ist sogar noch jünger als ich! Nun will ich es aber wissen. Endlich finde ich einen Internetzugang. Da sehe ich es: erster der Altersklasse M60+! Sogar mit beträchtlichem Vorsprung.
Ich grüble. Laut Unterlagen sollten die jeweils ersten 3 eine Einladung zur „Victory Ceremony“ erhalten („…by invitation only“). Ich habe keine Einladung erhalten. Bei einem beliebigen Feld-, Wald- und Wiesenlauf nehme ich zwar nach Möglichkeit an der Siegerehrung teil, das gehört sich irgendwie so, aber wenn’s mir zu lang dauert, eben auch nicht. Da bin ich leidenschaftslos. Aber das hier ist etwas anderes. Das ist der größte, älteste und traditionsreichste Ultralauf überhaupt. Ich habe gekämpft, mich geschunden, und das möchte ich auch gewürdigt wissen. Auf das Preisgeld (wie ich später nachschlage immerhin 3.000 Rand, also ca. 300 €) kommt es mir gar nicht an.
Ich suche die Telefonnummer heraus und rufe im Veranstalterbüro an. Die Dame ist nicht gerade überqualifiziert, gibt mir aber eine Handynummer. Sie gehört der Ansprechpartnerin für die internationalen Läufer, diese hat mir im Vorfeld immer gut geholfen. Als ich mein Anliegen vortrage, gratuliert sie mir überschwänglich und verspricht, das zu klären und sich bei mir zu melden. Offensichtlich habe ich bei meinen Siegerehrungen wenig Glück, denn das war’s auch schon. Kein Anruf, keine Siegerehrung, nichts!
Ich tröste mich damit, dass es seit 2005, dem Jahr meines ersten Comrades, ganze 4 Zeiten unter 8 h gegeben hat. Die letzte Silbermedaille in der AK M60+ für eine Zeit unter 7:30 h liegt gar 8 Jahre zurück, alles übrigens erzielt im Down Run.Ein wenig ärgerlich ist es aber schon. „It’s not about the money, it’s about the honour.“
Bernd