Operation Doppelfinish Köln Berlin - Von Phantomschwerzen und einem arg geprügelten Schweinehund! (Vorsicht: Überlänge!)
Verfasst: 28.09.2004, 12:53
Hallo zusammen!
Ihr erinnert Euch? Vor zwei Wochen schrieb ich noch, ich hätte mein Marathon-Debut in Köln gefeiert. 4:25 h war ich damals unterwegs - meinen herzlichen Dank an dieser Stelle an alle Gratulanten.
Verschwiegen habe ich, dass das im September nicht der letzte lange Lauf sein sollte. Nach dem Marathon war vor dem Marathon!
Ein kurzer Blick zurück. Den Marathon in Köln habe ich dank des mächtigen Endorphin-Schubs sehr schnell und sehr gut verkraftet - nach zwei Tagen bereits eine Stunde Fahrrad fahren, nach drei Tagen 45 Minuten gemütliches Schwimmen. Die Oberschenkel protestieren - fügen sich dann aber doch. Der Muskelkater verschwindet.
Aber: Meine Beine regenieren schneller als mein Kopf. Zweifel machen sich breit. Nochmal auf die Strecke gehen und 42km laufen - geht sowas überhaupt? Möglicherweise. Ist das vernünftig? Mit Sicherheit nicht!
Suchende Blicke durch diverse Foren - ich werde fündig. Auch andere Läufer liebäugeln mit einem Doppelstart - mit dem Unterschied, dass Sie schon einiges an läuferischer Erfahrung mitbringen. Ich nicht. Gedanken kreisen an die Vielstarten vom MMC 100. Auch die laufen ja öfters. Aber ich? Wie soll das gehen? Das kann nicht gehen!
Sonntag, 19.9. Halbzeit zwischen Köln und Berlin. Meine Füße kribbeln, ich will wieder laufen. 5 kleine Kilometer - so kurz wie nie in der Vorbereitung; das muss doch machbar sein. Schnell macht sich jedoch schlechte Stimmung breit, das Laufen ist unrund und kein Vergnügen. Die Oberschenkel pochen nach der Strecke. Danach ab in die Sauna. Aktives Erholen.
Penibel achte ich auf jede Reaktion meines Körpers.
Montag, 20.9. Die Muskeln sind locker, auf dem Weg zur Arbeit plötzlich ein Stechen in der Wade. Nach drei Minuten verschwindet der Schmerz. Er kommt auch nicht wieder. Was war das?
Dienstag, 21.9. Diesmal nicht die Wade. Heute zwickt das linke Knie. Ich hatte in den letzten 12 Monaten nie Probleme dieser Art - was soll das jetzt? Ein bisschen Panik macht sich breit - Zweifel: "Soll ich überhaupt laufen? Hmm, Spontanentscheidung am Samstag! Jawohl, so mach ich´s."
Abends meine kurze Hausstrecke, 10km in leicht gemäßigtem Tempo. Rund laufen ist anders, aber es geht viel besser als am Sonntag. Schmerzfrei. Hoffnung macht sich breit.
Mittwoch, 22.9. Morgens-meine Hüfte tut weh. Links. Körper, willst Du mir was sagen? Nach einer Stunde ist alles wieder normal. Der Schwerz ist weg?! Marathon wird mit dem Kopf gelaufen - ich glaube, an dieser Stelle beginnt mein Lauf!
Abends die letzte Einheit, knapp 40 Minuten im normalen Tempo, schneller als gestern. Es regnet in Strömen, nein,es schüttet! Kein Läufer ist unterwegs. Ich geniesse die Stille. Du wirst nach Berlin fliegen. Punkt!
Nach dem Lauf wieder in die Sauna. Der Regen klatscht an die Fenster, ich liege in der Wärme. An diese Momente werde ich Sonntag oft denken - das weiß ich jetzt aber noch nicht.
Donnerstag, 23.9. Jedes Wehwehchen bekommt große Aufmerksamkeit. Da zwickt mal der Oberschenkel, dann piekst plötzlich das Knie. Ich beschliesse, dass das nur reine Phantomschmerzen sind. So plötzlich wie sie kamen sind sie wieder weg! Interessant...!
Freitag. 24.9. Ich mache meine Liste fertig, was ich mitnehmen muss. Bloss nicht die Pflaster für die Brustwarzen vergessen. Ich werde langsam nervös.
Wie mein Umfeld auf meine Pläne reagiert? So wie Ihr warscheinlich, mit Vogelzeigen und Kopfschütteln. Recht haben Sie dummerweise auch noch!
Samstag, 25.9.: Auf nach Berlin. Ab in den Flieger, die Startunterlagen wurden schon abgeholt. Die 3091 liegt bereit. Um kurz vor Mitternacht schlafe ich ein. Nichts tut mir weh. Na endlich!
Sonntag, Marathontag!
Um 5:30h stehe ich auf, rein in die warme Dusche und her mit den Bananen. Andere Nahrung kriege ich um diese Uhrzeit nicht runter. Also, keine Experimente.
Um kurz vor sieben starte ich in die U-Bahn, die pünktlich ist. Um kurz nach halb acht bin ich am Lehrter Bahnhof - sollte hier nicht ein Verkehrschaos sein? Die Veranstalter und die BVG haben wohl dazugelernt. Bravo. In gemütlichem Tempo zum Kleider-LKW. Ein großes Lob an die Orga, die Kleiderabgabe klappt vorzüglich. Bundeswehrsoldaten bauen gerade erst die Massage-Liegen auf. Ein riesiges Gelände. Um viertel vor acht biege ich auf die Straße des 17. Juni ein - der Startbereich ist zu sehen, dahinter die Goldelse. Ich schlucke tief...
Dead man walking!
8.30h. Der Startblock füllt sich. Ich wärme mich mit tausenden anderen zum Takt der Vorturner auf. Mir ist nicht nach laufen zumute. Der Regen hat eingesetzt, und trotz 10 Minuten "noch 3-2-1 Fittnessbewegungen" fröstelt es mich. Dass der Oberschenkel sich nicht nach laufen anfühlt, missachte ich.
9 Uhr. Der Startschuss der ersten Gruppe. Ballons steigen auf. Und wir... stehen brav weiter im Block H. Letzter Besuch bei den Dixis.
9.15 Uhr. Die Reise beginnt - der Block setzt sich in Bewegung.
9.20 Uhr - ich überquere die Startlinie. Marathon wird im Kopf entschieden. Nun denn...
Voll ist es, wie bereits erwartet, finde ich nicht zu meinem Tempo - werde immer wieder auf den ersten zwei Km gebremst. Nicht aufregen, wer weiss, wafür es gut ist.
Km 5 - 0:30:39 h - das Tempo ist gefundet, pendelt um 6:05/km. So soll es sein - mein Paceband gab 6:10 vor.
Die Stimmung am Streckenrand ist relativ ruhig, naja, ist ja noch früher morgen.
Km 10 (1:00:06) ist erreicht, als ich eine Druckstelle am rechten Fuss bemerke. Ich stoppe kurz, um den Sitz des Sockens zu korrigieren - danach fühlt es sich noch schlechter an. Nun gut, dann halt eine Blase. Sei es drum. Wenn das Dein einziges Problem wird, ok!
Km 12: Ich bin nicht allein - soeben überholt mich ein Läufer mit dem Kölner Finisher-Shirt. Er ist verdammt schnell unterwegs und bald meinem Blick entschwunden. Nun, der sah nicht unbedingt aus wie ein Mitglied des MMC 100. Hoffnung keimt auf.
Km 15 (1:30:13) : die Straßen werden voller, mehr Menschen sind an der Strecke - aber was soll das? Warum klatscht Ihr nicht? Vereinzelt unmotiviertes Geklatsche, sonst verschränkte Arme. Hmm... komisch. Hatte ich so nicht erwartet! 1 Mio. Menschen an der Strecke? Wo seid Íhr? Nur an den Stellen, wo Live-Bands spielen, rockt der Bär!
Km 16/17: Wie aus dem Nichts steht am rechten Rand eine Gruppe, die aus einem Ghetto-Blaster Kölsche Musik spielt - ich winke Ihnen zu, singe mit und wäre am liebsten kurz stehen geblieben! Sie spielen: "Echte Fründe stonn zusamme"! Viva Colonia!
Km 20 (2:01) : Alles im Lot, keine besonderen Schmerzen. Die Blase wird größer und drückt und piekt. Der Nieselregen stört mich nicht. Mir ist warm genug!
Km 23: Kurz nach der letzten Wasserstelle bekomme ich Magenschmerzen, nicht sehr schlimm, aber auch nicht angenehm - vielleicht das Wasser, das recht kühl ist? Hmm, weiter laufen, vielleicht gibts ja gleich einen Tee?!
Km 25 (2:33:30) : Der Magen tut jetzt richtig weh. Ich laufe an der Schwelle zu Seitenstechen. Also, Gang raus. Langsamer und kontrolliert laufen. Knack- und schon geht die Blase auf. Ein kurzes Brennen, dann ist´s erträglich.
Km 27: Der Platz am Wilder Eber. Jawoll, so hatte ich mir die Stimmung vorgestellt. Gänsehaut-Feeling unter den Bäumen der Allee!! Nur der Magen...
Km 29: Der Magen hat aufgegeben. Gatorade aus meinem Gürtel
verträgt er besser.
Ich spüre aber zum ersten Mal ein Loch, ob das der Hammermann ist? Wieder langsamer werden. Nur nicht drüber nachdenken, schließlich wird Marathon mit dem Kopf...
Km 30 (3 Stunden, 8 Minuten) : Für einen kurzen Moment bin ich stolz. Weil ich selbst Zweifel hatte, ob ich diese Linie überlaufen würde. Und wenig später - da, ja, das ist er: der Finisher aus Köln. Tuckelt langsam vorwärts. Kurz vor der 31er Marke überhole ich ihn. Er sieht müde aus - ich weiss, wie es ihm geht!
Km 33: Ich bin fertig. Müde, leer im Kopf und körperlich ausgepumpt. Der Hammermann stößt mit meinem Schweinehund auf ein gutes Gelingen an. Warum laufe ich eigentlich noch? Aber... noch laufe ich...
Die Beine tun schon weh beim Wiederanlaufen vom Wasserstand.
Km 34: In Gedanken ziehe ich dem Schweinehund tüchtig einen drüber. Heute kriegst Du tüchtig Kasalla, mein Freund - 6min10/km!!!
Km 35: (3:45:22) : Keine Kraft mehr. Up und down im Wechsel. Hart.
Ein warmer Tee (ich glaub das war der beste Kamillentee meines Lebens) hilft mir erneut auf die Strecke.
Km 36: Ich laufe - langsam, aber noch immer. Ich hadere mit Gott und der Welt, warum tue ich mir das an? Was soll das?!
Advantage Schweinehund!
Km 37: Nein, Du wirst nicht gehen. Nein und nochmals nein. NEIN!
Inzwischen sind auch die Berliner aufgewacht. Seit km 31 stehen Sie in Doppelreihen und klatschen. Bravo - so macht das Spass! Danke, auch wenn Ihr mich nicht kennt! Ich freue mich über jedes Plakat, auch wenn es nicht für mich ist - alles was hilft, ist jetzt willkommen.
km 38: Das Debakel droht. Ich bin so fertig wie niemals zuvor. Ich denke zurück an Köln, an das Gefühl des ersten Zieleinlaufs. Ich habe damals nicht geweint. Heute? Mental bin ich am Ende. Körperlich schon seit 5 km. Das wird, nein, das IST eine harte Nummer.
Matchball Schweinehund.
km 39: Wieder eine Kurve, die die Läufer weiter weg vom Ziel bringt. Das ist die falsche Richtung!!!
Eine Mitläuferin unterhält sich mit Ihrer Kollegin. O-Ton:"Gloob mir, wenn Du et bis zum rooten Rathaus schaffen tus, klappt det och!" Oder so. Nun denn, das wird auch mein Motto! Und das Rathaus kommt!
km 40 (4:24:29) : Mich interessieren keine Zeiten mehr. Ich will nur ankommen. Noch eine Kurve und das Brandenburger Tor ist in Sicht. Langsam, aber jetzt schneller werden: ich laufe noch immer!
EAT THIS, Schweinehund!
km 41,9 - Brandenburger Tor. Ich komme an. Ich bin fertig. Sowas von restlos fertig! Aber ich winke den Zuschauern zu! Die Beine laufen von alleine! Ein schönes Gefühl!
Ziel: (4:39:00) - die Zeit? Who cares??? Mit geballter Faust laufe ich durchs Ziel. Stille dahinter. Menschen gehen schweigend langsam weiter. Eine Prozession in weissen Folien. Es ist gespenstisch ruhig, aber gelöst. Niemand spricht. Einige sitzen erschöpft am Straßenrand. Andere umarmen sich.
Ich hoffe, ganz für mich, dass es noch heisses Wasser gibt in den Duschzelten. Mein Hoffen wird erhört.
Abends der Rückflug nach Köln.
Am Flugsteig D4 stehen kölsche Weisheiten an der Wand.
Eine davon springt mir ins Auge: "Machet jot - ävver nit zu off!"
Ich werde das künftig berücksichtigen.
Die Check-Out-Tür öffnet sich. Draussen steht meine Freundin. Als Sie mich sieht, reisst Sie ein Schild hoch!
"FINISHER !!!"
Jetzt kullert eine Träne...
Heute.
Mir geht es gut. Knie und Hüfte schweigen, die Oberschenkel tun weh.
Marathon? Ich bin froh, dass ich mich nicht verletzt habe. Und - ja!
Ich werde wieder Marathon laufen! Nächstes Jahr!
Das habe ich im Kopf bereits entschieden!
Grüße aus der Domstadt
Guido
[ Dieser Beitrag wurde von guidoköln am 28.09.2004 editiert. ]
[ Dieser Beitrag wurde von guidoköln am 28.09.2004 editiert. ]
Ihr erinnert Euch? Vor zwei Wochen schrieb ich noch, ich hätte mein Marathon-Debut in Köln gefeiert. 4:25 h war ich damals unterwegs - meinen herzlichen Dank an dieser Stelle an alle Gratulanten.
Verschwiegen habe ich, dass das im September nicht der letzte lange Lauf sein sollte. Nach dem Marathon war vor dem Marathon!
Ein kurzer Blick zurück. Den Marathon in Köln habe ich dank des mächtigen Endorphin-Schubs sehr schnell und sehr gut verkraftet - nach zwei Tagen bereits eine Stunde Fahrrad fahren, nach drei Tagen 45 Minuten gemütliches Schwimmen. Die Oberschenkel protestieren - fügen sich dann aber doch. Der Muskelkater verschwindet.
Aber: Meine Beine regenieren schneller als mein Kopf. Zweifel machen sich breit. Nochmal auf die Strecke gehen und 42km laufen - geht sowas überhaupt? Möglicherweise. Ist das vernünftig? Mit Sicherheit nicht!
Suchende Blicke durch diverse Foren - ich werde fündig. Auch andere Läufer liebäugeln mit einem Doppelstart - mit dem Unterschied, dass Sie schon einiges an läuferischer Erfahrung mitbringen. Ich nicht. Gedanken kreisen an die Vielstarten vom MMC 100. Auch die laufen ja öfters. Aber ich? Wie soll das gehen? Das kann nicht gehen!
Sonntag, 19.9. Halbzeit zwischen Köln und Berlin. Meine Füße kribbeln, ich will wieder laufen. 5 kleine Kilometer - so kurz wie nie in der Vorbereitung; das muss doch machbar sein. Schnell macht sich jedoch schlechte Stimmung breit, das Laufen ist unrund und kein Vergnügen. Die Oberschenkel pochen nach der Strecke. Danach ab in die Sauna. Aktives Erholen.
Penibel achte ich auf jede Reaktion meines Körpers.
Montag, 20.9. Die Muskeln sind locker, auf dem Weg zur Arbeit plötzlich ein Stechen in der Wade. Nach drei Minuten verschwindet der Schmerz. Er kommt auch nicht wieder. Was war das?
Dienstag, 21.9. Diesmal nicht die Wade. Heute zwickt das linke Knie. Ich hatte in den letzten 12 Monaten nie Probleme dieser Art - was soll das jetzt? Ein bisschen Panik macht sich breit - Zweifel: "Soll ich überhaupt laufen? Hmm, Spontanentscheidung am Samstag! Jawohl, so mach ich´s."
Abends meine kurze Hausstrecke, 10km in leicht gemäßigtem Tempo. Rund laufen ist anders, aber es geht viel besser als am Sonntag. Schmerzfrei. Hoffnung macht sich breit.
Mittwoch, 22.9. Morgens-meine Hüfte tut weh. Links. Körper, willst Du mir was sagen? Nach einer Stunde ist alles wieder normal. Der Schwerz ist weg?! Marathon wird mit dem Kopf gelaufen - ich glaube, an dieser Stelle beginnt mein Lauf!
Abends die letzte Einheit, knapp 40 Minuten im normalen Tempo, schneller als gestern. Es regnet in Strömen, nein,es schüttet! Kein Läufer ist unterwegs. Ich geniesse die Stille. Du wirst nach Berlin fliegen. Punkt!
Nach dem Lauf wieder in die Sauna. Der Regen klatscht an die Fenster, ich liege in der Wärme. An diese Momente werde ich Sonntag oft denken - das weiß ich jetzt aber noch nicht.
Donnerstag, 23.9. Jedes Wehwehchen bekommt große Aufmerksamkeit. Da zwickt mal der Oberschenkel, dann piekst plötzlich das Knie. Ich beschliesse, dass das nur reine Phantomschmerzen sind. So plötzlich wie sie kamen sind sie wieder weg! Interessant...!
Freitag. 24.9. Ich mache meine Liste fertig, was ich mitnehmen muss. Bloss nicht die Pflaster für die Brustwarzen vergessen. Ich werde langsam nervös.
Wie mein Umfeld auf meine Pläne reagiert? So wie Ihr warscheinlich, mit Vogelzeigen und Kopfschütteln. Recht haben Sie dummerweise auch noch!
Samstag, 25.9.: Auf nach Berlin. Ab in den Flieger, die Startunterlagen wurden schon abgeholt. Die 3091 liegt bereit. Um kurz vor Mitternacht schlafe ich ein. Nichts tut mir weh. Na endlich!
Sonntag, Marathontag!
Um 5:30h stehe ich auf, rein in die warme Dusche und her mit den Bananen. Andere Nahrung kriege ich um diese Uhrzeit nicht runter. Also, keine Experimente.
Um kurz vor sieben starte ich in die U-Bahn, die pünktlich ist. Um kurz nach halb acht bin ich am Lehrter Bahnhof - sollte hier nicht ein Verkehrschaos sein? Die Veranstalter und die BVG haben wohl dazugelernt. Bravo. In gemütlichem Tempo zum Kleider-LKW. Ein großes Lob an die Orga, die Kleiderabgabe klappt vorzüglich. Bundeswehrsoldaten bauen gerade erst die Massage-Liegen auf. Ein riesiges Gelände. Um viertel vor acht biege ich auf die Straße des 17. Juni ein - der Startbereich ist zu sehen, dahinter die Goldelse. Ich schlucke tief...
Dead man walking!
8.30h. Der Startblock füllt sich. Ich wärme mich mit tausenden anderen zum Takt der Vorturner auf. Mir ist nicht nach laufen zumute. Der Regen hat eingesetzt, und trotz 10 Minuten "noch 3-2-1 Fittnessbewegungen" fröstelt es mich. Dass der Oberschenkel sich nicht nach laufen anfühlt, missachte ich.
9 Uhr. Der Startschuss der ersten Gruppe. Ballons steigen auf. Und wir... stehen brav weiter im Block H. Letzter Besuch bei den Dixis.
9.15 Uhr. Die Reise beginnt - der Block setzt sich in Bewegung.
9.20 Uhr - ich überquere die Startlinie. Marathon wird im Kopf entschieden. Nun denn...
Voll ist es, wie bereits erwartet, finde ich nicht zu meinem Tempo - werde immer wieder auf den ersten zwei Km gebremst. Nicht aufregen, wer weiss, wafür es gut ist.
Km 5 - 0:30:39 h - das Tempo ist gefundet, pendelt um 6:05/km. So soll es sein - mein Paceband gab 6:10 vor.
Die Stimmung am Streckenrand ist relativ ruhig, naja, ist ja noch früher morgen.
Km 10 (1:00:06) ist erreicht, als ich eine Druckstelle am rechten Fuss bemerke. Ich stoppe kurz, um den Sitz des Sockens zu korrigieren - danach fühlt es sich noch schlechter an. Nun gut, dann halt eine Blase. Sei es drum. Wenn das Dein einziges Problem wird, ok!
Km 12: Ich bin nicht allein - soeben überholt mich ein Läufer mit dem Kölner Finisher-Shirt. Er ist verdammt schnell unterwegs und bald meinem Blick entschwunden. Nun, der sah nicht unbedingt aus wie ein Mitglied des MMC 100. Hoffnung keimt auf.
Km 15 (1:30:13) : die Straßen werden voller, mehr Menschen sind an der Strecke - aber was soll das? Warum klatscht Ihr nicht? Vereinzelt unmotiviertes Geklatsche, sonst verschränkte Arme. Hmm... komisch. Hatte ich so nicht erwartet! 1 Mio. Menschen an der Strecke? Wo seid Íhr? Nur an den Stellen, wo Live-Bands spielen, rockt der Bär!
Km 16/17: Wie aus dem Nichts steht am rechten Rand eine Gruppe, die aus einem Ghetto-Blaster Kölsche Musik spielt - ich winke Ihnen zu, singe mit und wäre am liebsten kurz stehen geblieben! Sie spielen: "Echte Fründe stonn zusamme"! Viva Colonia!
Km 20 (2:01) : Alles im Lot, keine besonderen Schmerzen. Die Blase wird größer und drückt und piekt. Der Nieselregen stört mich nicht. Mir ist warm genug!
Km 23: Kurz nach der letzten Wasserstelle bekomme ich Magenschmerzen, nicht sehr schlimm, aber auch nicht angenehm - vielleicht das Wasser, das recht kühl ist? Hmm, weiter laufen, vielleicht gibts ja gleich einen Tee?!
Km 25 (2:33:30) : Der Magen tut jetzt richtig weh. Ich laufe an der Schwelle zu Seitenstechen. Also, Gang raus. Langsamer und kontrolliert laufen. Knack- und schon geht die Blase auf. Ein kurzes Brennen, dann ist´s erträglich.
Km 27: Der Platz am Wilder Eber. Jawoll, so hatte ich mir die Stimmung vorgestellt. Gänsehaut-Feeling unter den Bäumen der Allee!! Nur der Magen...
Km 29: Der Magen hat aufgegeben. Gatorade aus meinem Gürtel
verträgt er besser.
Ich spüre aber zum ersten Mal ein Loch, ob das der Hammermann ist? Wieder langsamer werden. Nur nicht drüber nachdenken, schließlich wird Marathon mit dem Kopf...
Km 30 (3 Stunden, 8 Minuten) : Für einen kurzen Moment bin ich stolz. Weil ich selbst Zweifel hatte, ob ich diese Linie überlaufen würde. Und wenig später - da, ja, das ist er: der Finisher aus Köln. Tuckelt langsam vorwärts. Kurz vor der 31er Marke überhole ich ihn. Er sieht müde aus - ich weiss, wie es ihm geht!
Km 33: Ich bin fertig. Müde, leer im Kopf und körperlich ausgepumpt. Der Hammermann stößt mit meinem Schweinehund auf ein gutes Gelingen an. Warum laufe ich eigentlich noch? Aber... noch laufe ich...
Die Beine tun schon weh beim Wiederanlaufen vom Wasserstand.
Km 34: In Gedanken ziehe ich dem Schweinehund tüchtig einen drüber. Heute kriegst Du tüchtig Kasalla, mein Freund - 6min10/km!!!
Km 35: (3:45:22) : Keine Kraft mehr. Up und down im Wechsel. Hart.
Ein warmer Tee (ich glaub das war der beste Kamillentee meines Lebens) hilft mir erneut auf die Strecke.
Km 36: Ich laufe - langsam, aber noch immer. Ich hadere mit Gott und der Welt, warum tue ich mir das an? Was soll das?!
Advantage Schweinehund!
Km 37: Nein, Du wirst nicht gehen. Nein und nochmals nein. NEIN!
Inzwischen sind auch die Berliner aufgewacht. Seit km 31 stehen Sie in Doppelreihen und klatschen. Bravo - so macht das Spass! Danke, auch wenn Ihr mich nicht kennt! Ich freue mich über jedes Plakat, auch wenn es nicht für mich ist - alles was hilft, ist jetzt willkommen.
km 38: Das Debakel droht. Ich bin so fertig wie niemals zuvor. Ich denke zurück an Köln, an das Gefühl des ersten Zieleinlaufs. Ich habe damals nicht geweint. Heute? Mental bin ich am Ende. Körperlich schon seit 5 km. Das wird, nein, das IST eine harte Nummer.
Matchball Schweinehund.
km 39: Wieder eine Kurve, die die Läufer weiter weg vom Ziel bringt. Das ist die falsche Richtung!!!
Eine Mitläuferin unterhält sich mit Ihrer Kollegin. O-Ton:"Gloob mir, wenn Du et bis zum rooten Rathaus schaffen tus, klappt det och!" Oder so. Nun denn, das wird auch mein Motto! Und das Rathaus kommt!
km 40 (4:24:29) : Mich interessieren keine Zeiten mehr. Ich will nur ankommen. Noch eine Kurve und das Brandenburger Tor ist in Sicht. Langsam, aber jetzt schneller werden: ich laufe noch immer!
EAT THIS, Schweinehund!
km 41,9 - Brandenburger Tor. Ich komme an. Ich bin fertig. Sowas von restlos fertig! Aber ich winke den Zuschauern zu! Die Beine laufen von alleine! Ein schönes Gefühl!
Ziel: (4:39:00) - die Zeit? Who cares??? Mit geballter Faust laufe ich durchs Ziel. Stille dahinter. Menschen gehen schweigend langsam weiter. Eine Prozession in weissen Folien. Es ist gespenstisch ruhig, aber gelöst. Niemand spricht. Einige sitzen erschöpft am Straßenrand. Andere umarmen sich.
Ich hoffe, ganz für mich, dass es noch heisses Wasser gibt in den Duschzelten. Mein Hoffen wird erhört.
Abends der Rückflug nach Köln.
Am Flugsteig D4 stehen kölsche Weisheiten an der Wand.
Eine davon springt mir ins Auge: "Machet jot - ävver nit zu off!"
Ich werde das künftig berücksichtigen.
Die Check-Out-Tür öffnet sich. Draussen steht meine Freundin. Als Sie mich sieht, reisst Sie ein Schild hoch!
"FINISHER !!!"
Jetzt kullert eine Träne...
Heute.
Mir geht es gut. Knie und Hüfte schweigen, die Oberschenkel tun weh.
Marathon? Ich bin froh, dass ich mich nicht verletzt habe. Und - ja!
Ich werde wieder Marathon laufen! Nächstes Jahr!
Das habe ich im Kopf bereits entschieden!
Grüße aus der Domstadt
Guido
[ Dieser Beitrag wurde von guidoköln am 28.09.2004 editiert. ]
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