"Da bezahlt man noch Geld dafür, daß man an einem Sonntag mitten in der Nacht in einer gelben Mülltüte durch die Gegend rennt ???". Während ich in die großen, fragenden Augen meines langjährigen Kumpels schaue und darüber nachdenke, welche Gemeinsamkeiten unsere Freundschaft durch Höhen und Tiefen manövriert hat, ertappe ich mich dabei, wie ich krampfhaft nach einem Außenthermometer suche. 8 Grad ??? Hey, vor einer Woche stand da noch 'ne eins davor !
Sonntag, 5:45 Uhr. Ich rolle mich aus dem Bett und schlurfe ins Bad. Bloß nicht aus dem Fenster sehen und dem kalten Elend ins trübe Auge blicken. Ausgiebig genieße ich die warme Dusche und speichere die letzte Wärme für die nächsten Stunden. Während der letzten Ölung überlege ich, ob ich prophylaktisch unter dem Pulsgurt "tape", damit ich hinterher nicht wieder wie ein rohes Schnitzel aussehe und in der Sauna von der SM-Fraktion begrüßt werde. Sicher ist sicher. Beim Creme-Massaker an meinen Füßen gratuliere ich mir zum x-ten mal zur Wahl meiner Laufschuhe - 800 km und keine einzige Blessur.
Über kurz oder lang muß ich nicht lange nachdenken. Sagte Tati gestern beim Fori-Treffen nicht irgendetwas von kaltem Wind an der Elbe ? Am Freitag beim letzten Trainingslauf hatten wir bereits unser blaues Wunder erlebt - nach 4 km und 6°C-kaltem Strippenregen. Mein Coach kennt meinen Dickkopf und läßt nicht locker, was die Kleiderordnung betrifft. Na gut, dann eben nicht dieses supersportlich aussehende, farblich perfekt abgestimmte Flatterhemdchen mit den modellierenden Radlerhosen, das so gut zu den 3 Streifen auf den Laufschuhen paßt, seufz.
Ich habe noch eine halbe Stunde Zeit für's Doping : 0,15 ltr Kombucha + 0,25 ltr Molke-Wasserkefir-Mix + 1 ltr grüner Tee + 0,5 ltr Apfelsaftschorle = boah, fast 2 Liter ! Ich lasse noch 2 Milchbrötchen mit Honig und einen Pudding schwimmen, bevor ich mein Täschchen mit Pflaster, Handy, MP3-Player und MAOAM stopfe und auf's Klo sprinte. Power-Gel in der Hosentasche - Check, Taschentuch - Check, Sensor am Schuh - Check, Transponder am Bein - Check, Sicherheitsnadeln - Check. Kann losgehen !
Am Start opfere ich 20 Cent für ein ordentliches Klo und versuche anschließend, mit Hopsen, Dehnen und 10 Minuten Laufen bei 4°C und Regen warm zu werden. Dabei renne ich fast einen ehemaligen Kollegen über den Haufen. Was, DU HIER ! Wir sehen beide nicht so aus, als ob wir hier nur "groupen" wollen und tauschen natürlich sofort die Meilensteine unser Läuferkarriere aus. 10 Minuten vor dem Start muß ich dann doch noch dieses mobile Plumpsklo aufsuchen. Auf dem Weg dorthin laufe ich fast an Jürgen vorbei - irgendwie sehen heute alle anders aus als gestern.... In der Plastekiste höre ich den Animateur etwas von 3 Minuten ins Mikro brüllen - ups, ich muß los.
Am Start schiebe ich mich in die 10. Reihe, die die 1000 Läufer gebildet haben. Da Nettozeit gleich Bruttozeit ist, gilt es, so weit wie möglich vorn zu stehen. Mein Vorschlag, doch in die andere Richtung nach Tschechien zu laufen, damit wir Wind und Regen im Rücken haben, geht im Startschuß unter und alle tippeln los. Plötzlich ist mein alter Kollege wieder neben mir und so kämpfen wir die ersten Kilometer gemeinsam gegen dieses Sauwetter und quatschen ein bißchen. Mein Anfangsschnitt von 11,5 km/h ist ihm dann doch zu schnell und ich trabe allein weiter.
Nach 10 Kilometern krame ich meinen MP3-Player raus, 97 Titel beste Motivation. Theoretisch. Praktisch ist der Akku leer und nach einer Minute ist es vorbei mit der konservierten Motivation. Das kann ja heiter werden, denke ich und werde zu allem Überdruß auch noch von einem Läufer im locker-fluffigen Mittelfuß-Laufstil überholt. Moment mal, ist das nicht Herr Steif aus Hamburg ??? Trotz des schlechten Starts hat er sich immerhin schon vor den 4-Stunden-Läufer und dicht hinter den 3,5-Stunden-Läufer vorgekämpft. Bei Kilometer 15 macht er den entscheidenden Fehler : er sagt, daß er Wind und Hagel absolut nicht ab kann beim Laufen. Oha, Petrus hat Ohren und sorgt dafür, daß zu der Steifen Brise auch noch Hagel kommt. Fehlt nur noch Gewitter, denke, aber sage ich nicht.
Mit 12,5 km/h und einer Pace von 5 Minuten joggen wir über Asphalt, Schotter, Kopfsteinpflaster, vorbei an den spärlich vorhandenen Zuschauern, die meist "Gugge ma, da kommt Babbi !" oder "Nu winke ma, de Muddi kommt !" rufen. Bei Kilometer 18 auf dem Pirnaischen Marktplatz lebt Steif sichtlich auf, als die Pöm-Pöm-Truppe in Sicht kommt. Mir geht es ebenso, nur daß der Auslöser mein Starfotograf ist, der sich die zu fotografierenden Star(t)nummern am Abend vorher auf einem Bierdeckel notiert hat.
Nach der Ehrenrunde durch Pirna haben wir die Hälfte geschafft. Auf den nächsten Kilometern reißt die Wolkendecke für 10 Sekunden auf und zeigt uns, wie der Tag hätte sein können. Bei km 21 hatten wir eine Zeit von 1:51, ich fange an zu rechnen, ob die 3,5 Stunden noch drin sind, aber der Wind pustet sämtliche Logik aus dem Hirn. Wind mit Regen, Wind ohne Regen, Wind mit Hagel, immer schön abwechselnd. Mit einem "Scheiße" bedankt sich Steif bei Petrus dafür, daß er seinen Alptraum wahr gemacht hat. Fidi steht zum ersten Mal an der Strecke und erzählt uns, daß wir 9 Minuten hinter dem 3,5-Stunden-Läufer sind. 9 MINUTEN !!! Tschüß 3:30 ....
Bei Kilometer 30 quäle ich mir schon mal vorbeugend das Power Gel rein. Selbst wenn mir schlecht wird, ist mein Magen wenigstens beschäftigt.Endlich, das Blaue Wunder !!! Ab Kilometer 33 kenne ich die Strecke, einerseits ein vertrautes Gefühl, andererseits weiß ich, was jetzt noch auf uns zukommt. Bis zum blauen Wunder hatte Steif einen Vorsprung rausgeholt, jetzt habe ich ihn wieder und treibe ihn mit "Los, wir müssen weiter !" an. Wir lassen Fidi zurück, die hier zum zweiten Mal an der Strecke steht und Steif behauptet : "Mann, bist Du ein Tier !" Stimmt, eine Schnecke ....
Die nächsten Kilometer sind die schlimmsten. Eiskalt erwischt uns der Sturm, weit und breit kein Baum, kein Windschatten. Würden wir in die Elbe hüpfen und schwimmen, wären wir schneller. Mein Magen paßt sich dem Wetter an, Sturm in der Magengrube. Ich habe das Gefühl, einen Luftballon verschluckt zu haben und komme kaum zum Atmen. Bis Kilometer 36 halte ich durch, dann gehe ich ein paar Schritte und Steif zieht davon. Sein Glück, ich dachte schon, ich müßte ihn beschimpfen oder schlagen, damit er mich endlich meinem Elend überläßt und eine PB läuft ! Am Fährgarten steht mein Kumpel mit Frau und rennt (das habe ich bei ihm noch NIE gesehen !) ein paar Meter mit. Währenddessen stopfe ich mir die erste und letzte halbe Banane rein in der Hoffnung, daß mein Magen dann nicht mehr sauer ist.
Die letzten 4 Kilometer hatte ich mir am Tag vorher schon mal angesehen, weil ich wußte, daß ich sie keines Blickes würdigen werde. Mein Tempo rutscht auf unter 11 km/h und meine Pace möchte ich an dieser Stelle lieber verschweigen. Laufen - keine Luft mehr - Gehen - Laufen. Und zwischendurch die Späßchen der Passanten : "Du bist die Erste !". Kleiner Komiker, ich schubs' Dich gleich in die Elbe ! Brühlsche Terrasse, Schloß und Semperoper liegen hinter mir, uah, die letzte Steigung kommt. 2 Kilometer vor dem Ziel kommt's ganz dicke - Petrus läßt noch mal richtig seine schlechte Laune raushängen und schmeißt mit Hagelkörnern, die richtig weh tun. Ich wehre mich gegen die Akupunktur und lege die Hände auf den Kopf. Das läuft sich beschissen und sieht auch so aus.
Die letzten Meter vor dem Stadion lasse ich nochmal alles raus und verfluche Petrus, sein Wetter, meinen Magen und den Rest des Universums - um anschließend mit einem breiten Grinsen ins Stadion einzulaufen. Nochmal Endspurt, kotze, äh koste es, was es wolle. Steif genehmigt sich bestimmt schon das zweite Bier - und ich renne hier. Auf den letzten 200 Metern schaffe ich 14 km/h und stoppe im Ziel meine Polar bei 3:46:46.9. Brav lasse ich mir die Zielquittung von der Startnummer reißen, lege mein Transponder ins Körbchen und will nur noch meinem Magen mit einem eiskalten Bier die Kante geben. Aber sie haben nur Erdinger ....
Vor dem Erdinger drücke ich noch Steif an meinen Pulsgurt und knutsche meinen Coach. Es treibt mir immer wieder die Tränen in die Augen, wie artig er jedesmal im Ziel steht und Fotos von mir macht, auf denen ich mich selbst nicht wiedererkennen möchte. Fidi trifft auch noch ein und versorgt Steif mit trockenen Klamotten, bevor wir uns gemeinschaftlich auf die Suche nach der Massage machen. Die finde ich dann auch - und traue meinen Augen nicht : 5 Liegen für 1000 Läufer ! Und die sind noch nicht mal alle im Ziel! Obwohl immer 2 Mädels einen Läufer durchkneten, geht es nur schleppend vorwärts und mir wird langsam kalt. Zwischendurch taucht Steif auf, der wie ein Schloßhund zittert und noch weniger Geduld hat, als ich. Besser wie John Wayne durch die Gegend laufen, als eine Erkältung zu riskieren, denke ich und mache mich auf den Weg zu Pasta, Coach und Auto. Mein Starfotograf hat noch Tati und meinen ehemaligen Kollegen im Ziel gepixelt und sponsort meine Urkunde mit 3 Euro.
In der Wohnung von unseren Freunden besetze ich sofort das Badezimmer und genieße nach dem Bad in der Menge das Bad in der Wanne. Es gibt Dinge, die sind unbezahlbar .... Gelockert, gesalbt und gefönt genieße ich die Nudeln und den Satz meines Kumpels : "Nach so einer Strecke würde ich tot in der Ecke liegen, Du aber springst hier rum ,als ob nichts war!". Und jetzt fällt es mir auch wieder ein, was es war, das unsere Freundschaft durch Höhen und Tiefen manövriert hat....
Und für alle, die diesen langen Bericht gelesen haben, um zu erfahren, wie Baumann versus Greif ausgegangen und ob Greif besser als Baumann ist, kommt hier die Lösung : Greif ist eindeutig besser. Steif war eine Minute eher im Ziel !
Greif versus Baumann oder Die Steife Brise an der Elbe
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