Moin,
erster Schritt auf dem Wege zur Besserung ist es ja angeblich, Fehler einzusehen.
Ich lauf zu viele wettkämpfe, heißt es. Vor dem Bremerhavener HM habe ich mich mal zusammengerissen, drei Wochen lang zwar gelegentlich "schnell", gelegentlich mit anderen Menschen, aber nie simultan.
Zu wenig Schlaf und das Falsche zu essen am Vortag kann sich negativ auswirken. Mit sieben Stunden schlief ich überdurchschnittlich viel. Samstag abend gab es Pizza.
Unpünktlich sich auf den Weg zu machen und statt warmlaufen zum Start wetzen raubt Energien. Nun, am Samstag hatte mir jemand die Geldbörse gestohlen, deshalb hatte ich meine Startunterlagen nicht abgeholt, war unsicher, ob ich den HM überhaupt laufen soll.
Anyway, Sonntag um halb sieben verließ ich das Haus, wartete 4 Minuten auf eine Straßenbahn, hatte 10 Minuten Zeit bis zur Abfahrt des Zuges. Alles fein soweit.
Der Blick auf die Anzeigetafel machte meinen Puls rasen: "Zug fällt aus". Na supi. Nachfrage am Service-Schalter ergab, es gibt einen Schienenersatzverkehr. Uff.
Statt um 7.31 schlug ich also um 8.28 im nördlichsten Zipfel Bremens auf. Genial. Startunterlagen abholen- denkste-erst einmal nachmelden. Generöserweise ohne Extra-Gebühr.
Leider fand ich nicht mehr rechtzeitig die Zelte zur Kleiderbeutel-Abgabe. Und eigentlich wollte ich nochmal aufs Klo. In der Sekunde, wo ich die Startnr. am Trikot befestigt hatte, begann der Count-down zum Start.
Im Nachhinein beiße ich mich in den Bobbes: Ganz in Ruhe hätte ich Toilette und Kleiderbeutel-Zelt aufsuchen sollen, im letzteren hätte ich meinen Rucksack verwahrt, und wäre dank Championchip mit Riesen-Differenz zwischen Brutto- und Netto- Zeit, aber egal, direkt im eigenen Rhythmus unterwegs gewesen.
So ergab sich stets Gesprächsstoff. Ob ich ein Selbstmörder wäre, mit Rucksack Marathon zu laufen? Oder total bescheuert, Begründung "Du bist doch schon breit nach vorne, warum verschwendest du auch noch nach hinten Platz?"
Gegen diesen Fragesteller hätte ich ja am liebsten Gewalt angewendet.
Aber erstens bin ich ein ganz lieber, zweitens gehörte er qua Uniform augenscheinlich zu einem Lauftreff, drittens merkte ich: "Hepp, trotz Ballast ist hic & nunc eine neue pebe drin!" - und gab Gummi. Auch ne Antwort.
Meist lauf ich ja abseits von Wettkämpfen alleine. Was mich bei Wettkämpfchen stets irritiert, sind Menschen mit noch größerem Kommunikationsbedürfnis als ich. Bei km 8 wurde ich eines Damen-Lauftrefs gewahr, sog mich an sie heran, die liefen schön gleichmäßig. Allerdings, eine von den sechsen hatte immer genug Luft zum Schwatzen. Plötzlich klingelt ein Mobiltelephon. Zuerst hielt ich es für eine fiepende Pulsuhr. Den Dialog will ich euch nicht vorenthalten. Lauftrefflerin 1 "Willzenichmarangehn?" - L2 "Doch, aber ist ja doch bloß wieder nur Mutti. (Atempause) 'Tach Mami! Es ist Sonntag! (Quaken) Das bedeutet, dass ich mit meinem Lauftreff unterwegs bin, das weißt du doch! Ja, immer noch: JEDEN Sonntag. (Quaken) Wir joggen! Wir sind gerade in Bremerhaven, 21 kilometer laufen. (Quaken) Jadudas kann schon noch dauern, sind gerade erst 10 kilometer rum, so um 2 sinwa bei dir. Tschüssi!' -Boah, wie kann man so vergesslich sein?"
Nachfrage meinerseits: "Ihr habt scheinbar ein gutes Zeitgefühl. Wie schnell sind wir?" Antwort: "Wir brauchen heute 2:22-2:26" Aha, mein gutes Gefühl trog mich also nicht. Nach zwei weiteren Minuten ergriff ich die Flucht nach vorne. Es war nicht leicht, und zu viel Stoff geben wollte ich auch nicht, schließlich war der Weg noch weit. Aber länger hätte ich das sinnfreie Gequassel - quasi Sex and the City als Wettlauf getarnt - nicht ausgehalten. Und hinter diesen Mädels zu bleiben kam irgendwie auch nicht in Frage.
Weitere Damen, die mich Körner kosteten, waren zwei schätzungsweise 50jährige. Hinter dem Schild km 5 hatte ich sie überholt. Bei km 14 kletteten sie sich an mich. Die quasselten nicht, sie keuchten. Nervig. Jede Tempoverschärfung machten sie mit. Ich beschloß, mich weder ins Bockhorn noch sonstwohin jagen zu lassen- und ließ sie überholen. "Die kriegste wieder" dachte ich mir. Denkste, sie brauchten zwar eine gefühlte Ewigkeit, um sich von einer sehr gleichmäßig laufenden brünett bezopften w30 zu trennen. Aber weg ist weg. Gut, nehm ich halt die mit dem Zopf zum Maßstab. Jeder Versuch, sich an ihre Fersen zu heften, wurde mit Puls 185 bestraft. Unsicher, ob ich dies bis zum bitteren Ende durchhielte, beschloß ich, mir weiszumachen "Soo wichtig isses nu auch nich".
Schluß: Hinter dem 20 kilometer-Schild benötigte ein m40 sichtlich Zuspruch. "Willste ein Bier? Komm mit!"- recht doofer Spruch, aber meine Spontaneität weckte ihn scheinbar.
Zu den Klängen von "Eye of the Tiger" rasten wir beide dem Ziel entgegen. "Das muss ja nun jetzt nicht sein, woher hat der jetzad die Power?"- war mein Gedanke. Dass simultan zu meinem Rennen auch der Marathon stattfand, hatte ich geistig irgendwie ausgeklammert. Der Kollege war nämlich nicht aus eigenem Antrieb schneller geworden, sondern wollte im Windschatten des Führungsfahrzeuges finishen.
Es war ein durchwachsen bis sonniger Tag, aber als mir letzlich rechtzeitig dämmerte, dass ich zeitgleich mit dem Sieger des Marathons einlaufen würde, lief mir ein Schauer über den Rücken. Beiderseits des Zielkanals machten die Tribünensitzer mächtig Alarm, was mich heftig anspornte. Das Unterziel "gemütlich auslaufen können" hatte sich damit erledigt. Im Ziel war ich nicht Aurich, ich war leer. (Danke an Marcel für diesen Kalauer.) Bewußten Herrn hab ich übrigens stehengelassen (nicht den Sieger des Marathons, den anderen )
Danach genoß ich noch ein wenig die schöne Stimmung auf der Tribüne, kaum getrübt durch den dauerschwatzenden Ziel-Ansager. Dem bedauernswerten Frank Themsen versuchte er, mit dem Mikrophon die Zähne einzuschlagen, zumindest sah es danach aus.
Ein schöner Satz noch zum Thema "Regeneration nach Wettkämpfen", eben von F.T. (M sub 2:48, der xte dieses Jahr unter 3 Stunden :eek: ): Tja, versuche halt jetzt so viele (Marathons, die Red.) wie möglich zu laufen, irgendwann muss dabei ja mal eine schöne Zeit vorkommen.
Nachdem ich mich von diesem Spruch erholt hatte, wartete ich noch den letzten Halbmarathoni ab und feuerte die dem Ziel entgegentaumelnden Läufer an, konnte noch "unseren" Mosquito "beglückwünschen" -Marathon-Platz 20, in 3:01:12, was er aber nicht der Rede wert fand. Für den Heimweg schnappte ich mir noch bleifreies Weißbier, klemmte mir Kuchen in die Kiemen und Wasser in den Rucksack.
Fazit: nächstes Jahr in B'haven 42 km, ist mit 35 € auch preiswerter pro Kilometer. Bestzeitenfähig? Naja, etliche 100-Marathonclubbler unter 4, das ist schon einmal ein gutes Indiz. Letzlich hängt es von der eigenen Form ab, und die war bei mir recht gut.
Die Duschen suchte ich gar nicht erst, tauschte einfach Trikot gegen Finisher-T-Shirt eines Volkslaufs, entnahm meinem Rucksack endlich die Ein-Liter-Flasche mit einer Mischung aus Apfelsaftschorle und Kräutersalz, exte sie in weniger Zeit, als man braucht, um "2:14:28" zu sagen, und gönnte mir den langersehnten Gang zu einem stillen Örtchen.
PS: Zum Titel dieses threads: Es hatte mal jemand in seinem Vorstellungsthread geschrieben, er wolle an Wettkämpfen teilnehmen, und möglichst bald "unauffällige Zeiten" erreichen, das hat mir gefallen. Danke für diese Inspiration.
zu einer "unauffälligen Zeit" getrieben
1Liebe Grüsse von Gregor (Bremen)
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