Oft, ja leider zu oft, hänge ich einfach zu lange in der Firma ab. Wir haben Gleitzeit. Ich bemühe mich morgens immer sehr früh die Karte zu stecken, jedes mal mit dem Vorsatz "heute gehst Du früh und läufst mal zeitig". Nicht das jetzt jemand auf die Idee kommt, ich würde mich zu hause nicht wohlfühlen, nein, ich habe in der Firma immer irgendwas zu tun. Leider hat das meistens nichts mit der Firma zu tun.
Ich bin dann also irgendwann so zwischen 17:00 und 18:00 Uhr zu hause. Irgendwie muss so ein Wieder-Junggeselle ja auch einkaufen und sonstiges erledigen. Zu hause dann, nach dem Booten des Rechners, oft erst einmal notwendige haushaltstechnische Handgriffe: Wäsche, Abwasch, aufräumen, Papierkram etc. Nebenbei immer mal wieder der Blick ins Forum, Mails usw.
Ich weiß die ganze Zeit, ich will noch laufen, aber ich schiebe es auch gern vor mir her. Oft ziehe ich mich schon mal so weit an, das es sozusagen kein zurück mehr gibt. Laufsocken, Tight, Shirt, den Trageriemen mit den eingenähten Köpfhörern für den MP3-Player ... Wohnungsschlüssel in die Gesäßtasche. Noch mal ein Blick ins Forum. Ach Shit, muss noch neue Mucke auf den Player. Noch mal ein Blick ins Forum. Was trinken. Noch mal ein Blick ins Forum. Überlegung: "was wird heute gelaufen?" Noch mal aktualisieren. Jacke über ... nu aber los ... sonst wird es wieder so spät. Kurzer Blick in den Schuhschrank, die Wahl ist meist schnell getroffen. Kurzer Check: alles dabei? Stöppel im Ohr? Musik alles richtig eingestellt? Schlüssel???? Noch ein Schluck Wasser. Klack ... die Tür fallt ins Schloss. Gewissenhaft werden die Schuhe geschnürt, müssen sie mich doch jetzt 14 Kilometer beschwerdefrei durch die Gegend tragen. Musik an, Stoppe gestartet, die Handschuhe über und langsam losgetrottet.
Heute wird langsam gelaufen. Das ist fest beschlossene Sache. Direkt hinterm Haus geht es erst einmal durch den Wassermannpark Richtung Grothwisch. Ganz gemütlich. Die Musik dröhnt in den Ohren. Den Player kann ich durch die Jacke hindurch einstellen. Es ist schön, dieser Winter ist ja nicht wirklich ein Winter. Die Nacht nimmt mich hier gefangen. Ich genieße dieses dunkle Stück, es ist nicht lang. Am Grothwisch geht es an einem Teich entlang. Wir sind am Hamburger Stadtrand, sozusagen genau auf der Grenze nach Schleifweg-Holzbein.
Ich laufe gemütlich durchs "Märchenviertel" ... das heißt so, weil alle Straßennamen mit Märchen zu tun haben. Die Musik treibt etwas, ich wollte doch eigentlich langsam laufen. Ich zwinge mich zur Langsamkeit. Das letzte Stück bis zur Oldesloer Straße ist eine lange Gerade. Ich prüfe meinen Laufstil und werde dabei immer zügiger. Frage mich immer wieder, warum man auf langgestreckten Geraden immer schneller wird? Ich erreiche die Kreuzung Oldesloer Straße/Vielohweg, die erste von drei Kreuzungen, bei denen ich gegebenenfalls bei Rot anhalte und die Zeit ausstoppe.
Weiter geht es... die Vielohwegbrücke tut immer etwas weh. Kurzer Blick auf die Autobahn 7 "wo die um diese Uhrzeit alle noch hinwollen?"... es geht bergab. Würde ich ohne Musik laufen, hier wäre es laut. Doch nicht lange ... ein Art Parkweg, der im Winter mitunter matschig ist ist jetzt mein Laufweg. Unmerklich zieht wieder das Tempo an. Ich bringe es nicht auf die Reihe, ich wollte verdammich noch mal langsam laufen. Wagrierweg, hier wohnt mein bester Freund. Ausdauersport ist nicht sein Element - kein Wunder mit wieder 130 Kilo Lebendgewicht. Wenn ich auf den Nordalbinger Weg biege kontrolliere ich unbewusst meinen Stil. Es soll leichtfüßig und easy aussehen, hier sind viele Fußgänger, entlang der U-Bahn Niendorf Nord einige Bushaltestellen. Was sollen die Wartenden denken wenn da einer mit hochrotem Kopf und schnaufend angestapft kommt?
Hinter der U-Bahn-Station muss ich meist erst mal nen Gang rausnehmen. Scheiß Laufen. So ein blödes, anstrengendes Hobby.
Ich versuche an was anderes zu denken. Die von links einbiegenden Straßen zwingen ohnehin zur Aufmerksamkeit. Auf dem letzten Ende, hier heißt die Piste Emmy-Beckmann-Weg werde ich wieder ungewollt flotter. Über "Ohmoor" rüber, einen kurzen Verbindungsweg und dann "im Schuss" den König-Heinrich-Weg herunter bis fast zum Tibarg. Die Musik drängelt, ich lausche gespannt, wenn es paßt freue ich mich über den "Taktgenerator" im Ohr. Paßt es nicht stört es mich auch nicht weiter. Hier in der Gegend gehe ich meinem Nebenjob nach. Demnächst geht es wieder verstärkt los, dann klappt es oft abends nicht mit dem Laufen. Ich kenne hier eigentlich alle Querstraßen. Ich fliege, auch wenn ich schnecken wollte.
Ich erreiche "An der Lohe" ... ich kann nicht mehr, bin völlig auf. Langsam zockel ich weiter und erhole mich. Ich wollte ja langsam laufen, also tu ich das auch. Keine 3 Minuten später - im flotten Dauerlauf stratze ich die Wendlohstraße hoch. Um die Zeit interessieren mich meist die roten Fußgängerampeln nicht. Kurzer Blick und rüber. Vor der Kreuzung über den Schleswiger Damm habe ich aber doch Respekt. Nur wenn ich super sicher bin laufe ich da auch mal bei Rot.
Jetzt wird es echt beschwerlich. Ich bin durch das bisher angeschlagene Tempo echt platt. Den unteren Teil der Frohmestraße geht es wirklich gemütlich hoch. Hier ist eine ganz sanfte aber beständige Steigung bis man über die Autobahn ist. Aua tut das weh. Scheiss Laufen. Was soll der ganze Mist?
Hinter der Autobahn dann Erleichterung. Durch die belebtere Frohmestraße geht es wieder mit geschwellter Brust, Kniehub und Schönlauf. Vorbei an einer Bushaltestelle. Ich grinse rauchende Wartende an und laufe schnell und bewußt ruhig atmend vorbei. Nur nicht angestrengt aussehen. Ich höre hinter mir den Bus nahen. Schaffe ich es, vor ihm oben am Ende der Frohmestraße an der nächsten Haltestelle zu sein? .... Sieger!!!!! ... aber ohne Luft, quasi halbtot erreiche ich wieder die Oldesloer Straße.
Burgwedel... in weniger als 5 Minuten habe ich es hinter mir. Bin gespannt, was die Uhr sagt. Ich wage es nicht draufzusehen, habe ohnehin keine Ahnung wie schnell ich bis hierhin gewesen sein sollte. Wollte ja eigentlich langsam laufen. Die Araltanke leuchtet mir blau entgegen. Wieder über den Schleswiger Damm. Im Wassermannpark ein letzte Endspurt. Piiiieeeep. Habe fertig. Wow, war das geil, geil nochmals geil. Gestern abend war es genau nach 1:07:49 h vorbei ... das waren 13,9 Kilometer.
Die letzte 80 Meter zur Haustür gehe ich. Ich komme zu Luft, bin fertig, aber glücklich. Im Bad streife ich alle Sachen ab, hau sie gleich in die Waschmaschine. Schweiß will dringend aus dem Gesicht gewaschen werden, die halbe Wasserleitung leergetrunken werde. Blick in den Spiegel: "man siehst Du heute Sch*isse aus" ! 300 ml fettarme Milch und 2 dick gehäufte Eßlöffel Eiweißpulver mit Vanilleschmack kommen in den Tuppershaker. Auf dem Weg zum PC wird geschüttelt. Unterwegs noch am Handtuchhalter vorbei und das Duschtuch gegriffen. Wenn mich jetzt jemand sieht ;-) ... nackt am PC.
Einmal "aktualisieren" im Forum geklickt und dann das Thomas Naumann-Lauftagebuch geöffnet. Unter Bemerkungen steht:
"Ich bin ein Trainingsheld, auch wenn ich langsam laufen wollte - morgen ist aktives Nichtstun angesagt"
Heute, da ich dies hier schreibe, kann ich berichten: ich habe mich daran gehalten.
Was das hier darstellen soll?... ein kleiner Bericht über einen inneren Kampf ohne Tiere und Teufelsmilies
So ein "ganz normaler Trainingstag" im Winter [Bericht]
1Steif
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Ständig verschwinden Senioren spurlos im Internet, weil Sie "ALT" und "ENTFERNEN" gleichzeitig drücken.