10. Juni 2006, kurz nach Mitternacht, irgendwo auf den 38,5 Kilometern der ersten Staffel-Etappe:
Ich höre Stimmen. Ich sehe nichts. Es ist dunkel und wird es auch noch ziemlich lange bleiben. Schließlich kann ich Umrisse zu den Stimmen ausmachen: zwei Wanderer, Wahnsinn.
Sie sind offensichtlich unterwegs auf der gleichen Mission wie ich – ein Stück Biel und Umgebung zu erlaufen, mit Startnummern und hoffentlich genug frohen Mutes ausgestattet. Der Anblick der Wanderer ist für mich umso erstaunlicher, als ich mich doch schon damit abgefunden hatte, dieses Teilstück gaaaanz lange gaaanz alleine zu laufen. Zumindest konnte ich das die ersten 50 Minuten seitdem der Startschuss für den letzten Programmpunkt des Bieler Lauf-Freitags, die Staffelläufer um 23 Uhr fiel.Es war schon lustig anzusehen, wie die versammelte Läuferschar in einer Traube davonstob, als ob es sich um einen 800-Meter-Sprint handelte, und nicht um jene längste Staffel-Etappe mit immerhin 38,5 Kilometern. Und so freue ich mich innerlich, dass ich nicht ganz die Letzte bin, als ich hinter der Stadt in den dunklen Felder laufe (zumindest in Biel selbst von müssen noch Läufer hinter mir gewesen sein, wie ich an den „hopp hopp hopp“-Rufen der Zuschauer ausmachen kann, aber irgendwann sind auch die weg und das Läuferfeld hat sich in Längen von interstellaren Dimensionen gezogen).
Der gefürchtete spitze Zacken aus dem Höhenprofil der Ausschreibung liegt bereits hinter mir: 70 Höhenmeter steil rauf und gleich wieder runter. Laufend bewältigt, abgehakt. Bin stolz auf mich.
Jetzt ist nur noch die Dunkelheit und die Einsamkeit mein Gefährte und es ist ungefähr in jenem Moment, wo ich ziemlich melodramatisch dem Bild nachhänge, dass es sich so anfühlen muss, als einsamer Cowboy auf der Suche nach Rache-oder-was-weiß-ich durch die Nacht zu reiten, als ich die Stimmen der Wanderer höre.
Ich überhole und überlasse ihnen insgeheim das „einsamer-Cowboy“-Bild zur Nutzung. Wahrscheinlich brauchen sie es nicht, sie sind ja zu zweit.
Ich ziehe weiter in der dunklen Nacht und stelle fest, dass ich es eigentlich schade finde, dass es so dunkel ist. Man kann ja gar nichts sehen von der Landschaft. (Ach.) Umrisse hinter den Wiesen und Feldern, später auch hinter kleinen Waldstücken, kann man erkennen, auch den Laufpfad selber, dadurch dass ein fast voller Mond am Himmel hängt, mehr aber auch nicht. Und es dauert auch länger, die jeweiligen Vorderläufer oder -wanderer, auf die ich mittlerweile von Zeit zu Zeit auflaufe, zu sehen als zu hören. Dafür ist es nett, wenn ich durch kleine Dörfchen laufe, denn da kann ich wenigsten die Häuser begucken. Natürlich alle längst dunkel, so wie man überhaupt in der Zeit zwischen Mitternacht und 3 Uhr morgens erwartungsgemäß wenig Zuschauer am Straßenrand treffen kann ... Sogar die vielzitierte Holzbrücke bei Aarberg ist schon verwaist, als ich dort vorbeikomme. Keine Sambabands weit und breit.
Nun, ich hatte mir ja im Vorwege ausmalen können, dass all die Dinge, die ich am Hamburg-Marathon vor 7 Wochen so toll fand, hier nicht vorfinden würde: viel Publikum, eine bekannte Strecke, Groupies an verabredeten Orten und ganz viel fürs Auge. Interessanterweise fehlt mir nun beim Biel-Lauf eigentlich nur die Helligkeit - ohne das andere kann ich ganz gut laufen.
Und wer sagt’s denn, bei Kilometer 20 stehen sogar meine ISNICHMEHRWEIT-Groupies plötzlich am Wegesrand und lügen mir vor, ich sähe gut aus. Ähh ja, da haben einige Steigungen und Hügel* und die immerwährende Dunkelheit schon ihren Tribut gefordert und ich bin nicht mehr wirklich spritzig drauf.
* [Das Wort, das mit B anfängt und mit ERGE aufhört, darf ich übrigens nicht in Zusammenhang mit dem Bieler Lauf nennen, wurde uns das Wochenende über von unseren Schweizer Freunden einbeblöht äh eingebläut. Es gäbe nämlich gar keine B**** in der Gegend. Ich verwende daher den Begriff Hügel – die Nord- und Flachdeutschen unter den Lesern mögen aber ihre eigenen Schlüsse ziehen. Ich hatte zumindest das Gefühl, es ging überproportional viel hoch.]
Es wird im T-Shirt etwas kühl um die Arme bei nur 8 Grad und ich wünsche mir insgeheim, ich hätte mir ein ISNICHMEHRWEIT-Thermoshört bedruckt. Nichtsdestotrotz bin ich froh, dass ich nicht tagsüber bei 29 Grad laufen muss.
Mittlerweile ist es schon fast voll auf der Strecke, weil ich inzwischen größere Gruppen von Wanderern und Walkern und auch diverse Paarungen Militärwanderer überhole. Von Einsamkeit des Langstreckenläufers keine Spur mehr.
Es ist aber immer noch dunkel.
Jedes Mal, wenn ich auf ein Paar Armeetypen auflaufe, wundert sich ein Teil von mir, ob ich die denn nicht eben überholt hätte ... aber in der Uniform sehen die Jungs wohl alle gleich aus. Trägt jedenfalls dazu bei, dass ich mich zwischen Kilometer 25 und 30 in einem Raum-Zeit-Loch gefangen wähne: Hab das Gefühl, es geht gar nicht vorwärts.
Bin froh, als endlich das KM30-Schild auftaucht. Ein Radbegleiter wie Thomas wäre jetzt vielleicht doch nett. Aber der fährt ja bei der TUSSISTAFFEL mit Barbara. Ach und überhaupt, sterben kann ich auch alleine. Einige Zeit vergeht und ich nöle ein bisschen vor mich hin, versuche zeitweise eine Melodie für mein Mantra „Isnichmehrweit isnichmehrweit isnichmehrweit ...“ zu finden.
Eins ist schon mal klar: Diese Medaille fühlt sich hart erarbeitet an.
Irgendwann kommt das KM35-Schild. Noch dreieinhalb Kilometer. Werde kurzfristig wahnsinnig, als nach gefühlten 4 km immer noch kein Lichtschein in der Dunkelheit zu sehen ist. Die werden doch ihre Wechselzone nicht im Dunkeln abhalten?! Fühle mich veräppelt. Endlich taucht die Wechselzone hinter einer Anhöhe auf.
Im Ziel!
Janna, unsere Zweit-Etappen-Läuferin entschwindet mit dem Messchip im Dunkeln. Feierabend für mich. Marianne und Ann-Kathrin umsorgen mich aufs Netteste und ich freue mich auf den gemütlichen Teil der Nacht, in dem ich nur noch den anderen beim Laufen zusehen muss und wir uns von Martin, dem Freund von Marianne ( unser Tussenchauffeur Zwei neben Sigi) durch die Nacht resp. den Morgen kutschieren lassen.
Es wird noch eine tolle Zeit – na ja, und das strahlende Zielfoto von allen 8 Tussen samt Fahrradcoach Thomas am nächsten Vormittag kann man ja in Sigis Thread bewundern. Mit 11 Stunden 19 Minuten laufen unsere zwei Staffeln ins Ziel.
(Hey, schneller als Joey Kelly )
Den Nachmittag über lege ich meine Medaille nicht ab – und der Grillabend bei Sigi mit seinen Neuhüttener Lauffreunden stellt sich als perfekten Abschluss für diesen Freitag und Samstag dar. Danke, Sigi und Tina.
Nach 41 Stunden ohne Schlaf lege ich meinen Kopf irgendwann Samstagabend endlich aufs Kopfkissen.
Tessa
Tusse in Blö
Biel 1. Etappe – Die Dunkelheit des Langstreckencowboys
1„Ihr kommt doch klar, so wie ihr ausseht, oder? Den Besenwagen muss ich euch nämlich abziehen. Der wird weiter vorn bei den wirklich Fußlahmen gebraucht.“ - Syltlauf 2008