"Beim Blättern in in den Bildern meiner Kindheit
Seh ich viele vergilbt in all den Jahr`n
Und manche von fast unwirklicher Klarheit
Von Augenblicken, die mir wichtig war`n"
Wenn ich auf der Autobahn das Hermsdorfer Kreuz links hinter mich lasse, und der A4 folge, beginnt für mich wie immer eine Zeitreise. Die Reise bringt mich wieder einmal zurück in vergangene Kinder- und Jugendjahre. Ich sitze nicht mehr am Steuer meines Wagens, als ich an Jena Lobeda und den "Drei Gleichen" vorbeifahre. Ich sitze auf der Rücksitzbank unseres Shiguli, meine Eltern vor mir bestaunen die großen Wohnblöcke die in Jena direkt an der Autobahn stehen. Als wir die Drei Gleichen passieren, höre ich mit Vergnügen die immer gleiche Geschichte der Burgen, die mayestätisch rechts und links neben uns im Charme ihrer Ruinen verharren.
Jörg braucht nicht lange, um mich zu überreden,als seineStaffelpartnerinan
die Orte meiner Kindheit zurückzukehrenund dort weiter zu laufen, als ich es bis
dahin jemals getan hatte. In Schmalkalden lebten meine Großeltern und der
Inselsbergmusste oft als Sonntags-Familienausflugsziel herhalten.In der Nähe vonBrotterode gab es Fischteiche, manch Ferientaghabe ich dort mit meinem Opa undmanchmal auch mit der ganzenFamilie verbracht.
Als ich in Fröttstädt, dem Start- und Ziel des 1. thürigenUltrasankomme, herrscht
noch rege Geschäftigkeit. Ich habe Gelegenheit,Gunter kennenzulernen, mit ihm
ein paar Worte zu wechseln unddann bin ich auch schon wieder weg. Ich habe nocheinen Besuch vormir. Vorbei am Inselsberg fahre ich nach Suhl, zu meinen Eltern.Am Eingang zum Friedhof kaufe ich Sonnenblumen.Meine Lieblingsblumen.
Familie auf einem Quadratmeter.Ein sonderbares Gefühl. Und doch spüre ich eine
ungeheuere Energie,als ich mich verabschiede. Ich bin irgendwie zwischen den
Welten...das Herz voller Erinnerungen. Es ist gut, daß ich diese Erinnerungen
habe.
"Die Dramen, morgens vor dem Kindergarten,
Verzweiflung, wenn Mutter gegangen ist,
Die Qual, einen Tag lang auf sie zu warten,
Und immer Angst, daß sie mich hier vergißt.
Sonntage, wenn Verwandte uns besuchen,
Wenn alles lacht und durcheinander spricht,
Geschirr klirrt, draußen gibt‘s Kaffee und Kuchen,
Johannisbeern im Garten funkeln rot im Sonnenlicht."
Und es ist gut, daß ich in Fröttstädt bereits erwartet werde. Startnummern, Nudelparty,Foris, zwei Bier als Betthopser, Luftmatratze aufpumpen, die Nacht im Autowird kurz.
Es ist noch dunkel, als ich mich mit Fräse zum Frühstück treffe und nachdem wir die 100km-Läufer auf den Weg geschickt haben, mache auch ich mich bereit für meine 51 Kilometer, auf die ich mich wie blöde freue. Besonders ab Kilometer 44 möchte ich nur noch genießen.... und ich hoffe, das mir das geling.
21 Grad werden vorausgesagt für diesen Samstag, also fällt die Kleiderwahl nicht schwer – kurz natürlich. Als der Startschußfällt, ist es noch etwas kühl, aber der Morgen dämmert und nach einer knappen Stunde sehen wir hinter uns einen roten Feuerball, der denHimmel in bizare Farben taucht. Vor bzw. nebenuns liegt der Inselsberg und grinst uns an. Es ist einfach nur traumhaft schön, hier zu sein und zu laufen. Wenn nur die Kälte nicht wär.
Nach den ersten seichten Kilometern geht es dann endlich hinein, in die Berge, die mit bis zu 30% Steigung, Matsch und Geröll uns Läufer schon ordentlich rannehmen. Aber mein Radbegleiterhat es viel schwerer an diesen Stellen und so kommt es, daß ich nach oft kilometerlang allein durch den Wald laufe, bevor Jens endlich wieder aufschließen kann. Während der harten Aufstiege, die ich fast alle versuche, im Laufschritt zu nehmen, wird mir tatsächlich etwas warm, aber Oben angekommen bläst ein eiskalter Wind auf die schweißnasse Haut und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als lange Laufsachen.
Wenigstens ein Shirt mit Ärmeln habe ich bei Jörgs Vater im Auto deponiert, mit den kalten Beinen werde ich leben müssen. Diese sind mittlerweile schonkrebsrotund ich müsste dringend etwas Salz nehmen, um Krämpfe zu vermeiden. Aber das ist schwerer als gedacht, Jens kämpt noch mit den Bergen und dem Rad, aber er hat die Trinkflasche...
Endlich an Kilometer 29 steht dann Jörg und sein Vater, ich freue mich, die beiden zu sehen, vorallem aber will ich mich erst einmal umziehen, um wenigstens den Oberkörper warm zu bekommen. Eine lange Laufhose habe ich leider nicht eingepackt. Klamottentechnisch also ein voller Fehlgriff.
Ich fühle mich frisch und munter, nichts tut mir weh, nur merke ich, wie sich meine Muskeln der Kälte beugen und ich zu Krämpfen neige. All das kann ich mit Salz und etwas Magnesium im Zaum halten, aber es fordert eben auch den Tribut, etwas Tempo herauszunehmen. Aber es macht Spaß, richtigen Spaß. Auf die Kilometer achte ich überhaupt gar nicht. Es ist mir völlig egal, an welchem Punkt des Laufes ich angekommen bin und langsam wird es auch etwas wärmer und der eisige Wind läßt nach. Jörg taucht hier und da auf und freut sich mit mir, Jens ist da, verkürzt mir die Zeit und mahnt mich zur Ruhe, wenn durch einen falschen Fußaufsatz die ausgekühlte Muskulatur in den Beinen zu krampfen droht. Ich genieße die wunderschöne Landschaft der Thüringer Berge, auch an Fischteichen bei Brotterode laufe ich vorbei und dort ahne ich sie sitzen, meine Eltern, meine Großeltern, mit der Angel in der Hand und einen Plastikteller mit Kartoffelsalat auf den Knieen.
"Wie manches, dem wir kaum Beachtung schenken,
Uns dennoch für ein ganzes Leben prägt,
Und seinen bunten Stein, als ein Andenken
Ins Mosaik unserer Seele trägt!"
Irgendwo hier beende ich meinen Marathon Nummer 9.
Dann kommt der Kilometer 44, ausgeschildert ist er nicht, aber lt. Garmin und Fahrradtacho müsste er etwa erreicht sein. Das gibt ein Foto, eine kleine Siegesfeier so ganz im Wald und eher im Herzen, als offiziell, aber nun beginnt die große Unbekannte... weiter bin ich noch niemals gelaufen. Und ich laufe und laufe und laufe, bin ich in einer anderen Dimension? Ich denke darüber nach, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen und nach dem Staffelwechsel noch bis in den nächsten Ort weiter zulaufen. Das wären dann 64 Kilometer.
Die Krampfneigung habe ich dank Salz und Magnesium in den Griff bekommen, nun piekt es zwar an allen möglichen Ecken im Oberkörper, die Organe werden warscheinlich durch die heftigen Bergabpassagen durcheinandergeschüttelt, aber Sarah, die mich auf diesem Abschnitt überholt meinte, das ist eben so,irgendwann tut es bei einem Ultra eben weh... Na ja, wenn das so ist...
Weil mein Garmin irgendwann aussteigt, bin ich vom plötzlich vor mir auftauchenden Ziel bzw.Staffelwechselvöllig überrascht. Erst als ich Jörg in Laufsachen realisiere, ist mir klar, das hier und jetzt mein erster Ultra zu Ende geht, daß ich es geschafft habe... Ich bin angekommen, in 00:05:30 (oder so ähnlich, die Ergebnisse sind z.Z. nicht einzeln einsehbar) habe ich etwa 51 Kilometer und 1200 Höhenmeter mit einer Freude bewältigt, die mich fast dazu gebracht hätte, mich auf den nächsten Abschnitt zu wagen
Jedoch die Tatsache, daß es jetzt für 13 Kilometer in für Autos unzugängliche Waldgebiete geht, hat auch meinen endorphindurchfluteten Verstand etwas besänftigt und wider Willen habe ich dann den Lauf hier auch für mich persönlich beendet. Meinen ersten Teilauftrag hatte ich ja erfüllt und nun hieß es, zur zweiten Disziplin überzugehen:
Groupen
Mit Jörgs Vater fuhr ich zur nächsten Verpflegungsstation an Kilometer 63. Da wir noch etwas Zeit hatten, bis wir Jörg erwarteten, setzen wir uns in das kleine Kaffee und tranken einen solchen, als ich meinen Augen nicht traute. Eine Startnummer, wie sie eigentlich nur die 25er Staffelläufer hatten, kommt frisch gekämmt des Weges und unter einem Basecap entdecke ich nachgemeldeten
Fori XXX, so frisch und gut gelaunt auf dem Weg zum ersten Hunderter. Wir fallen uns in die Arme, als ich ihn so ansehe, weiß ich, heute wird er es schaffen. Ganz bestimmt.
Dann kommenJörg und Jens, Jens hat auch schon 63 harte Radkilometer in den Beinen aber er ist noch genaus so gut gelaunt wie vor Stunden, es ist schön, ihn als Begleiter zu haben.
Weiter geht es an die nächsten Verpflegungsstellen und Wechselpunkte, ich bekomme Thüringen erklärt von Jörgs freundlichem Papa und er hat extra Verpflegung für mich mitgebracht. Meinte, er hätte einen Auftrag bekommen...
An Kilometer 85 hat Jörg dann xxx das Tiereingeholt, der zwar angibt, völlig im Eimer zu sein, aber nicht so aussieht. Er bekommt von mir eine kurze Nackenmassageund dann zieht die kleine Karawane weiter...
Und auch wir fahren zum Ziel, wo ich auf meine Beiden Jungs warte, um mit ihnen zusammen ins Ziel zu laufen.
Ein fast perfekter Tag geht zu Ende, als ich gegen 21Uhr in meine Luftmatrazte falle. Ich habe gelernt, daß ich weiter laufen kann, als ich glaubte, und das die Beine das können, wenn der Kopf es ihnen sagt. Ich habe gelernt, daß ich mich in den Bergen wärmer anziehen sollte und daß ich meine Salzsticks mit etwas mehr Disziplin einnehmen sollte. Ich bin mir sicher, daß ich auch noch weiter laufen kann, wenn ich muss. Ich bin mir sicher, daß ich es einmal tun werde. Ich bin mir aber noch lange nicht sicher, ob dies dies meine Bestimmung und meine Erfüllung wäre. Obwohl mich dieses Laufen jenseits der 42 für magische Momente in eine andere Dimension versetzt hat.
Ich bin mir sicher, daß Fröttstädt eine gute Adresse ist und das dies mal eine ganz große Sache wird. Und ich bin stolz, beim 1. thüringenUltra meinen ersten Ultra gelaufen zu sein. Und falls es irgendwann einmal echte Zeitereisen gibt, dann ziehe ich mich wärmer an und lauf bis zum nächsten Ort.
"Wie manches, dem wir kaum Beachtung schenken,
Uns dennoch für ein ganzes Leben prägt,
Und seinen bunten Stein, als ein Andenken
Ins Mosaik unserer Seele trägt!"
Danke Jörg für die Idee und dafür, daß Du mit mir einen Hunderter geteilt hast. Danke Jens, daß Du als gute Seele auf dem Rad eine Wahnsinnsleistung gebracht hast, bei diesem Profil. Es war ein Vergnügen, Dich als Radbegleiter dabei zu haben.
Danke Euch allen, für`s Lesen!
Die Liedzeilen stammen aus Reinhard Mey`s Lied "Beim Blättern in den Bildern meiner Kindheit"
50/50 Duathlon Teil 1 - mein klitzekleines, wunderschönes Ultra-Debüt
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Entscheide Dich. Und wenn Du Dich entschieden hast,
vernichte die Alternativen.