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Nachtmarathon: Schlaflos in Marburg

Nachtmarathon: Schlaflos in Marburg

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Schlaflos in Marburg


Endlich wieder unter normalen Leuten. So ne Woche kann ja lang sein...Eigentlich hätte ich heute abend zum Bruce in die Commerzbankarena gehen wollen, aber Marathon ist mir lieber. 24 Jahre ist es jetzt genau her, da war der Boss schon mal in Frankfurt, damals im Waldstadion. Das Konzert war so gut, daß ich mit 14 Stichen genäht werden musste. Schon damals gab es normale Leute.

Nicht nur der Boss ist älter geworden. Aber ohnehin würde ich in Marburg das Durchschnittsalter gewaltig anheben, denn die 80.000 Einwohner-Stadt lebt von ihren knapp 23.000 Studenten. Andere Städte haben eine Universität, Marburg ist eine. Klar, daß die Startnummernausgabe und das Ziel im Universitätsstadion ist. Der Start jedoch ist auf dem alten Marktplatz, etwa 1 km und 100 Höhenmeter vom Stadion entfernt.

300 Kneipen und Gaststätten gibt es in dieser kleinen Stadt, die urigsten in der Oberstadt, deren Straßen mehr Treppen als die Häuser innen haben. Ohne die zahlreichen Aufzüge würde die Stadt kaum funktionieren.
In Deutschland gibt es nur drei Gemeinden, in denen Aufzüge Bestandteil des öffentlichen Nahverkehrs sind.
Die bekannteste Persönlichkeit und Patronin der Stadt ist die Heilige Elisabeth. Eine weitere ist Philipp von Hessen, der für die Gründung der Universität verantwortlich ist. Nach seinem Tod (1567) wurde Hessen unter seinen vier Söhnen aufgeteilt und verschwand politisch von der Bühne.

Der Laufkurs ist flach und führt über Straßen und Radwege (da gibt es Fahrradschläuche aus Automaten!). Es ist ein nach IAAF-Regeln vermessener Rundkurs, der je nach Wettbewerb mehrmals durchlaufen wird. Eine erste, etwa 11 km lange Schleife führt nach Norden und zurück. Eine zweite Schleife nach Süden und zurück ist ca. 10 km lang. Die Halbmarathonis sind danach im Ziel, die Marathonis müssen diese Südschleife noch zwei Mal durchlaufen. Durch den Rundenkurs kann der Veranstalter, der Ultra Sport Club die Kosten gering halten, denn schließlich sind die meisten Läufer Studenten. 14 € kostet der Halbmarathon, 24 € der Marathon. Ob es am kleinen Bafög liegt, daß nur 20 % der etwa 1200 Läufer den Ganzen laufen?

Ausdrücklich loben muss ich die Website für diese Veranstaltung. Schnell, übersichtlich und klar, wie die gesamte Oragnisation.

Der Startschuß wird diesmal nicht vom Oberbürgermeister Egon Vaupel gegeben, diesmal übernimmt dies ein Profi: Sven Fischer mehrfacher Weltmeister und Olympiasieger im Biathlon. 33 Weltcupsiege errang er in seiner Karriere, 1997 und 1999 gewann er den Gesamtweltcup. Der Thüringer erlebte vier Oympische Spiele als Teinehmer: in Lillehammer, Nagano, Salt Lake City und Turin, wo er nach drei olympischen Goldmedaillen mit der Staffel endlich die begehrte Einzelgoldmedaille im Sprint gewann.

Eine Stunde vorher gibt Pfarrer Ulrich Biskamp den „geistlichen Startschuß“, bevor er und zahlreiche „geistliche“ Läufer unter dem Vereinsnamen „Kirche Marburg“ an den Start gehen.


Seit vergangenem Jahr ziert die Finishermedaille jeweils ein neues Motiv der Stadt. Letztes Jahr war es das Landgrafenschloß, dieses Jahr die Elisabethenkirche. Die wurde nach der 1235 Heilig gesprochenen Landgräfin Elisabeth von Thüringen benannt. Die verwitwete Landgräfin kam 1228 nach Marburg, um vor den Toren der Stadt ein Hospital zu gründen. Die über ihrem Grab errichtete Elisabethkirche diente vor allem als Deutschordenskirche, als Ruhestätte der Landgrafen von Hessen und, bis heute, als Gedenkstätte für Pilger.
Die Gebeine der Elisabeth von Thüringen blieben aber nicht lange vollständig, da Elisabethenreliquien sehr begehrt waren . Der Kopf, als wichtigste Reliquie wurde von Kaiser Friedrich II höchstpersönlich, barfuß und in Büßergewand, in einen goldenen Becher gelegt, gekrönt, und auf den Altar der Kirche gebracht. Der Becher ist heute in Stockholm, der Schädel vermutlich in Wien.

Ein Haufen normaler Leute versammeln sich : Volker Berka, für seinen 406ten Marathon, Dr. Jürgen Kuhlmey lässt sich von seiner Frau per Privatjet zu seinem 355ten Marathon einfliegen, Sagbo Dogbe-Semanou kommt aus Togo angereist, der Kanadier Daniel Mildenberger läuft für den Laufclub Las Vegas, Cliff Davidson aus Pittsburgh macht nur einen stopover am Frankfurter Flughafen und will seinen Jet-lag überwinden, alles ganz normale Leute.

Wie gesagt Dreh-und Angelpunkt iat das Universitätsstadion : Startnumernausgabe, Umkleide und Duschen. Man lässt einfach seine Klamotten dort ( keine Aufsicht) und hat sie dann gleich wenn man ins Ziel kommt. Von dort läuft man gemeinsam zum Start auf den Marktplatz.

Es dauert zwar nur etwa 10 Minuten, aber es geht steil hoch. Es ist unheimlich schwül-heiß, der Schweiß rinnt, und oben am Marktplatz wabert der prämarathonale Gestank.

Interview mit Sven Fischer, dem Biathleten. Ein Polizeiauto verirrt sich in der Menge, bleibt stecken und bereichert die brütend-warmen Brühe. Die Rathausuhr schlägt 19 Uhr, der Rathausgockel aber klemmt atemlos den Bürzel ein und bleibt unsichbar. Sven gibt Startschuß und die studentischen Halbmarathonis rasen wie bekloppt, im Affenzahn abwärts.

Ein guter Reporter ist immer erreichbar. So kann ich bei km 4 den Notarzt rufen, als der erste Läufer zusammenbricht.Die Luft im engen Lahntal ist wie im Kuhstall, immer mehr Halbleichen brechen zusammen oder kübeln am Wegrand. Es sieht aus wie auf dem Rückzug nach El Alamain.
Alle 4 km gibt es Wasser, Iso, Cola. Schwerstarbeit der Helfer. Danke! Ohne Euch hätten wir nicht überlebt.

Die Stunden vergehen, die Nacht bricht ein. Glühwürmchen schwabbeln neben der Laufstrecke. Grillende Studenten mit warmen Bier feuern uns an. Ein Waschbär rennt erschrocken den Baum hoch. Die dunkelsten Stellen werden mit Leuchtstäbchen markiert, Verpflegungsstellen romantisch mit Kerzenlicht. Doch ich empfehle ausdrücklich eine Stirnlampe. Es ist eklig nass-warm, auch für normale Menschen.

Zieleinlauf in Stadion, ewig- lange Ehrenrunde. Stundenlang sitzen wir dann im Stadion: Gaby, die Siegerin von Eschollbrücken, Frank der Ak-Dritte von heute, und Henne und Achim natürlich. Michel, der berühmte Franzose mit seiner Goldkrone erzählt von seinem Chicagomarathon, als ihn Barack Obama begrüßt und er ihn nicht erkennt. Nun steht in den Zeitungen: „Who is the black beside Michel?“

Wieder vergehen die Stunden und ich halte es wie Horst Preisler (“ich lasse mich einfach treiben!“) und setze die gesparten Hotelkosten in den 300 Kneipen Marburgs um.

Mit meinem Biel-Finisher Shirt ( Biel? Kann man das auch pur trinken?), bin ich deplaziert, doch Alkohol verbindet. Als ich mir Bruce Springsteen wünsche, riskiere ich nach 24 Jahren mal wieder 14 chirugische Eingriffe, doch es geht gut. Als ich meine berühmte Windmühle einsetze, ist es wie 1985 : The Boss Is Back!

– Da tritt Jesus auf mich zu. Es ist der berühmte Freak „Jesus von Marburg“. Nach obligatorischem Foto höre ich die Story von dem Schlucker Christian, dem Kofferträger, dessen „Gönnerin“ im nach seiner Ermordung in den 70ern das bronzene Denkmal oberhalb des Marktplatzes stiftete.
„Alles ganz normale Menschen eben“ denke ich , als ich „Bobby“ kennenlerne. Er ist Professor aus Jena und liebt seine thüringische Elisabeth und fertigt Stickereien an.
Das Futter quillt ihm aus den Jacketärmeln als er mir Geschichten über Kaiser Friedrich II erzählt : Zwei Kinder soll er der Elisabeth gemacht haben, die Tochter hat den Brunnen auf dem Marktplatz gestiftet, den mit dem Drachentöter Georg, der Sohn war Heinrich VII
„ AHA! Denke ich mir, der Drachentöter ist ja wohl in jeder Marathonstadt zu finden!“ Die Bronzeinschrift beweist es.
„ Ach was, das ist doch gar nix! Der Kaiser Friedrich II hat doch ganz Europa durchgedingst, mehr als 100 Kinder waren es !“ Alle seine Kinder hat er in den Kerker gebracht.
Der Leser will ja informiert sein , und so mache ich mir im Laufe der Stunden 22 Seiten Notizen! Das reicht für 100 Marathonberichte bei m4y :

Daß alle Kirchenglocken jedes Jahr am ersten Mai läuten, weil da der Kaiser Friedrich in Marburg einmarschierte. Daß nach des Kaisers Tod 30 Jahre lang ein Engländer (Richard v. Cornewall) das römisch-deutsche Reich regierte, weil der Friedrich ja alle seine Nachkommen
inhafiert hatte: Daß August der Starke auch ganz Europa dingste und sogar 365 Kinder hatte, soviel wie das Jahr Tage ! Und von Napoleon, meinen Lieblingsultraläufer. Ja, seitenweise Geschichten über ganz normale Leute.

Als der Morgen graut, mache ich einen Stadtrundgang, belege mit Fotos die Stories ,die die Nacht mir gab, gehe zu den Ausgrabungen des mittelalterlichen Friedhofs an der Elisabethenkiche und nehme dann den ersten Zug nach Süden. Eine ganz normale Nacht eben.
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Gab es denn gar keine Verrückten wie sonst immer bei solchen Veranstaltungen? Schön und informativ geschrieben.

Bernd

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Hallo Laufjoe.

Das ist ein großartiger Bericht! Toll! Sehr informativ! :)
Die Organisation war wirklich prima. Marburg, meine Wahlheimatstadt, liebe ich sowieso!

Das Publikum war wie immer toll (na, zugegeben kenne ich nur das Marburger Publikum ;)). Lediglich in der "Südschleife" gibt es mal abgelegenere Stellen an die sich niemand verirrt, aber dort feuern einen in der Regel die zahlreichen Helfer an.

Vor dem Start kam jemand auf mich zu und sagt: "Du bist doch auch im Forum. Ich bin Fi(e?)nchen." Das hat mich ganz besonders gefreut, denn ich erkenne ja wirklich leider nie jemanden. Hoffe, es ist bei dir und auch bei allen anderen aus dem Forum gut gelaufen!?

Ausgestattet mit einem Super-Funktions-Kühl-Shirt der "Kirche in Marburg" und mit einem schmucken blauen "Staffel-Aufkleber" -- der leider schon nach 2 Minuten nicht mehr am Shirt und stattdessen an meinen Haaren kleben wollte! *autsch*! -- wartete ich also am ersten Wechselpunkt auf meine Staffelkollegin. Dort konnte ich beobachten, wie Mann endlich einmal dem inneren Drang auch mal der Bestimmer sein zu wollen nachgeben konnte. ;) (Später, am Zieleinlauf noch einmal ganz klar dessen Sympathie für die Läufer "Nur noch 300 Meter!" und Antipathie den Zuschauern gegenüber "Gehen Sie HIER hin, nein DA also HIER" mit dem "wirds bald-Unterton" bei gleichzeitigem kreuzen der Arme zum verdeutlichen des "hier" oder "da" --> Ganz großes Fragezeichen über Missus' Dampfschädel). Das war das erste Mal, dass ich auch aus der Zuschauer-Perskeptive mal was mitbekommen habe. Und natürlich muss man schon zugeben, dass die Strecke nicht nur über den Hirsefeldsteg rüber einfach eng ist. Immerhin war der kleine Abweg ins Grüne gestern nicht schlammig, wie das vor 2 und 4 Jahren der Fall war.

Übrigens wird der Hirsefeldsteg nächstes Jahr nicht mehr in dieser (zwar engen aber) schönen Form bestehen. Er wird im Herbst abgerissen. Dafür wird ein Steg aus Beton und Stahl gebaut. Optisch soll das Koloss dann an den Holzsteg erinnern. Der neue Steg wird breiter, was natürlich praktisch ist... aber traurig ist es doch, findet Missus und fragt sich, wann denn endlich auch die ganzen Bäume gefällt werden, weil die zu viel Laub werfen oder andere Nachteile haben und gegen praktische Betonbäume ersetzt werden :(

Aufgefallen ist mir noch der tolle Clown, der mich soooo erfreut hat! Ja, ich hatte auch Angst der arme Kerl würde wegschmelzen unter seinen Klamotten! Mit seinem Schild: Und Bunt! :) Grandios! Und das beste: Er sagt zu meinem Laufkollegen und mir: "Nur noch ein halber Marathon!" Aber für uns, als die 2. Starter zweier Staffeln war es eigentlich nur noch gut 1 km bis zum Wechselpunkt, also Zeit noch mal ein bisschen Gas zu geben.

Viele Grüße aus Marburgs Südviertel
sendet M.

PS: Lieber Laufjoe, wenn es dir lieber ist, dass ich hieraus einen eigenen Beitrag mache, und deinen Bericht darin verlinke, dann sag mir bitte schnell Bescheid, wird dann sofort erledigt. Ich war unsicher, ob ich meine eigenen Eindrücke hier als Ergänzung rein posten kann, oder einen eigenen Bericht-Faden eröffnen sollte. Bitte melden, wenn das so nicht i.O. ist. Dein Bericht ist wirklich fantastisch! :)
21.05.2010 -- Abendvolksl. Heckershausen, 10km -- 56:14,8
02.07.2010 -- Nachtmarathon Marburg HM -- 2:10:01,8
07.08.2010 -- 17. Brückenlauf Goßfelden, 10km -- 56:54

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toller bericht joe :daumen:

was ich nicht so toll fand das wenn man/frau eine Notdurft verspürte so gut wie gar keine Gelegenheit vorhanden war :motz: oder halt unter Gottes freiem Himmel.


und für die, die nicht so schnell waren,waren einige Versorgungsstellen schon abgebaut.

naja, alles in allem waret doch eine gelungene Veranstaltung und für mich ein guter lauf :wink:
Wenn Du laufen willst, lauf eine Meile. Wenn Du ein neues Leben kennenlernen willst, dann lauf Marathon.” (Emil Zatopek).:klatsch:

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:hallo: den bericht hier find ich auch ganz gut.

HG
Detlef
Wenn Du laufen willst, lauf eine Meile. Wenn Du ein neues Leben kennenlernen willst, dann lauf Marathon.” (Emil Zatopek).:klatsch:

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schöne berichte!
bin selbst die hm strecke gelaufen und fand es dank des wetters sehr hart. die strecke ist zwar sehr eben aber teilweise auch ein bischen langweilig - ok, ich bin bisher nur landschaftsläufe gelaufen, aber gerade die letzten kilometer auf diesem planetenpfad(?) fast alleine zu laufen, war eine quälerei.. da haben mir die marathonis echt leid getan, die mussten da 3x lang!
"pain is weakness leaving the body"

Plan 2009/10
02.11.2009 Zeitzgrundlauf 14,5km
08.05.2010 Rennsteiglauf HM
Marathondebut 2010(?)

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BerndR hat geschrieben:Gab es denn gar keine Verrückten wie sonst immer bei solchen Veranstaltungen? Schön und informativ geschrieben.

Bernd
Der Verrückte war der Joe selber, der wiegt noch drei weitere auf... :D
Ubi marathon, ibi bene (frei übersetzt: wo es einen Marathon gibt, geht's Dir gut!)
Meine private Laufseite: http://www.spass-am-laufen.de :welcome:

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also, wenn ihr mal auf die seite von diesem "jesus von marburg" geht (freaks von marburg) dann seht ihr was für verrückte ich in dieser nacht kennengelernt habe!
eigentlich ganz lustig diese stadt, weil nur bekloppte da, kann man sich sauwohl fühlen :daumen:
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