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Haile und ich.

Haile und ich.

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Haile Gebrselassie läuft in Berlin und ich in Neu-Isenburg. Umgekehrt wäre ja auch irgendwie komisch. Obwohl das vielleicht besser wäre. Stünde ich jetzt in Berlin, wäre ich bestimmt ausgeschlafen, hätte eine ruhige Tapering-Woche hinter mir und wäre gut trainiert. So bin ich einigermaßen übermüdet, schlecht trainiert und gar nicht ausgeruht. Blöd. Könnte ich doch nur mit Haile tauschen.

Trotzdem: Der Hugenottenlauf in Neu-Isenburg hat sich für mich voll gelohnt. Denn ab jetzt habe ich einen neuen Favoriten in der Kategorie „Blödester T-Shirt-Aufdruck“. Er wurde mit den Farben der französischen Tricolore gestaltet und lautet: „Liberté, Egalité, Muskelkate(r)“ Das lässt sich wirklich schwer toppen und in sofern war allein das die Hinfahrt wert.

Ich stehe hinter „Liberté, Egalité, Muskelkate(r)“ im Startfeld und freue mich. Was sollte mir jetzt noch passieren? In der Nähe zeigt ein Luftballon die Zielzeit 1:27 an. Ich sollte dringend weiter nach hinten. Ich sehe mich um. Neben mir stehen Greise, Gehbehinderte, Adipöse und jede Menge Frauen. Also genau meine Kragenweite. Ich bin trotzig und missachte die Volkslaufregel der fairen Startaufstellung – wenn man sich alleine dran hält, macht es irgendwie keinen Spaß. Klaus Wowereit gibt den Startschuss (Ach Unsinn – das war ja in Berlin – egal), und es geht los. Nach dem ersten Kilometer sagt eine knackige Triathletin zu der anderen knackigen Triathletin vor mir: wenn wir progressiv laufen wollen, sind wir zu schnell. Sofort verfalle ich ins Grübeln. Wenn knackige Triathletinnen, die bestimmt kleine Tattoos an den Knöcheln und 87% Muskelmasse haben, zu schnell sind – was bin ich dann? Laufe ich überhaupt progressiv? Wie läuft man aggressiv? Ich bräuchte jetzt eine Gesprächsrunde bei Frank Plasberg zu dem Thema, aber wo kriege ich die jetzt her, mitten auf einer Straße kurz vor dem Wald in Neu-Isenburg? Ratlos laufe ich weiter und beschließe, progressiv zu laufen. Die Beine sind schwer, die Nacht war zu kurz und es ist Vorsicht geboten.

Beim Start waren es 19 Grad warm, aber es fühlt sich wärmer an. Der Stadionsprecher von Egelsbach würde von „viel Luftfeuschtischkeit“ sprechen. Schon nach vier Kilometern bin ich so nassgeschwitzt, dass ich mir mehrfach über das Gesicht wischen muss. Zwei Jünglinge mit furztrockenen Nacken ziehen an mir vorbei, während einer den anderen fragt: „Trinkst Du was bei 5 Kilometer?“ Die Antwort: „Nö, so warm ist es ja nicht.“ Aha. So empfindet man also, wenn man mitten in den Tropen einen Nacken hat wie frisch geföhnt. Ich selbst stürze bei der ersten Verpflegungsstelle einen ganzen Becher Wasser hinunter und bin froh drüber. Vielleicht habe ich ja Diabetes. Das würde auch die schlechte Leistung erklären. Ich bin schon jetzt müde und schiebe mich progressiv weiter.

Heute, so scheint es, muss man besonders oft die Spur wechseln. Mehrfach auf der Strecke begegnen mir Paare, bei denen sie von ihm gecoacht wird. Das Coaching zieht diverse Tempowechsel nach sich („Brauchst Du ein Taschentuch?“ Oh ja bitte.“ „Wart, ich muss es erst rausholen“) und ich fühle mich wie bei der Springprozession. Rechts laufen, links laufen, Platz machen, Platz schaffen. Ganz schön was los, heute.

Bei km 10 ist eigentlich noch alles in Ordnung. Es wird schwer, das weiß ich, aber ich war vorsichtig. Spaß macht es aber irgendwie auch nicht so richtig. „Liberté, Egalité, Muskelkate(r)“ taucht auf und den kann ich unmöglich vor mir lassen. Ich ziehe auch an dem Mädchen mit der Schnappatmung vorbei. Wenigstens das. Aber die Beschwerlichkeit nimmt nicht ab. Im Gegenteil. Ich trinke bei jedem Getränkestand und gehe ein paar Schritte. Diabetes. Ganz klar.

Durch das Gehen wechselt die Community um mich herum. Wieder müssen der Pseudofranzose und Schnappi einge- und überholt werden. Ich sehe mir die Läufer um mich herum genauer an. Lange Hosen. So weit ist es mit mir gekommen. Jetzt laufe ich progressiv im Tempobereich derer, die bei einem Volkslauf unterwegs leicht auskühlen. Vor mir läuft jemand mit einem Trinkgurt. Sechs Fläschchen á 200ml. Ich denke an Dieter Baumann, der letztes Jahr an dieser Stelle gesagt hat: „Bei oinem Halbmarathon braukscht doch nix dringa!“ Sechs Flaschen! Der hat bestimmt auch Diabetes. Ich versuche mich mit medizinischen Ferndiagnosen bei Laune zu halten, als mir plötzlich mein Bein wegknickt. Nicht im Knöchel, sondern einfach so im Knie. Es sticht kurz und dann ist das Bein ein Stückchen Gummi. Auftreten fast unmöglich. Ich eumle und humple komisch vor mich hin. Auch das noch. Ich frage nicht mehr, woher das alles kommt. Es ist einfach da und es ist nicht gut. Und ich bin müde und will nachhause. Wie weit ist es denn noch? 5 Kilometer? Das kann ja noch ewig dauern. Ich schaue auf die Uhr. Noch kann ich es unter 2 Stunden hinkriegen. Wie peinlich ist das denn. Unter 1:45. Ja, das ist in Ordnung. Das kriege ich hin, wenn ich trainiere und nachts schlafe, anstatt laufen-mit-frauschmitt.de neu zu bauen und mich mit nerdigen Fragen zu Webhosting und Datenbanken zu beschäftigen.

Heute ist diese Zeit so weit weg wie der Mond. Heute ist unter 2 Stunden fraglich. Eigentlich könnte mir das wurscht sein, aber ein bisschen Ehre will ich dann doch noch retten. Also laufe ich und sehe auf die Uhr. Nicht, dass ich beschleunigen könnte, aber doch wenigstens nicht langsamer werden, das wär schön. Es liegt alles im Argen. Die Beine fühlen sich an, als wären sie gestern schon mal einen Halbmarathon gelaufen, der Atem ist mühsam. Inzwischen läuft mir der Schweiss an den Armen entlang, in die Augen und fühlt sich am Rücken seltsam kühl an. Der letzte Kilometer ist so etwas wie der Weg zur Verheißung. Gedanklich wähle ich auf den letzten Metern diesen Lauf unter die fünf schwersten in meinem Laufleben. Einen harmlosen Halbmarathon ohne Steigung. Ich bin unendlich müde. 500 Meter vor dem Ziel zieht das Mädchen mit der Schnappatmung an mir vorbei. Ich bin völlig wehrlos. Jetzt könnte Rainer Calmund an mir vorbeilaufen. Ich ruckle mich ins Ziel, 1:59:24.

Zuhause sehe ich, dass Gebrselassie sich auf den letzten fünf Kilometern auch schwer getan hat. Er sagt, es war zu warm gewesen. Das finde ich auch. Wir treten einfach demnächst noch einmal irgendwo an, wo es kühler ist. Haile und ich.
Berichte, Geschichten und Streuselkuchen: www.laufen-mit-frauschmitt.de
Laufen mit Verantwortung:
laeufer-pro-umwelt.de
Zum Hören: der Schmittcast
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Juhu, ein neuer und toller Frauschmitt Bericht. :hurra:

Wir sehen uns dann hoffentlich bei der Pasta Party in FFM. :winken: :hug:

Gregor

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Ein echtes Highlight. Vielen Dank für den vergnüglichen Start in die Woche.

Viele Grüße,
Jörg.

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Toller Bericht! Vielen Dank! Und war schön, Dich wenigstens kurz mal wieder zu sehen.
Gruß Thomas
PBs: 5km: 19:03 - 5,6km: 21:25 - 10km: 41:25 - HM: 1:26:39 - M: 3:11:15 - 50km: 4:09:09
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Melrose hat geschrieben:Toller Bericht! Vielen Dank! Und war schön, Dich wenigstens kurz mal wieder zu sehen.
Danke! Ich war im Ziel leider noch nicht gleich kommunikationsfähig, brauchte erst einmal dringend sieben Becher Getränk. Später hab ich euch dann leider nicht mehr gefunden.
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Sehr verehrte Frau Schmitt,

ich kann Dich trösten, obwohl ich in Berlin war, quasi den gleichen Boden berührt habe wie Haile bedauerlicherweise mehrere Stunden zuvor, habe ich Haile noch nicht mal gesehen, geschweige denn bin ich dazu gekommen, mich mit ihm zu unterhalten, unsere Erfahrungen auszutauschen, Renntaktiken für die nächsten Wettkämpfe zu diskutieren usw. Insofern hast Du eigentlch nichts verpaßt in Berlin. :hallo: Sei also nicht zu traurig.

Viele Grüße
Thomas
Ich habe noch nie etwas gelernt, während ich redete! :zwinker5: (Larry King)

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Na, immerhin hat Haile gestern 2:06:08 benötigt - also warst Du fast 7 Minuten schneller, das ist doch fantastisch!

Danke für einen wie immer höchst originellen Frauschmitt-Bericht! :daumen:
Renn', als wenn Du geklaut hättest !!

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Ich will das auch! :nick:

Nein, nein, das "Knickebein" und das "Eumeln" darfst Du gern behalten. Auch das "Liberté, Egalité, Muskelkate(r)"-Shirt möchte ich nicht. Kein Diabetes, keine überhöhte "Luftfeuschtischkeit“ , keine Schnappatmung und kein progressives Rucken. :zwinker2: Was dann?

Ich möchte einmal dabei sein, wenn Du läufst und in so unnachahmlicher Weise Eindrücke sammelst, während Du eigentlich nur läufst. Denn Deine Berichte machen JEDEN Lauf zu einem absolut erlebendwerten Event, bei dem man (also ich) stets bedauert, an diesem historischen Moment nicht teilgenommen zu haben.

Was ist dagegen ein Marathon in Berlin? Eine flüchtige Episode.

Danke für dieser literarische Meisterwerk und herzlichen Glückwunsch um Erreichen der 2-Std.-Marke. Trotz aller Widrigkeiten.
Nicht die Erkenntnis gehört zum Wesen der Dinge, sondern der Irrtum. (F. Nietzsche)

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Ist ja nicht der erste Bericht, den ich von dir mit Verzückung lese ... einfach klasse geschrieben. Und diesmal habe ich sogar ein schlechtes Gewissen, wenn ich deinen Bericht lesend vor mich hinlache, wo dir doch offensichtlich nicht nach lachen zumute war ! Aber ich sehe, dir scheint der Humor nicht abhanden zu kommen !!! Weiter so, warte schon gespannt auf den nächsten Bericht !!!
Gestern, als mein Schlüssel in der Hosentasche klimperte und ich ihn "klimpertot" machen musste, musste ich an einen anderen Bericht von dir denken ... da war doch so ein 3,95€-Typ oder 6,75€ oder waren's 5,99 €, die der als Münzen in der Tasche hatte ??? Köstlich !!!!!

Viele Grüße
Andrea

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haben wir nicht alle irgendwie einbißchen diabetes???

diabetes geht einher mit der globalen erwärmung! der dieter lief in einer anderen klimaepoche!
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Ich glaub die globale Erwärmung hat ihren Ursprung in Köln...

Danke mal wieder, liebe Frau Schmitt, für diesen super Bericht! (Ich lese die ja ganz gerne, auch wenn ich nicht gleich was dazu schreibe.)
Am 22. April 2017 in Wuppertal Zuckerspiel (10/21)
Am 6. Mai 2017 zwischen Wupper und Ruhr WHEW100 Ultramarathon (100km + Staffeln, 10km, 5km)

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Ein schöner Bericht (hat das schon jemand bemerkt?... :zwinker2: )... .
Sei beruhigt, denn nicht alle Jungspunde (ich bin 17) bleiben furztrocken im Nacken. Ich schwitze zwar im Normalfall erst so richtig nach dem Laufen, dafür bin ich allerdings noch keinen Lauf über 12km gelaufen... :zwinker5:

toller Schreibstil. Meine ehemalige Deutschlehrerin würde mir das aus den Fingern lecken... :daumen:

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Danke Frauschmitt für deinen wunderbaren und lustigen Bericht.

Ich hätte übrigens einen Vorschlag für ein seeeehr originelles T-Shirt für deinen nächsten Lauf: "Liberté, Egalité, Gebrselassie".
Wetten, dein Pseudofranzose würde vor Neid Platzen?

Liebe Grüße

Wolfgang

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frauschmitt2004 hat geschrieben:Ich sehe mich um. Neben mir stehen Greise, Gehbehinderte, Adipöse und jede Menge Frauen.
In einer dieser Gruppen war ich dabei. Schöner Bericht, Frau Schmitt.


Ruby

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Liebe FrauSchmitt,

nachdem ich mich gestern beim langen Lauf über drei Stunden lang mit Schmittcasts zugedröhnt habe konnte ich mich doch heute tatsächlich ziemlich über einen neuen Bericht freuen...

Diesmal war die Wehrlosigkeit gegenüber einem (glücklicherweise nur theoretischen) Callmund meine Lieblingsstelle. :zwinker2:

Liebe Grüße
Miriam

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Hi frauschmitt,

ich war auch dabei und bin nur die 10 km gelaufen... hat mir an dem Tag auch gereicht. Auch mir lief die Suppe nur so runter und ich konnte auch nur den Kopf schütteln über diejenigen Läufer mit langen Hosen oder langen Shirts. Merken die nix? Bin ich nicht normal oder die? Hmm... jedenfalls war das auch für mich ein verdammt harter Lauf, der mich für meine Marathonpläne (FFM im Oktober) nach vormals sehr langer Laufpause nicht gerade aufgebaut hat. Abhaken, weitermachen ;)

Danke, wieder mal, für die köstlichen Eindrücke.

bibee

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Wirklich sehr schön geschrieben! :daumen:
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RUNNER'S RISE - Das Blog über Höhen und Tiefen auf dem Weg zum Läufer
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frauschmitt2004 hat geschrieben:Neben mir stehen Greise, Gehbehinderte, Adipöse und jede Menge Frauen. Also genau meine Kragenweite.
Ich glaube, Du solltest mal Dein Benutzerbildchen aktualisieren :zwinker4: !
frauschmitt2004 hat geschrieben:Zuhause sehe ich, dass Gebrselassie sich auf den letzten fünf Kilometern auch schwer getan hat. Er sagt, es war zu warm gewesen. Das finde ich auch. Wir treten einfach demnächst noch einmal irgendwo an, wo es kühler ist. Haile und ich.
Immerhin hast Du schon auf der Wiese gelegen und Dich mit Tee abgefüllt, als Haile sich noch gequält hat :daumen: . Da Dir der "Pokal der Sparkasse Langen-Seligenstadt“ entgangen ist, und auch der gestiftete Einkaufsgutschein für einen neuen Streckenrekord, hast Du wenigstens an der Verlosung teilgenommen :zwinker5: ?
Renn-Schnecke

... von 2 auf 100 in 11 Jahren ...

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Ach bei deinen Berichten möchte man immer nur noch in der Provinz laufen.
Klasse!

Ach so - und in deiner Laufgemeinschaft sind noch Plätze frei -klick-
Neue Laufabenteuer im Blog

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Hab mich gekringelt, lustiger Bericht! :daumen:

Ist denn mit deinem Bein jetzt was Schlimmes oder hatte das nur mal n Formtief? Beine sind ja manchmal so...

Ulrike

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elcorredor hat geschrieben: Ich hätte übrigens einen Vorschlag für ein seeeehr originelles T-Shirt für deinen nächsten Lauf: "Liberté, Egalité, Gebrselassie".
Wetten, dein Pseudofranzose würde vor Neid Platzen?
Das ist auch schön behämmert! :D

Danke euch allen für die lieben Worte. Das Bein hat sich wieder erholt, wie ihr in dem neuen Laufbericht lesen könnt.
Berichte, Geschichten und Streuselkuchen: www.laufen-mit-frauschmitt.de
Laufen mit Verantwortung:
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Foxi hat geschrieben:Ich will das auch! :nick:

Nein, nein, das "Knickebein" und das "Eumeln" darfst Du gern behalten. Auch das "Liberté, Egalité, Muskelkate(r)"-Shirt möchte ich nicht. Kein Diabetes, keine überhöhte "Luftfeuschtischkeit“ , keine Schnappatmung und kein progressives Rucken. :zwinker2: Was dann?

Ich möchte einmal dabei sein, wenn Du läufst und in so unnachahmlicher Weise Eindrücke sammelst, während Du eigentlich nur läufst. Denn Deine Berichte machen JEDEN Lauf zu einem absolut erlebendwerten Event, bei dem man (also ich) stets bedauert, an diesem historischen Moment nicht teilgenommen zu haben.

Was ist dagegen ein Marathon in Berlin? Eine flüchtige Episode.

Danke für dieser literarische Meisterwerk und herzlichen Glückwunsch um Erreichen der 2-Std.-Marke. Trotz aller Widrigkeiten.
Schleimer :teufel: :D :teufel:
5 Km 18:22 10 Km 38:12 HM 1:22:42 bei Rolli in Verl Marathon 2:52:59 in 2009
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