Oha - ich hab den Eindruck, es wird wieder Zeit für eine Runde Zynismus.
Dann los:
All diejenigen, die hier Sachen ablassen wie "warum tut man sich das an?" - "ist doch egal, ob es Deutsche gibt, die unter 2:10 im Marathon laufen" - und "was bringt das?" lenken vom Thema ab. Dann geht mal wieder irgendwem zum hochoffiziellen Comeback gratulieren oder erzählt im entsprechende Thread, dass ein Marathon auch in 14 Stunden noch 'gelaufen' (sic) wird.
/ zynismus
Das Thema ist doch: Kann ein Deutscher Marathon in 2:03 laufen und wenn ja, warum tut er's dann nicht?
Mein Trainer könnte da auch eine Weile zu dozieren. Jahrgang 44, viele Jahre Kettenraucher, sehr spät zum Laufen gefunden und dann neben Job und kleiner Familie (alleinerziehender Vater) trainiert, bis zum Umfallen. Am Ende stand eine respektable 29:35,1 (mit 38 Jahren!). Aus unserer Gruppe sind nach wie vor die meisten relativ weit weg davon. Seine Antwort auf diese Diskussion ist regelmäßig: Heute sind die Lebensläufe anders. Meine, da steckt viel Wahres drin. Ursache und Wirkung sind da schwierig auseinanderzuhalten
Folgende Thesen (die allerdings von mir):
1. Erfolg wird heute häufig nur in materiellen Dingen gemessen. Daher kann ein Fußballer erfolgreich sein, weil er einen Haufen Geld verdient. Ein Leichtathlet oder Läufer ist's nur selten. Deshalb ist ein trainingsbesessener Läufer schon per se häufig "etwas anders", wenn er sich mit Hingabe ohne Ende reinkniet.
2. Bedingt durch 1. ist der Job wichtiger als ein Sport, der keine Kohle verspricht. Wie viele hoffnungsvolle Talente gibt's noch während der Schulzeit, die dann wegziehen um zu studieren und sich im Studiumsbeginn verirren (Partys, Studium, Nebenjob, neue Leute), statt am Sport festzuhalten (ich hab' mich selbst neulich erwischt, wie ich in Sachen Jana S. hier aus Winsen gesagt hab "waaas? Ausbildung bei der Sparkasse Winsen an der Luhe? warum macht die nicht was richtiges?" - dabei macht sie das "Richtige": hält Trainer und Verein die Treue, bei dem sie extrem erfolgreich ist).
3. Laufen ist unpopulär und deshalb laufen weniger Leute. Früher war der Abstand zum Fußball nicht so groß, weil es weniger zusätzliche Wahrnehmungskanäle neben dem Dabeisein im Stadion gab. Die Sportschau eben und ein paar Radiosender. Und heute: Das Internet. Es ist nicht Schuld - aber der Fußball ist dort präsenter. Mehr Leute, mehr Kreativität, mehr Vermarktung, mehr Aufmerksamkeit. Das ist übrigens nicht überall so: In den USA werden College-Rennen per Livestream übertragen. *Hier* machen einige Triathlonvereine sensationelle PR-Arbeit. Gute - ich meine - *wirklich* gute Internetseiten zum Thema *Laufen*? Und kommt mir jetzt nicht mit dem Joggermagazin Runner's World. Das hat mit Laufen *nichts*, aber auch *gar nichts* zu tun.
4. Die goldenen 70er sind vorbei. VW schafft die 22,5h Woche ab (jaja, ich übertreibe - aber wie viel waren's wirklich? 28?) und auch die letzten sehen ein, dass der Anspruch, dass der Mann alleine die fünfköpfige Familie ernährt, oft nicht mehr funktioniert. Das Leben verlangt uns in der globalisierten Welt (ja, auch die ist Mitschuld) mehr ab (weil wir uns im härteren, internationalen Wettbewerb etwas mehr strecken müssen um unseren gigantischen Lebensstandard zu erhalten) und es bleibt weniger Zeit für die Lauferei. Bestes Beispiel: Unsere Gruppe. Mit welcher Hingabe unser Trainer und die "Alteingesessenen" seit jeher versuchen, die Trainingsanfangszeit zu verteidigen. Die war schon *immer* 18:00 Uhr! (in Wahrheit war das sogar mal 17 Uhr). Es hat zwei Jahre gebraucht, einzusehen, dass unsere aktuellen Leistungsträger (wenn man sie angesichts unserer miesen Zeiten so nennen darf) es weder um 17, noch um 18 Uhr schaffen. Aktuell stehen wir bei 18:30 Uhr - dürfte ich's mir aussuchen, wäre es 20:00 Uhr. Ach Mist, um 21 Uhr schließt die Anlage : ( In Kombination mit Punkt 3., erschwert Punkt 4. das Training umso mehr.
Welchen Schluss ziehen wir? Irgendwer hat schon auf den Marathonnationalmannschaftsfaden verwiesen - zutreffend. Ich meine, wollten wir heute noch solche Laufhelden vorbringen, wie vor 30 Jahren, müssten wir die Rahmenbedingungen für's Laufen umfassend verändern. Der Anspruch: Breit gefächert trainieren und Talente entdecken und Fördern ist nett (hier gibt's sogar Sportfeste für die C-Schüler, bei denen eine Meldung für *mindestens* drei Disziplinen erfolgen *muss*), aber nicht erfolgversprechend. Leichtathletik ist großartig - trotzdem müsste es mehr Fokussierung auf's Laufen geben. Dann müsste es in Zusammenarbeit mit Ausbildungsunternehmen und Universitäten Möglichkeiten geben, wie Leistungssportler ihre Karriere trotz Studium / Ausbildung weiter verfolgen können, damit nicht jeder Grenzschützer oder Sportsoldat werden muss, der nicht verhungern will, nur weil er das Laufen liebt. Schließlich und zu guter Letzt bräuchte es bessere Veranstaltungen. Sorry, Laufveranstaltungen sind in aller Regel Schrott. Zutreffend dazu z.B. die Telis Finanz Regensburg:
Kräftig am Ziel vorbeigeschossen (übrigens eine der ganz wenigen guten Internetseiten zur Leichtathletik). Rennen können so dramatisch, so packend und so mitreißend sein. Warum kein 1500m Rennen mit Hintergrundmusik, Lightshow und Flutlicht? Oder was für Möglichkeiten gäbe es in der Halle? Ich hab' noch *keinen* getroffen, der nicht gesagt hätte "oah geil" beim youtube-Video von Jan Fitschen. Woran liegt das? Am Geschrei der Reporter! Sowas ist reproduzierbar - bei fast jeder Landesmeisterschaft, bei jeder regionalen Meisterschaft und bei großen Leichtathletikmeetings. Man muss es nur wollen.