Ich hatte heute ein Erfolgserlebnis der besonderen Art, das ich Euch allen natürlich auch gerne mitteilen würde. Vorsicht! Der Bericht ist extrem lang. Nein, wirklich. Richtig lang. Wenn Ihr ihn lest, werdet Ihr heute nicht mehr über Los kommen und keine DM 4.000,- einziehen können

Nachdem ich die ersten 2 Wochen des neuen Jahres zwar recht ausdauernd, aber eher so ohne Ziel vor mich hingelaufen bin, habe ich diese Woche angefangen, mein Training wieder etwas planvoller und abwechslungsreicher zu gestalten. Angefangen habe ich am Mittwoch mit Intervalltraining (3 x 10 min, 4:30 min/km). Seit dem zweiten Intervall an jenem Tag weiß ich, wie die Hölle in etwa aussehen muß (das erste ist ja noch nicht so schlimm, und beim dritten weiß man ja, daß es gleich vorbei ist...). Aber es hat Riesenspaß gemacht! Danach war ich so richtig gut drauf. Am Donnerstag wollte ich dann eine Stunde relativ locker laufen - ich bin zwar eine Stunde unterwegs gewesen und habe auch die angepeilten 10 km geschafft, aber ich habe mich alles andere als locker gefühlt. Mit anderen Worten: Es war zum Kotzen

Um nicht weiter in dieses Fahrwasser hineinzurudern, habe ich Freitag und Samstag erst mal Pause gemacht. Ich wollte nämlich auf keinen Fall die "Mission 35+" am heutigen Sonntag gefährden. Eigentlich wollte ich letzte Woche Sonntag schon meinen ersten langen 30 km-Lauf in diesem Jahr machen, nach 20 km haben mir meine Füße aber deutlich zu verstehen gegeben, daß ich mich nun schleunigst nach Hause zu begeben habe, wenn ich noch länger etwas von Ihnen haben will. Über 25 km (was nun auch nicht gerade eine Kurzstrecke ist) kam ich also vor einer Woche nicht hinaus. Ich war auch etwas zu flott unterwegs.
Deshalb mußte es heute klappen. Gut ausgeschlafen nach einer ordentlichen Portion Nudeln am Vorabend stehe ich also um 7:30 Uhr auf, ziehe mir zwei Bananen und einen Liter O-Saftschorle rein, fülle meinen Trinkgürtel mit Frubiase Sport, ziehe mich um, dehne mich ausgiebig, suche ein letztes Mal die Toilette auf und mache mich gegen 10 Uhr auf den Weg. Mein Plan ist, im Osten am Stadtrand von Bamberg durch den Wald südlich über Strullendorf nach Hirschaid und dann irgendwie zurück zu laufen (eine Strecke, die mir zu großen Teilen unbekannt ist).
Dank meines neuen Spielzeugs, der Polar S625X, bin ich ja nicht mehr auf die nervige Vor- bzw. Nachvermesserei meiner Strecken mit Bayernviewer oder Map24 angewiesen, und kann absolut frei im Wald herumtollen (was aber auch seine Nachteile hat, wenn man sich auf der Strecke nicht auskennt und wie man gleich sehen wird). Mit einem Tempo von 6:00 - 6:15 min/km laufe ich also durch den heute etwas verschneiten und überaus romantischen Hauptsmoorwald östlich von Bamberg. Die Vormittagssonne scheint verspielt durch die Baumwipfel auf die teilweise schneebedeckten Waldwege, ich genieße die winterliche Einsamkeit und Stille - es ist einfach hääärlisch. So muß das ja klappen mit den 35 km. Nichts spricht dagegen - außer der Tatsache, daß meine Beine von Anfang an recht schwer sind und nicht so recht wollen, wie ich wohl will. Irgendwo im Gebüsch raschelt es, und eine altbekannte, abschreckend häßliche Kreatur läuft - noch im sicheren Abstand und meist vom dichten Baumwuchs verdeckt, im Wald hinter mir her. Daß das Mistvieh mich so früh findet, hätte ich nicht gedacht - egal. Den Schweinehund und die bleierne Schwere in die dunkelsten Ecken meines Gehirns verbannend, biege ich vom Hauptweg rechts nach Süden ab. Ab und an kommen mir vereinzelte Jogger entgegen, die heute ungewohnterweise allesamt schneller unterwegs sind als ich.
Die Strecke ist abwechslungsreich, halte mich auf schmalen, einsamen Waldwegen und meine Gedanken schweifen in alle möglichen Richtungen ab. Irgendwann komme ich an eine Unterführung und merke, daß ich irgendwo bei einer Autobahn bin, was mich etwas verwirrt. Auch die Sonne (auf die ich leider die letzten 20 Minuten nicht mehr achtgegeben habe) steht da, wo sie eigentlich nicht stehen soll - nämlich in meinem Rücken. Um Klarheit zu bekommen, wohin ich mich jetzt verlaufen habe, laufe ich unter der Autobahn durch und komme an einen Parkplatz, der mir irgendwie sehr bekannt vorkommt. An dem Parkplatz ist auch eine dieser tollen Gebietswanderwegeübersichtskarten, an denen man sich orientieren kann, wenn man nicht weiß, wohin man sich im Vollrausch verirrt hat. Nur eines fehlt an dieser Karte - und zwar der rote Punkt, für den dann in der Legende der Karte steht "Sie befinden sich gerade hier"

Die Zähne zusammenbeißend, laufe ich wieder zurück in die Richtung, aus der ich gekommen bin, die Sonne nicht mehr aus den Augen lassend. Die obskure Mischung aus Hund und Schwein grunzt verächtlich und heftet sich wieder an meine Fersen. Nach einiger Zeit überquere ich eine größere Straße und mir kommt auf der anderen Seite eine Joggerin entgegen. "Wo geht's denn da hin?" frage ich, in die Richtung zeigend, aus der sie kommt. "Wenn'S immer gradaus laufn, kommen'S direkt nach Strullendorf". Perfekt - da will ich sowieso hin. Ich bedanke mich bei ihr und ziehe meines Weges. In der Einsamkeit des Waldes muß ich wieder mal an meine Begegnung mit zwei riesigen Keilern inkl. Anhang (Bachen & Frischlinge) im Sommer 2001 in einem Wald an der Grenze von Bayern und Baden-Württemberg denken. Seitdem bin ich nicht mehr ganz so sorglos, wenn ich in Wäldern unterwegs bin, die ich noch nicht wie meine Westentasche kenne. Der Schweinehund scheint meine Gedanken lesen zu können und gibt ein unheimliches Kichern von sich. In diesem Wald gäbe es keine Wildschweine, hat mir mal jemand gesagt.
Nachdem ich nun insgesamt über 1 1/2 Stunden unterwegs bin und knapp 14 km hinter mir habe, ist der Weg auf einmal zu Ende. Ganz plötzlich. Maschendrahtzaun, dahinter eine andere Autobahn. Toll. Wenn ich etwas hasse, dann ist es, einfach umdrehen und denselben Weg wieder zurücklaufen zu müssen. Das Schweinevieh ist nirgends zu sehen. Warum auch. Das Monster weiß ja ganz genau, daß er an dieser Stelle ohnehin nichts ausrichten kann, da ich mich ja schlecht einfach an den Waldrand setzen und auf den Bus warten werde.
Also wieder zurück. Die erste Abzweigung nach links (müßte nach dem Sonnenstand ungefähr Westen sein) in den dunklen Wald gehört mir. Ich überlege noch kurz, ob ich meine Taschen vorher noch voll mit Kieselsteinen machen soll, verwerfe den Gdanken aber schnell wieder. 90 kg Lebendgewicht + Kleidung + Schuhe + voller Trinkgürtel sind schon genug Ballast.
Der "verwunschene Pfad" ist ein Traum. Weicher Waldboden, wie er meine Füße nur selten kitzelt. Es ist einfach nur angenehm, auf trockenen Tannennadeln zu laufen, die frische Januarluft zu atmen und die Einsamkeit zu geniessen.
Nach kurzer Zeit komme ich jedoch schon wieder an einen größeren Weg, dem ich weiter in westliche Richtung folge. Nach ein paar hundert Metern sehe ich auf einem Holzschild endlich das erlösende Wort "Strullendorf".
Bald darauf lichtet sich auch der Wald, und ich bin am meinem ersten Wegpunkt angekommen. Der Wechsel von Waldboden zu Asphalt gestaltet sich wie eh und je: Man hat anfangs das Gefühl, als würde jemand mit einem Vorschlaghammer von unten gegen die Schuhsohlen hauen. Mir war auch, als hätte ich in diesem Moment aus dem Augenwinkel die gebückte Gestalt des Schweinehunds am Waldrand gesehen.
Entgegen meiner Erwartung (nachdem mich mein Orientierungssinn heute ja schon einmal im Stich gelassen hatte), finde ich die richtige Ortsausfahrt Richtung Hirschaid auf Anhieb. Zu dieser Zeit bin ich irgendwo bei km 20 angelangt und schon deutlich langsamer geworden (6:30 min/km im Schnitt). Ich gelange auch ziemlich schnell wieder in ein kleines, aber dichtes Wäldchen (mmmmhhhh, dieser Waldboden...). Hier begegne ich keiner Menschenseele. Ich war der einzige Mensch auf der Welt.
Als ich in Hirschaid dann kehrt in Richtung Heimat mache, habe ich 25 km hinter mich gebracht. Von Hirschaid nach Bamberg sind es etwa 10 km, in Bamberg noch knapp 4 km zu mir nach Hause. Ich kann den Kampf gegen den Schweinehund heute nicht mehr verlieren! Er scheint dies auch akzeptiert zu haben und zu guter letzt verschwunden zu sein (oh, wie bald sollte ich doch einsehen, wie trügerisch das war).
Nach Hause laufen ist immer toll. Da fallen mir auch die klugen Worte unserer Sylvi ein, die mir mal sagte, schwierig sei bei langen Läufen nur die erste Hälfte. In der zweiten sei es bei ihr wie bei den Pferden - sie werde meistens schneller, weil sie wisse, jetzt geht es nur noch nach Hause.
Ein paar Minuten hinter Hirschaid fange ich jedoch an, langsam einzubrechen; ich werde immer langsamer und der Puls schießt immer weiter in die Höhe. Ich laufe auf einer Art Deich am Fluß entlang und der Wind pfeift mir von der Seite in die Ohren. Langsam wird mir auch ziemlich kalt und mir fällt auf, daß die Sonne sich verzogen hat. Ohne ein Geräusch der Warnung taucht das unheimliche Biest, welches ich für heute schon als besiegt angesehen hatte, wie aus dem Nichts neben mir auf. Aus unmittelbarer Nähe ist es noch scheußlicher und furchterregender. Tief in den Höhlen liegende Schweinsaugen, eine Reihe scharfer Zähne unter der platten Schnauze, aus denen der Geifer tropft, die bucklige Haltung, die die Rückenwirbel stark hervortreten läßt, der faulige Geruch und das Gefühl von Müdigkeit und Ohnmacht, das einen in Gegenwart dieses Scheusals beschleicht... "MEIN SCHATZZSSSS! ER GEHÖRT UNSSSSS!" zischt es zwischen seinen Zähnen hervor. Ich bin nicht Dein Schatz und Du kannst mich mal kreuzweise, denke ich und beiße die Zähne zusammen. Doch es scheint aussichtslos zu sein. Ich will einfach nicht mehr und möchte mich am liebsten in den Dreck legen und warten, bis mich der Besenwagen aufsammelt. Oder bis Schweinegollum mir das Gesicht abnagt. Egal. Hauptsache hinlegen. Irgendwie schaffe ich es dann aber doch, auf dem Kiesweg im Wind weiterzuwackeln, inwischen in einem Tempo von ungefähr 7 min/km. Mittlerweile habe ich 31 km hinter mir. Die Spaziergänger, die mir zur Zeit entgegenkommen, sind besser als jeder Spiegel (vielleicht mit Ausnahme des Spiegels der bösen Stiefmutter aus Schneewittchen): Mein leichenartiges Aussehen spiegelt sich unfehlbar auf ihren entsetzen Gesichtsausdrücken wieder. Das neben mir auf Hüfthöhe noch etwas viel erschreckenderes an ihnen vorbeibewegt, scheinen sie nicht zu bemerken.
Die 12 km von Hirschaid nach Bamberg (waren wohl doch mehr als 10) kamen mir jedenfalls wie eine Ewigkeit vor. Nach 37 km Genuß und Höllenqualen (a winning combination) laufe ich auf dem Stauwehr im Bamberger Südosten ein. Und der Bamberger Hain ist voll mit Leuten.
Da schwillt meine Brust noch einmal stolz an, ich bedenke meine Beine, meinen Puls und den Gollumhund mit einem herzlichen "F...t Euch ins Knie!" und es materialisiert sich in meinem inzwischen doch schon recht sauerstoffentwöhnten Hirn die plötzlich wahnsinnige Idee, noch nicht nach Hause zu laufen. Also biege ich links in den Bamberger Hain und erhöhe mein Tempo noch einmal auf 6:30 min/km. Die Sonne kommt wieder hervor, pure Energie schießt in meine müden Knochen, ich laufe - nein, ich renne wieder aufrecht und fühle mich unbesiegbar. Gollum zieht den Schwanz ein und läuft jaulend davon. Ich sollte ihn heute nicht mehr wiedersehen. Nach einer relativ flotten 3km-Runde im Hain mache ich mich nun aber wirklich auf den Heimweg. Inzwischen bin ich auch wieder auf 7:00-7:30 min/km runtergefallen, aber trotzdem nicht mehr aufzuhalten. Die Spaziergänger sehen mich auch nicht mehr gar so entsetzt an.
Zum Schluß noch mal eine harte Prüfung für meinen geschundenen Leib: 2 km unerbittlicher Asphalt bis zu meiner Wohnung, ein Teil davon mit leichtem Anstieg (wobei es bei meinem Zustand schon wirklich sch...egal ist, ob der Anstieg leicht ist oder nicht). An der letzen Ampel muß ich kurz anhalten - interessantes Gefühl. Ab dem Beckenknochen abwärts ist alles im Eimer - der Oberkörper fühlt sich aber absolut frisch an (nicht, daß ich heute noch etwas vorhätte, wo er mir großartig nützen würde).
Vor der Haustür angekommen, drücke ich auf Stop -
44,9 km in 4:57 h. 6:37 min/km.
Ich bin meinen ersten Ultramarathon gelaufen. Am 23. Januar 2004 von 10 Uhr bis 15 Uhr.
Epilog
Normalerweise bin ich ein absoluter Kurzduscher - heute dauerte das Duschen aber knapp 30 Minuten. Nachdem ich mich noch ein wenig gedehnt hatte, machte ich mir 250 g Nudeln mit Tomaten-Zucchini-Soße. Mann, war das gut. Und trotzdem hätte ich noch Appetit auf so ein Ben & Jerry's-Eis gehabt. Danke für's Mund-wäßrig-machen, Toronto21!



Im Nachhinein betrachtet ist die Tatsache, daß ich fast 3 km mehr als einen Marathon gelaufen bin, gar nicht das Interessante an dem Lauf. Viel krasser ist für mich, daß ich vorher noch nie über 4 Stunden am Stück gelaufen bin. Jedenfalls kann ich nun guten Gewissens sagen, daß es eine beachtliche Leistung ist, 5 Stunden am Stück durchzulaufen, auch wenn man dabei nicht 60 km läuft.
So, das mußte ich mir jetzt mal von der Seele schreiben. Passend zur Ultradistanz ein ultralanger Bericht.


Stefan, Laufsüchtiger
