
Was bringt Dehnen? Zwei Experten stellen den Sinn des Stretchings in Frage.
Trotz lästiger Verbiegungen sind es für so manche Freizeitsportler doch angenehme Momente: Denn dan. wenn wir die Muskeln dehnen, zeigt uns keine Stoppuhr, kein Fehlpass und auch keine missglückte Übung, wie weit die eigene Leistung von der eines Topathleten entfernt ist. Das Dehnen hievt uns Hobbysportler auf eine Stufe mit den Vorbildern - die machen es schließlich genauso.
In diesen Minuten können die Gedanken ein wenig schweifen, denn der Körper weiß, was er zu tun hat. Dank jahrelanger Praxis geschieht alles wie von selbst. Die Übungen sind einprogrammiert. Über deren Sinn und Zweck haben Sportwissenschaftler eindringlich gepredigt: Dehnen steigert die Leistung, fördert die Regeneration und mindert die Verletzungsgefahr. Kurzum: Gesunder Sport ist ohne Dehnen nicht denkbar.
Höchste Zeit, mit diesen Vorstellungen aufzuräumen, meint der Sportwissenschaftler und Buchautor Professor Jürgen Freiwald von der Uni Wuppertal. Er hat festgestellt, dass etwas Entscheidendes fehlt: Es gibt keine wissenschaftlichen Beweise für diese Behauptungen. "Wir haben eine Unmenge von Studien zum Dehnen ausgewertet", berichtet er, "aber die besagten positiven Wirkungen ließen sich fast nie zeigen." Zugegeben, eine Tatsache mutet wirklich sonderbar an: Dieselben Übungen, die vor dem Sport die Muskulatur aktivieren und die Leistung fördern sollen, dienen danach dazu, sie wieder zu deaktivieren. "Dass die gleiche Maßnahme völlig entgegengesetzte Effekte haben soll, ist nicht sehr logisch", mein Freiwald vorsichtig. Ein Hauptargument der Dehnbefürworter war stets der Schutz vor Verletzungen. "Speziell zu diesem Aspekt wurden in Australien und den USA große Studien mit Militärrekruten durchgeführt", berichtet Prof. Freiwald. "Und ob gedehnt wurde oder nicht, das hatte keinen Einfluss auf die Häufigkeit von Verletzungen." Im Gegenteil: Eine andere Untersuchung lässt sogar vermuten, dass bei manchen Sportarten Dehnen eher schadet als nützt. So erlitten Jogger, die ihre Muskeln vor dem Laufen gedehnt hatten, etwas häufiger Verletzungen als diejenigen, die das nicht taten.
"Dafür gibt es zwei Erklärungen", sagt Prof. Freiwald. Zum einen kommt es durch intensives Dehnen zu einer Verformung des Bindesgewebes. Im Gegensatz zu einem Gummiband springt es aber nicht sofort in den Ausgangszustand zurück. "Es ist zwar auch elastisch, doch die Rückstellkräfte sind viel geringer", erklärt Prof. Freiwald. "Aber dadurch, dass das Gewebe verformt ist, reißt es leichter ein. Eine Verletzung wird somit wahrscheinlicher." Vergrößert wird diese Gefahr durch ein Muskelphänomen: Starkes Dehnen verlängert die Reaktionszeit der Muskeln und schadet so ihrer Koordination. Tritt der Sportler zum Beispiel beim Laufen in ein Loch, kommt das Zusammenziehen der Muskeln, das sonst innerhalb von Sekundenbruchteilen das Sprunggelenk stabilisiert, nicht selten zu spät: Die Folge: Der Sportler verletzt sich.
Ähnlich kritisch ist Prof. Freiwald hinsichtlich eines möglichen leistungsfördernden Effektes. In vielen Studien habe sich gezeigt, dass durch Dehnen die Sprunghöhe von Sportlern sogar abnehme, sagt er: "Die Teilnehmer verloren zwischen drei und zwölf Prozent ihrer Maximalleistung." Interessanterweise hatten die Sportler selbst ein anderes Gefühl: Mit gedehnten Muskeln glaubten sie, höher zu springen. Tatsächlich erreichten sie erst eine Stunde nach den Übungen wieder ihre ursprüngliche Leistungsfähigkeit, gemessen an der Sprunghöhe.
Professor Klaus Völker vom Institut für Sportmedizin der Uni Münster unterscheidet deshalb zwei Wirkebenen: eine objektive und eine persönliche. "Da klafft eine Lücke", gibt der Leiter der Sektion Breiten-, Freizeit- und Alterssport der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin zu. Die meisten Sportler hätten das Gefühl, dass ihnen Dehnen etwas bringt. "Das ist die persönliche Einschätzung. Mit objektivierbaren Daten lässt sich das nicht belegen."
Und wie ist es mit der Regeneration nach dem Sport? Wieder schüttelt Freiwald den Kopf. Dadurch, dass man beim Dehnen die Muskeln in die Länge ziehe, würden feine Gefäße zusammengedrückt. Die Durchblutung nimmt ab, "die Regenerationszeit der Muskeln wird verlängert." Genauso wenig lässt sich durch ausgiebiges Dehnen ein Muskelkater verhindern. "Das funktioniert nicht", sagt Völker. Denn der Muskelkaterschmerz kommt durch feine Risse in den Fasern zustande. Dehnen kann da sogar zusätzlichen Schaden hervorrufen. "Schließlich wird auf eine beschädigte Struktur Zug ausgeübt", erklärt Freiwald.
Trotz allem lehne Völker das Dehnen nicht kategorisch ab: "Im Rahmen eines Aufwärmprogramms mit umfangreicher Muskelpflege kann es sinnvoll sein." Entscheidend seien Intensität sowie die ausgeübte Sportart. "Wer z.B. zum Joggen geht, der braucht eine kraftvolle Muskulatur. Für so jemanden ist starkes Dehnen, bei dem ja die Muskelspannung herabgesetzt wird, nicht sonderlich gut", sagt Völker. Wer hingegen anschließend Gymnastik betreibe, müsse beweglich sein. "Der soll ruhig dehnen."
Doch Vorsicht: Bei zu intensivem Dehnen könnten die oben beschriebenen negativen Folgen auftreten. Für Freizeitsportler wird daher ein leichtes Dehnprogramm empfohlen, bei dem jede Übung ein- bis zweimal wiederholt wird. "Länger als fünf Minuten darf das nicht dauern", sagt Freiwald, der auch gegen das lange verpönte Wippen beim Dehnen nichts einzuwenden hat. "Dass dadurch die Verletzungsgefahr steigt, ist nie bewiesen worden".
Einig sind sich die Experten darin, dass die Psychologie eine wichtige Rolle spielt. "Wer glaubt, dass ihm Dehnen hilft, der sollte es auch tun", mein Völker. Schließlich fühlen sich manche Sportler anschließend lockerer und geschmeidiger. Ihre Körperwahrnehmung verändert sich. "Für solche Menschen ist es sicherlich sinnvoll", stimmt Freiwald zu. Ganz abgesehen davon: Wann hat man schon die Möglichkeit, sich völlig ungestraft mit Sportgrößen wie dem Fußballer Ronaldo, dem Golfprofi Tiger Woods oder dem Skiidol Hermann Maier zu vergleichen? Wenn das kein guter Grund ist!