Das Training begann mit einer einmonatigen Krankheitspause. Im November dann tat ich meine ersten zaghaften Schritte. Bald konnte ich über großartige Erfolge auf einer Strecke von fast 8 Kilometern berichten, die ich in kaum mehr als einer Stunde bewältigt hatte.

Nach effektiv 8 Monaten des Trainings (die letzten 10 Wochen nach Steffny) ist nun also der große Tag da. Der Tag X, der Tag der Abrechnung. Der Tag des Marathons.
Nach einer halb durchwachten Nacht stehe ich um 6 Uhr auf, verdrücke einen halben Powerbar und eine Scheibe Weißbrot mit Käse und trinke bis 7 Uhr fast 1,5 Liter Wasser. Dank sorgfältiger Vorbereitung am Vortag kommt kein Streß auf. Die angepeilten Zwischenzeiten sind mit einem wasserfesten Stift auf dem Unterarm notiert, der Kleiderbeutel gepackt, der Chip am Schuh befestigt und die Startnummer am Hemd, zwei Packungen mit Kohlenhydrat-Gel an der Innenseite des Hosenbundes angenäht, die Getränke in Flaschen abgefüllt und die Treffpunkte mit meinen privaten Verpflegungshelfern punktgenau vereinbart. Hier kann nichts mehr schiefgehen.
Um kurz nach 7 machen wir, mein Mitstreiter und Marathon-Trainingspartner Ingo und ich, uns auf den Weg zur S-Bahn. Bereits auf der Fahrt zum Hauptbahnhof brennt die Sonne mit einer für diese Tageszeit ungewöhnlichen Intensität vom stahlblauen, mit keinem einzigen Wölkchen befleckten Himmel. Es wird warm werden, verdammt warm. Dennoch versuche ich, dem Wetter etwas Gutes abzugewinnen. Auf das Gejammer eines neben mir sitzenden Läufers hin stelle ich fest, daß bei dem schönen Wetter zumindest mehr Zuschauer an der Stecke sein werden, und das hilft uns Läufern ja schließlich auch. Zugegeben, so ganz glaube ich das selbst nicht. Aber mit einer negativen Einstellung will ich nicht an den Start gehen.
Der Start. Vor dem Start kommen die Kleiderabgabe, die lange, lange Schlange vor den Toilettenhäuschen und der kilometerweite Weg zum Startblock. Über die Lautsprecher hören wir die aktuelle Temperatur: 18°C im Schatten. An der Straße des 17. Juni angekommen, müssen wir über das seitliche Geländer klettern, um in den Startblock zu gelangen. Es wird durch die immer weiter nachströmenden Starter schnell so eng, daß keine Fliege mehr dazwischenpassen würde. 9 Uhr. Der ersten Blöcke werden gestartet. Ich bekomme davon nichts mit. Runter mit dem halben Liter Wasser, die leere Flasche zum Rand des Startblocks durchreichen lassen, warten.
Endlich, ganz langsam, setzt sich das schwere Ungetüm aus Tausenden Läufern, in dessen Eingeweiden ich stecke, sich in Bewegung. Die Startlinie ist noch in weiter Ferne. Zeit genug, um von einem älteren Läufer, der schon zum x-ten Mal dabei ist, noch ein paar Ratschläge zu empfangen. Dann schließlich die rote Matte, die Stoppuhr gestartet und es geht langsam, zu langsam, Richtung Siegessäule, daran vorbei und weiter nach Moabit. An Überholen ist nicht zu denken. Zu dicht ist der Läuferpulk. Gleich nach dem Ernst-Reuther-Platz kommt eine enge Stelle, an der wir fast stehenbleiben, und dann läuft es sehr zäh weiter bis Kilometer 8 oder 9. Die ersten beiden Versorgungspunke kann ich auslassen, weil ich noch eine eigene Wasserflasche in der Hand halte. Dann geht auch für mich das Gedränge los. Leute, die direkt vor dem Tisch stehenbleiben, um ihre Becher zu leeren, blockieren den Ablauf. Von den Tischen kommt man nur zügig wieder weg, wenn man sich in affigen Zickzackbewegungen durch die gehenden und stehenden Trinker schlängelt. Leider wird sich das bis zum Schluß nicht ändern. Jeder Versorgungspunkt bedeutet einen deutlichen Zeitverlust und stört den Laufrhythmus. Später werden Ingo und ich nur noch abwechselnd Getränke organisieren, um so unsere Kräfte zu schonen.
Die ersten 15 Kilometer vergehen wie im Flug. Wir sind zwar 3, dann 4 Minuten hinter unserer geplanten Zeit. Aber nur die Ruhe. Das können wir alles in der späteren Hälfte wieder aufholen. Können wir das? Wir werden sehen.
Trotz einiger Unannehmlichkeiten ist die erste Hälfte des Laufes ein Traum. Zahlreiche Bands sorgen für musikalische Untermalung, aus einem Fenster in Kreuzberg tönen Vivaldis Vier Jahreszeiten und es sind bereits zahlreiche Zuschauer an den Straßen. Manchmal muß ich grinsen, wenn vom Rand besonders enthusiastische Anfeuerungsrufe zu hören sind: „Los, durchhalten, nicht aufgeben, Ihr schafft das!“. Das ist gut gemeint, aber dafür ist es doch noch ein wenig zu früh.
Nach KM 18 wartet meine Schwester zum ersten Mal mit einer Flasche Wasser auf mich. Ich strotze noch vor Kraft, recke beide Daumen gen Himmel, lächele und freue mich, daß ich den nächsten Verpflegungspunkt auslassen kann. Dann reiße ich das erste Gel-Päckchen aus meiner Hose, würge den auf Körpertemperatur angewärmten, klebrigen, stinkenden Brei runter und spüle mit reichlich Wasser nach.
Ingo bekommt Seitenstechen. Ich halte das Tempo, er bleibt dran. Vor dem Rathaus Schöneberg, kurz nach Kilometer 22, reicht meine Freundin mir Wasser. Alles klappt wie verabredet.
Auf dem Weg zum Wilden Eber verpasse ich die meisten Kilometerschilder. Aber das Tempo stimmt jetzt ungefähr, wir laufen erstaunlich gleichmäßig. Ich fühle mich gut. Nicht sehr gut, aber gut. Noch. Nur meine linke Achillessehne meldet sich leise, aber penetrant zu Wort. Ein Ziehen, hin und wieder ein Stechen. Nicht mehr.
Dann kommt der Hohenzollerndamm. Der Hohenzollerndamm ist lang. Unglaublich lang. Gefühlte 30 Kilometer lang. Jetzt ist es an Ingo, das Tempo zu machen und mich zu ziehen. An der Autobahnbrücke wieder Eigenverpflegung. Iso-Getränk. Dazu den zweiten Beutel mit Gelpampe. Wie lecker.
Jetzt ziehen sich die Kilometer zäh wie Kaugummi. Bei KM 33 merke ich, daß ich angefangen habe zu humpeln. Meine Achillessehne schmerzt. Schmerzt jetzt wirklich. Kein leichtes Ziehen mehr. Alles um mich herum erscheint mir matt. Die Zuschauermengen am Kurfürstendamm nehme ich kaum wahr. Irgendwann laufen wir die Potsdamer Straße hoch. Jeder Schritt tut weh. Aber ich bleibe dran, halte irgendwie Ingos Tempo. Vor der Staatsbibliothek wartet meine Schwester mit Cola. Auf meinem Arm steht, daß das Kilometer 38 ist. Die Cola hilft nicht. Er erhoffte Energieschub bleibt aus. Den letzten Verpflegungspunkt haben wir bereits bewußt ausgelassen, und wir werden auch bis zum Ziel nicht mehr trinken, denn das bringt jetzt nichts mehr.
Nur noch 3 Kilometer. Ein Katzensprung, auch wenn die Schmerzen in der Ferse jetzt unerträglich erscheinen. Ingo hat sich verabschiedet und einen Endspurt eingelegt. Schnell ist er vor mir verschwunden. Am Horizont ein Kilometerschild. Das muß KM 39 sein. Aber je näher ich komme, desto mehr sieht die 9 wie eine 8 aus. Wie kann das sein? Meine gerade so mühsam aufgebaute Motivation ist dahin. Woher neue holen?
Die Straße ist gesäumt von Läufern, die aufgegeben haben oder ins Gehen verfallen sind. Immer mehr Leute hören auf zu laufen. Aber ich nicht. Ich will nicht gehen. Ich habe mich als Läufer angemeldet, nicht als Walker. Da muß ich durch.
Bei Kilometer 41 laufe ich immer noch. Ein Teufelchen – ach was sage ich – ein großer, fetter Teufel sitzt auf meiner Schulter und brüllt mir ins Ohr: „Jetzt zu gehen wäre gar nicht schlimm. Dein Mindest-Zeitziel erreichst Du auf jeden Fall. Hättest noch gut 12 Minuten für die letzten 1195 Meter.“
Aber ich will nicht gehen. Nicht, wenn es nicht unbedingt sein muß. Da vorne ist das Brandenburger Tor, einen halben Tagesmarsch voraus. Habe ich so lange trainiert, um dann darunter durch zu spazieren? Nein, sicher nicht. Also weiterlaufen, weiterhumpeln, den linken Fuß möglichst wenig aufsetzen. Mitleidige Blicke folgen mir vom Straßenrand. Ich weiß genau, was ich als Zuschauer bei einem solchen Anblick gedacht hätte: „Der ist doch bekloppt, macht sich total kaputt. Wozu?“.
Aber das ist mir egal. Da ist das Tor. Drunter durch. Das Ziel voraus. Der Teufel versucht es ein letztes Mal: „Jetzt kannst Du aber wirklich gehen.“ Ich denke drüber nach. Er hat gute Argumente auf seiner Seite, der Teufel. Aber nein. Ich laufe weiter. Vor den Fotografen verzerre ich meine Gesichtsmuskulatur zu etwas, das wie ein Lächeln aussehen soll. Auf der roten Matte reiße ich die Arme nach oben und stoppe die Uhr. 3:53:**. Unter 4. Trotz Hitze, wenig Schlaf und vor allem trotz der gehumpelten 10 Kilometer.
Jetzt dürfte sich ein Hochgefühl einstellen. Tut es aber nicht. Statt dessen wird mir schwindelig, und mein Kopf baumelt unkontrolliert vor meiner Brust herum. Besorgt fragt mich eine DRK-Helferin, ob alles in Ordnung sei. Ich nicke und wanke hinkend und mit eigenartig schaukelndem Kopf zu den Männern mit den Medaillen, besorge mir eine Folie, Red Bull und lege mich erstmal hin. Als ich aufstehen will, ist der Schwindel weg, und auch mein Kopf ist wieder unter Kontrolle, aber ich kann meinen linken Fuß nicht mehr benutzen. Selbst leichtestes Auftreten entlockt mir Schreie und wüste Flüche. Ein netter Mensch hilft mir zum Sanitätszelt und ich bekomme dort einen Stützverband. Ein freundlicher Läufer aus Chemnitz stützt mich dann bis zu meinem Kleider-LKW und bringt mich zum Ausgang. Alleine hätte ich das nicht geschafft. Per Telefon rufe ich meine Freundin herbei, die eigentlich im nahegelegenen aber für mich unerreichbaren Biergarten gegenüber vom Bundeskanzleramt wartet. Auf meinem Handy sind per SMS unsere Nettozeiten angekommen: Meine ist 3:53:18. Ingo hat noch auf die Sekunde genau 2 Minuten auf mich gut gemacht.
Etwas später sitzen wir in der Sonne auf der Bierbank. Das Thermometer zeigt 29°C im Schatten. Meine Eltern haben mir ein paar Krücken mitgebracht. Ich bin zufrieden. Die erhofften 3:45 habe ich natürlich weit verfehlt. Aber unter 4 Stunden bin ich gelaufen. Und das war sicher nicht mein letzter Marathon. Ich liebäugele schon mit Hamburg im April. Und nächsten Herbst in Berlin wäre ich gerne auch wieder dabei. Marathonlaufen ist alles in allem doch eine feine Sache, denke ich.

Kosmo