Ich stehe am Start. Keine Startbox, wie vor acht Monaten bei meinem ersten Versuch. Hier in Duisburg geht das alles familiär zu. Jeder stellt sich da auf, wo er meint hinzugehören.
Ich weiß natürlich ganz genau wo ich hingehöre!
Genau neben den 3:45 Stunden-Zugläufer habe ich mich eingereiht. Der wird, wie von der Kette gezogen seine Kilometer abspulen. Da könnte ich mich einfach dranhängen und stur hinterherlaufen, aber so was habe ich ja nicht nötig!
Wozu beschäftige ich mich schließlich täglich mit meinem Hobby?
Ich habe mir eine ganz ausgefuchste Strategie ausgedacht bzw. runtergeladen von einem Typ namens Greif, den bestimmt außer mir keiner kennt.
Der Trick ist 15 km locker angehen, quasi ausruhen, dann 10 km Power geben, um dann die restlichen paar Kilometer ( 17,2! ) im mittleren Tempo auszutrudeln.
Logisch…Einfach…Banal!
Warum ich trotzdem neben dem Zugläufer stehe?
Na ja. Meine Uhr könnte ausfallen. Es könnte plötzlich dunkel werden oder ich könnte einfach mal wieder die Kontrolle verlieren und wie ein blutiger Anfänger (der ich natürlich nach 2,5 Jahren nicht mehr bin! ) viel zu schnell loslaufen.
Da bin ich doch mal Fuchs und benutze den Mann, wofür er da ist. Als Einbremser.
Hier in Duisburg läuft keine Rocky Balboa-Musik vorm Start. Die ganz große Show wird den teuren Events überlassen. Hier gibt es dafür fast alle zwei Kilometer eine kleine Sambaband, die aber dafür mit doppelt so viel Herz für jeden einzelnen Marathoni trommelt, tanzt und lächelt.
Hier gibt es statt 1 Million Zuschauer, die ich in Köln hatte, vielleicht 70 000. Aber die sind echt dabei. Und es gibt keine Engpässe auf der Bahn, was mir sehr wichtig ist, denn heute laufe ich Bestzeit, sagt mein Plan.
Da ich ja noch nicht so lange laufe, ist das mit den Bestzeiten noch relativ einfach. Seit Januar habe ich auf vier Strecken schon persönliche Bestleitungen errungen. Alles worauf ich im letzten Jahr noch stolz war ist schon jetzt Geschichte. Ein super Jahr für mich. Körperlich bin ich so gut drauf, wie nie. Im Training bin ich seit Januar über 1000km gelaufen. Das schaffen andere im ganzen Jahr nicht mit dem Fahrrad.
Da geht es plötzlich los. 1500 Läufer beginnen mit ihrem Getrappel. Ich lasse den Zugläufer vor mir über die Startmatte laufen. So weiß ich ganz genau: Wenn ich einen Schritt vor ihm im Ziel bin, dann habe ich die 3:45 geknackt!
Wie gesagt, so eine simple Strategie wäre unter meiner Würde. Also steht auf meinem Zeitenarmband eine Zielzeit von 3:44! Das hat den Vorteil, dass ich nicht mit der Horde um den Zugläufer laufen muss und ich habe eine Minute Luft für allerlei Eventualitäten während des Laufs.
So genieße ich also erst mal den Start und lasse den Zugläufer ganz allmählich davon ziehen. Ich fühle mich dermaßen fit, dass ich kaum glauben kann, dass dieses langsame Tempo richtig ist. Doch beim ersten Kilometerschild zeigt sich, dass ich das Plantempo auf die Sekunde genau getroffen habe.
Das ist das schöne am Marathon. Man kann gemütlich laufen. Rennen muss man bei Halbmarathons, 10 km-Läufen usw. aber das Marathon-Renn-Tempo ist vergleichsweise ruhig.
Nun müsste ich lügen, wenn es nicht doch einen winzigen Risikofaktor geben würde. Heute ist das ganz klar das Wetter! Seit einer Woche gewittert es mehr oder weniger. Immer wieder wurden 30°C angekündigt, aber der schwüle, diesige Himmel verhinderte extreme Temperaturen. Mittlerweile glaube ich nicht mehr daran. Ich gehe davon aus, dass auch heute so ein Mix aus vielen Wolken und seltenen sonnigen Abschnitten unseren Lauf begleiten wird. Man muss halt Optimist sein, wenn man im Juni einen Marathon meldet.
Der Optimist in mir behält ca. 35 Minuten recht. Dann klart der Himmel auf und die Sonne brennt fröhlich auf uns herunter. Da ist es wieder, Murphys Gesetz. Wenn etwas schief gehen kann, dann geht es auch schief!
Unser Fußballbundestrainer Jogi Löw spielt Krisensituationen mit der Mannschaft in „Was wäre, wenn…“ Szenarien durch.
Ich natürlich auch! Mich kann nichts überraschen. Mein Szenario für Sonne und 80% Luftfeuchtigkeit ist: „Weiterlaufen!“
Das hat zwei Gründe:
1. Ich bin der festen Überzeugung meine Zielzeit mit Reserve geplant und trainiert zu haben.
2. Was bleibt mir anderes übrig?
Also laufe ich. Alles funktioniert, wie ein Uhrwerk. An den Getränkestationen, trinke ich und schütte mir Wasser über den Kopf. Beizeiten öffne ich eine Tüte Salz und lecke möglichst viel davon von meiner Hand bevor ich es mit Wasser runterspüle, damit ich genug Minerale aufnehme.
Bei km 13 muss ich ins Gebüsch. Das ist für mich neu. Macht aber nichts. Ich setze den Zwischenspurt eben etwas eher an und überhole genau wie geplant bei km 21 den Zugläufer.
Er zieht ca. 30 bis 40 Läufer hinter sich her. Alle gut drauf. Ich noch besser, denn überholen macht Spaß!
Das erhöhte Tempo bis km 25 kann ich gut halten. Es ist natürlich anstrengend, aber „Hallo?“, ich laufe Marathon!
Da ich trotz aller Euphorie immer auch vorsichtig bin, versuche ich jeden Schatten zu nutzen unter dem ich durchlaufen kann. Wer weiß, was es am Ende noch helfen mag. Schließlich zeigt sich heute wirklich keine Wolke mehr.
Bei meinem ersten Marathon fingen die Qualen schon recht früh an. Das fällt mir ein, als ich schon fast 30 km hinter mir habe. Letztes Jahr war schon bei km 27 meine Kraft am Ende und Beißen war gefragt. Heute sehe ich dieses wunderschöne Schild mit der formvollendeten 30 und bin auf die Sekunde genau pünktlich.
Nun staunt der Fachmann und es wundert sich der Laie, aber das ganze geht nur noch bis zum 32. Kilometer gut. Ganz plötzlich ändert sich alles:
- Mein Puls geht geradlinig auf den Maximalpuls zu.
- An den Versorgungsständen weiß ich nicht, ob ich das Wasser zuerst über den Kopf gießen oder trinken soll.
- Ich wünsche mir einen Tankwagen mit Wasser neben mir.
- Ich muss Tempo rausnehmen, wenn ich nicht Gefahr laufen will am Ende ganz aufgeben zu müssen, also tue ich das.
- Ich suche verzweifelt einen, dem ich stur hinterherlaufen kann. Ich finde einen Mann mit Hut, der ein Tempo läuft, dass ich gerade so halten kann und verfolge ihn eine Weile.
- Ich, der die Sonne so liebt, wünsche mir Wolken!
- Meine Gefühlswelt gerät völlig durcheinander. Ich bin wütend, dass ausgerechnet heute die Schwüle so Überhand nimmt, enttäuscht, dass mein Ziel kaum zu erreichen ist. Dann wieder fühle ich mich herausgefordert und kämpfe wie ein Löwe. Dann wieder Frust und Verzweiflung…
Irgendwo zwischen km 34 und 36 passiert etwas, das ich nicht für möglich gehalten hätte. Ich bleibe stehen. Ich bin an einem Punkt angelangt, den ich noch nie erlebt habe. Ich will in diesem Moment nicht mehr. Nicht mehr laufen. Nicht mehr in der Sonne sein. Nicht mehr kämpfen. Eigentlich möchte ich nur nach Hause. In die Wanne oder auf die Couch. Ich möchte überall sein. Nur nicht hier auf der Strasse, einsam unter vielen, die sich alle quälen und von denen ich immer noch mehr überhole, als ich überholt werde. Trotzdem ist meine berüchtigte Willensstärke einfach weg.
So stehe ich also da. Auf dem Fußweg. Perplex, verwundert über ein neu erlebtes Gefühl. Ich schaue mich um. Aber hier gibt es keinen Bus nach Hause. Keine Rolltreppe ins Glück, hier ist nichts.
Also wie komme ich am schnellsten nach Hause? Indem ich weiterlaufe. Nicht mehr als 10 Sekunden habe ich in diesem Motivationsloch gesteckt und schon bin ich wieder an seinen Rand gekrabbelt und laufe genau auf dessen Kante weiter.
Ich bin erstaunt, wie gut es plötzlich geht, wie einfach laufen geht und ich bin mir sicher ich laufe jetzt durch…
Allerdings laufe ich langsam und so dauert es gar nicht lang, bis der 3:45-Zugläufer an mir vorbeiläuft.
Ich denke noch: „Nein, nicht die Horde Läufer!“ aber
1. macht es keinen Sinn den schnelleren für kurze Zeit hinterher zu rennen und
2. Was bleibt mir anderes übrig?
Merkwürdigerweise kommt da gar keine Horde. Nur ganz wenige waren in der Lage dem Zugläufer zu folgen.
„Was wäre, wenn…“Szenario 2 kenne ich schon vom ersten mal. Was, wenn ich Krämpfe im vorderen und hinteren Oberschenkel gleichzeitig bekomme?
Ich bleibe stehen, weil
1. Es ist gefährlich, wenn man den Krampf nicht löst und
2. Was bleibt mir anderes übrig?
Spätestens jetzt sehe ich ein, dass alles schön reden nichts hilft und die heutigen Bedingungen eben nicht optimal sind.
Leider wiederholen sich die Krämpfe in beiden Beinen und ich habe schon Angst, dass der 4:00-Zugläufer irgendwann den schwachen Moment, wenn ich mal wieder am Rand stehe und warte, dass die Krämpfe nachlassen, ausnutzt und auch noch vorbeiläuft. Das würde mich wirklich fuchsen, wenn ich wieder nicht unter vier Stunden bleiben kann.
Ich habe meinen vierten Krampf und ich weiß, dass es noch relativ genau zwei Kilometer sind. Ich würde gehen, aber auch das hilft nicht gegen die Krämpfe. Als es endlich wieder geht, schaue ich nach langer Zeit wieder auf die Uhr. Noch gut 21 Minuten bevor vier Stunden um sind.
Das muss gehen. Ich versuche lange Schritte zu machen. Das scheint die Krampfgefahr zu mindern. Mein Wille ist wiedererwacht. Ich will ins Ziel!
Ich biege um die letzte Kurve vorm Stadion und laufe unter dem Teufelslappen hindurch. Noch ein einziger lächerlicher (aber widerlicher) Kilometer.
Jeder Schritt wird so kontrolliert es noch eben geht gesetzt. Die Zuschauer vor der MSV-Arena jubeln. Jetzt bloß nicht stehen bleiben. Ab geht´s durch einen Discotunnel in das Stadion. Endlich! Eine gute halbe Runde im Stadion muss jetzt noch absolviert werden. Bloß keinen Krampf, jetzt!
Dann die Zielgerade. Ich sehe die offizielle Uhr. Weit unter 4 Stunden! Ich beiße mich über die Zielgerade. Ich laufe durchs Ziel, reiße die Arme hoch und sehe direkt dahinter meine Freundin auf der Tribüne. Ich lasse mich beglückwünschen und drücken und bin froh, dass es heute vorbei ist.
Die offizielle Finisherzeit ist 3:56:02!
Ich freu mich darüber trotz der 12 Minuten Verspätung, weil
1. bin ich immerhin unter 4 geblieben
2. ist das unter diesen Umständen eine Spitzenzeit für mich und
3. Was bleibt mir anderes übrig?
Marathon in 3:45, Klappe, die zweite (und täglich grüßt das Murmeltier)
1Comeback 27.09.2009 in Bertlich
2008 9.Feb WLS Duisburg 10km 44:14 PB
2008 1.März WLS Duisburg 15km 1:11:13 PB
2008 29.März WLS Duisburg HM 1:40:10 PB
2008 27.April Hermannslauf 31,5km 3:16:35
2008 01.Juni Rhein-Ruhr-Marathon 3:56:02 PB
2008 9.Feb WLS Duisburg 10km 44:14 PB
2008 1.März WLS Duisburg 15km 1:11:13 PB
2008 29.März WLS Duisburg HM 1:40:10 PB
2008 27.April Hermannslauf 31,5km 3:16:35
2008 01.Juni Rhein-Ruhr-Marathon 3:56:02 PB