Vorbildlich trank ich am Abend vorher nur Radler und verkrümelte mich gegen halb elf ins Bett, um gemeinsam mit unserem Kind an der Matratze zu horchen. Okay, das Chili-con-carne und die Steaks vom Grill waren vielleicht nicht optimal, aber zusammen mit dem Tzatziki würden sie mir einen gewissen Abstand zu den anderen Läufern verschaffen. Am nächsten Morgen traf ich mich um 5 Uhr mit Schwiegermutti in der Küche, um bei meinem Spezialfrühstück über das zu plauschen, was mir am Abend vorher entgangen war. Liebevoll kochte sie mir meine Kanne grünen Tee, wenigstens einer, der mich bei meinem Hobby unterstützt. Vielleicht kennt sie mich aber auch schon lange genug. Vom Tee schaffte ich nur eine Tasse, zusammen mit einem viertel Liter Sojamilch unterbot das meine übliche Startvorbereitung von ca. 1,5 Litern erheblich. Aber auch das ignorierte ich. Mit 10 Minuten Verspätung machte ich mich auf den Weg und hoffte inständig, daß so früh an einem Sonntagmorgen nur Wenige auf der Autobahn unterwegs wären. 9 Minuten nach Ende der Startunterlagenausgabe konnte ich meine Startnummer und mein froschgrünes T-Shirt in Größe L in Empfang nehmen. Im Auto, daß ich auf einen schmalen Streifen Rasen direkt an der Laufstrecke gequetscht hatte, zog ich mich fertig an, schnappte meine beiden Flaschen mit je einem halben Liter Basica und suchte auf dem Weg zum Start einen Verpflegungspunkt, bei dem ich beide deponieren konnte.
So lief ich Jörg über den Weg, der tapfer am Stadioneingang gewartet hatte. Zusammen schlängelten wir uns durch die Läufermassen, um wenigstens nicht von ganz hinten starten zu müssen. Dabei wurden wir prompt von Sinchen entdeckt und konnten uns noch kurz gegenseitig Mut machen. Pünktlich um 9 Uhr ging es auf die Strecke. Während Jörg davonrannte, versuchte ich, mein Tempo zu finden. Das war schlichtweg unmöglich, da die Ausflugsschneise ziemlich eng war und viele Läufer und Läuferinnen erstmal überholt werden mußten. Auf der langen Zeppelinstraße sortierte sich dann alles und am Luisenplatz mit dem Brandenburger Tor wurde man schon fast persönlich von einer Moderatorin begrüßt. Danach ging es durch die Einkaufspassage, wo man um diese Zeit noch locker auf dem Bürgersteig und somit im Schatten laufen konnte. Ich erinnerte mich an die Worte eines alten Laufhasens beim Berlin-Marathon, der mir riet, immer den Schatten zu suchen. Das war wohl der einzige Moment auf der ganzen Strecke, wo meine temporäre Umnachtung durch Vernunft erhellt wurde. Auf der Humboldtbrücke über die Havel genoß ich die kühle Brise und überlegte, ob man nicht runterspringen und ans andere Ufer schwimmen könnte. Dann würde man wieder auf der Strecke landen. Da der Lauf aber Schlössermarathon und nicht Schlösserduathlon hieß, ließ ich diesen Gedanken wieder fallen.
An der ersten Verpflegungsstelle nahm ich einen Becher Wasser, trank ihn halb aus und goß den Rest über meinen Schwamm. Im Babelsberger Park versuchte ich, auf der rechten Wegseite zu laufen, um zum einen dem Staub und zum anderen größeren Schottersteinen zu entgehen, die sich meinem Hallux permanent in den Weg legten. An der nächsten Verpflegungsstelle ließ ich alles links und rechts liegen. Mir ging es gut, die Sonne brannte mir aufs Hirn und ich erfreute mich der Villen, die in der Großen Weinmeisterstraße jeden Häuslebewohner und -sitzer vor Neid erblassen lassen. Ich träumte vom großen Lottogewinn, dann würde ich mir so ein tolles Schloß genau hier am Heiligen See kaufen und mit meinem Personal Trainer um den See laufen und in der Havel schwimmen. Apropos Havel und Schwimmen, irgendwie zog mich das Wasser magisch an, je mehr ich selbiges meinem Körper entzog. Als ich das russische Dörfchen durchquerte, fragte ich mich, wie die eingewanderten Handwerker bei den ganzen imposanten Bauwerken noch soviel Zeit hatten, ihre Hauskunstwerke zu bauen. Auf dem Weg durch Sanssouci war ich noch ohne Sorgen, obwohl sich langsam das Chili meldete. Bohnen sind offensichtlich keine gute Grundlage für einen Marathon. Ich verschwand kurz im Park und wunderte mich mal wieder darüber, wie hemmungslos man wird, wenn's pressiert

Erleichtert brachte ich die elendig lange Forststraße hinter mich. An der Strecke standen vereinzelt Zuschauer, einige Anwohner berieselten statt des Rasens die Laufstrecke. Ich dachte an die aufreibende Kombination aus nassen Strümpfen und Schuhen und umlief sorgfältig die Rieselfelder. So konnte ich trockenen Fußes ins Stadion einlaufen, wo ich beim Wechsel von der Zielgasse in die Gasse zur zweiten Runde fast einen anderen Läufer touchierte. Ich hätte es als Omen nehmen und wieder zurück in die Zielgasse laufen sollen. Aber es war mein "Heute-ignoriere-ich-alles-Tag" und ich lief tapfer in die zweite Runde. Erstaunlich, daß ich nicht auch Jörg ignorierte, der erstmal Fotos en gros machte und ziemlich locker aussah. Meine Halbzeit lag bei 1:55, abzüglich der 3 Minuten Depression im Park eine fast normale Durchgangszeit. Am nächsten Verpflegungspunkt muß ich mir meine zwei Flaschen geschnappt haben, kann mich aber nicht mehr daran erinnern. Mit je einem Pfund in jeder Hand läuft es sich nicht gerade optimal und so beschloß ich, ein Drittel aus der einen Flasche zu trinken und deponierte diese dann an der Zeppelinstraße. Am Luisenplatz stand immer noch die Moderatorin und begrüßte jetzt jeden mit der Startnummer. In der Einkaufspassage wurde es dann richtig lustig. Einige Touristen klatschten Beifall, anderen konnte man direkt ansehen, was sie von uns Verrückten hielten

Mittlerweile trank ich an jedem Verpflegungspunkt einen Becher Wasser. Es ging auf die Mittagszeit zu, die Sonne brannte unbarmherzig und ich schwitzte und fluchte. Offensichtlich hatten die regelmäßigen Saunagänge keinerlei Hitzeresistenz gebracht. Die Beine wurden schwer, aber ich lief weiter. Auf der Humboldtbrücke dachte ich garnicht erst an ein kühles Bad, ich wäre nie über das Geländer gekommen. Der Babelsberger Park war jetzt noch staubiger, steiniger und heißer. Ich merkte, daß sich an beiden großen Zehen Blasen gebildet hatten

Bis Kilometer 26 hatte ich mich dann in eine mittelprächtige Dehydratation verrannt. Trotz geistiger Umnebelung und medizinischer Laienhaftigkeit konnte ich viele Symptome noch sehr deutlich bei mir erkennen. Mir wurde schwummrig, ich hatte leichte Kopfschmerzen. Alles ab Bauchnabel abwärts begann ebenfalls dumpf zu schmerzen. Der Mund war trocken, der Hals kratzte und, was mich am meisten erschütterte, waren die Anzeichen einer Blasenentzündung. Soetwas hatte ich das letzte Mal vor 20 Jahren, als ich mehrere Tage zu wenig getrunken hatte. So schleppte ich mich also über die Strecke mit Monsterblasen an den Füßen, ständigem Harndrang bei ständigem Durst und verfluchte die Organisation, weil sie nicht alle 2 Kilometer Wasser verteilte. Der Inhalt meiner Basica-Flasche mußte verdunstet sein, trotzdem klammerte ich mich an die leere Flasche wie ein Verdurstender in der Wüste. Ich glaube, Jörg hat sie mir dann im Ziel abgenommen.
Interessant an einer Dehydratation sind auch die psychischen Symptome. An der Strecke sah ich eine Touristengruppe, mehrere von ihnen hatten Flaschen in der Hand. Das machte mich irgendwie aggressiv. Ich überlegte, wie ich einem von ihnen eine Flasche entreissen könnte. Auf die Idee, mal nett zu fragen, wäre ich nie gekommen. An einem Verpflegungspunkt nahm ich zwei Becher Irgendwas, eine Betreuerin stellte sich mir fast in den Weg und fragte dreimal, ob sie mir meine Flasche füllen sollte. Darüber mußte ich erst mal nachdenken, das ging aber irgendwie nicht mehr und ich lief dankend weiter. Ich hatte das dringende Bedürfnis, Schuhe und Strümpfe auszuziehen, aber zum Glück noch soviel Phantasie, mir vorzustellen, wie ich dann barfuß über die Schotterwege laufen müßte. In meinem Kopf bildete sich ständig das Wort Blutblase, wovon mir schlecht wurde. Ich sah die Krankenwagen an der Strecke, dachte aber nicht mal ansatzweise an Hilfe. Ich begann, alles in mich reinzustopfen, was ich mitgeschleppt hatte: Salz, Powergel, Gummibärchen. Ich hätte auch noch das Toilettenpapier gegessen, wenn es nicht vorher schon auf der Strecke geblieben wäre.
Die Kilometerschilder nahm ich garnicht mehr wahr. Ich rechnete nur noch in Verpflegungspunkten, wechselte zwischen Laufen und schnellem Gehen und soff, was das Zeug hielt. Irgendwann, ich hatte mich gerade wieder zu einem Laufschritt aufgerappelt und das Trinken hatte etwas Besserung gebracht, kam der nächste Dolchstoß. Ein netter Mann an der Strecke rief mir eine Zahl zu und teilte mir mit, daß ich die 23. Frau wäre. Das wollte ich nun wirklich nicht wissen

Als ich ins Ziel trudelte, konnte ich immer noch nicht fassen, daß ich es geschafft hatte, daß ich angekommen war. Jörg hatte sogar noch auf mich gewartet und dokumentierte das ganze Elend fotografisch. Zusammen gingen wir zum blauen Wunder und ich verwechselte Acki mit dem Waldläufer, die Dehydratation hatte Spuren hinterlassen. Ich wollte trinken, ich mußte trinken. Es war sogar noch ein Kasten Radler da. Ich beschränkte mich auf zwei Becher, da der Betreuer die Befürchtung äußerte, ich würde sonst auf dem Tisch tanzen. Ja, wenn ich das noch gekonnt hätte! Nachdem mich Jörg wieder einigermaßen zusammengeleimt hatte, trennten sich unsere Wege. Ich wollte so schnell wie möglich zurückfahren, mußte schließlich zum Geburtstagskaffeetrinken wieder da sein. Auf dem Weg zum Auto kam ich an den Nudeln vorbei, verzichtete dann aber, nachdem die Mädels auf den Papierschnipsel bestanden, von dem ich nicht mal wußte, wo im Universum er sich gerade befand. Im Auto verkleidete ich sorgfältig den Fahrersitz mit T-Shirt und Laufjacke, da ich einfach keine Lust und Kraft mehr hatte, mich in eine Gemeinschaftsdusche zu zwängen. Ich wagte nicht, die Schuhe auszuziehen. Auf der Rückfahrt übermannte mich zweimal die Müdigkeit, trotzdem fuhr ich weiter. Schwiegermutti hätte mir die Leviten gelesen, wenn sie das gewußt hätte

Gereinigt und geläutert saß ich dann am Kaffeetisch, trank einen Liter Basica und einen Liter Tee, verschmähte auch das dritte Stück Torte nicht, das mir Schwiegervati mit einem Augenzwinkern und einem "Du kannst es vertragen" auf den Teller packte und freute mich darüber, daß sich keine Blutblasen sondern nur normale Blasen gebildet hatten. Mein Coach kommentierte meinen Leidensweg nur mit einem "Und dafür der ganze Aufwand" und ich wußte, daß ich von dieser Seite keine Gnade zu erwarten hatte. Ich dachte über den ganzen Aufwand inklusive Training nach und mir wurde klar, daß es sich gelohnt hatte. Ich war wieder um eine Erfahrung reicher, nämlich die, daß kein Lauf wie der andere ist und wie es ist, seinen Körper an die Grenzen der Leistungsfähigkeit zu bringen. Das ganz normale Abenteuer Leben eben

PS.: Wer die Fehler, die ich vor und während des Laufes gemacht habe findet, kann sie getrost behalten
