Fragen über Fragen, die mich mehr oder weniger quälen, während ich in meinem Startblock auf den Beginn des 32. Stockholm Marathon warte.
Dieser Marathon ist mit über 20000 Meldungen ein großes Event, zumal es parallel keine anderen Strecken im Angebot gibt. Der Halbmarathon findet an einem seperaten Termin im September statt und auch andere Strecken werden an eigenen Terminen gelaufen. Wir haben die Stadt also für uns – fast! Denn in und um Stockholm herrscht beinahe Ausnahmezustand, das schwedische Königshaus und mit ihm das ganze Land fiebert einer Traumhochzeit entgegen, die die auflagen der Yellow-Press um einiges in die Höhe schnellen lassen wird. „LOVE 2010“ ist allgegenwärtig, es gibt keine Hochzeitsdevotionalien, die man nicht kaufen könnte ….
Der Stockholm Marathon wird über zwei nicht ganz identische Runden durch große Teile der wunderschönen Innenstadt und über die grüne Lunge Djurgarden führen, der Start erfolgt in der Nähe des 1912 erbauten Olympiastadions und der Zieleinlauf wird direkt in diesem ehrwürdigen Bauwerk sein.
Neben Schweden, Finnen, Esten, Spaniern usw. sind auch viele deutsche Starter hier, mit einem Laufkollegen aus der Nähe meines Heimatortes wechsele ich noch ein paar Worte, ehe es los geht. Die Kommentatoren verkürzen den Wartenden ebenfalls die Zeit, sprechen in den jeweiligen Landessprachen die Startgruppen an und sorgen so für Kurzweil.
Etwa 70m vor mir reihen sich die 3.45-Ballons ein. Das passt halbwegs, nach langen Zielzeitzweifeln will ich versuchen, auf jeden Fall sub4 zu laufen, bei perfektem Lauf komme ich vielleicht nah an die 3.45 ran. Irgendwo bei einer Pace von 5´20 will ich mich also einpendeln.
Einen Startschuss höre ich nicht, aber pünktlich um 14.00 Uhr kommt Bewegung in die Masse, nach knapp zwei Minuten überquere ich die Startlinie. Eng geht’s hier zu, aber immerhin laufen fast alle ein ähnliches und für mich brauchbares Tempo. Nach dem Start geht es bald um die Ecke auf Valhallavägen, eine breite Allee mit leichtem Gefälle. Die kommt in der zweiten Runde noch mal und ich nehme mir vor, hier später ein bisschen zu drücken. Bei km 3 ist es immer noch super eng und meine erste Befürchtung tritt ein: Ich kann leider meine Familie nirgends entdecken. Hoffentlich klappt das später besser, wenn ich meine Flasche bei km 27 von ihnen gereicht bekommen soll!
Das Klima in Stockholm ist sehr gut, zwar scheint die Sonne bei etwa 20 Grad, aber es ist nicht schwül und die Luft angenehm frisch. Wir durchlaufen Strandvägen direkt am Ufer, kommen nach Gamla Stan (Altstadt, alleine auf einer Insel gelegen). Hier ist auch das Stadtschloss der Bernadottes und von einer großen Bühne auf dem Kai gegenüber des Schlosses schallt Livemusik herüber. So geht der erste 5km-Teil in unter 27min. vorbei.
Am anderen Ende von Gamla Stan trennt ein Schleusensystem den Hafen vom Süßwasserreservoir Stockholms, dem 150km langen Mälaren-See. Von hier führt die Strecke nach Osten, der berüchtigten Västerbron-Brücke entgegen. Es ist immer noch recht eng auf der Strecke, insbesondere an den Verpflegungsstellen herrscht heilloses Gedränge. Ich versuche dem zu entgehen, indem ich gleich bis ans Ende der langezogenen Stationen laufe - diese Strategie bewährt sich und wird in der Folge beibehalten. Die 2 mal zu laufende Västerbron ist mit Rampen etwa 1600 m lang und 30m hoch. Um hier bei km 8 nicht schon zu viele Körner zu verbrennen, nehme ich bergauf ein wenig Gas weg – bergab kann ich es gut rollen lassen. Ein DJ treibt uns mit dem französischen Gran-Prix-Beitrag (Allez, allez, allez!) den Berg hinauf, oben empfängt uns eine Trommelgruppe. Der Blick von hier oben über die Stadt ist beeindruckend. Dieser 5km-Teil vergeht in exakt 27 min.
Der nächste Abschnitt ist leicht wellig und führt langsam zurück Richtung Innenstadt und Stadion, unterwegs laufen wir auf Odins Pfad (Odengatan) und auf der Straße Thors (Torsgatan). Werde ich den Gott mit dem Hammer kennenlernen, oder bleibt mir diese Begegnung diesmal erspart? Um ihm nicht zu schwach entgegentreten zu müssen, nehme ich bei km 12 ein Gel zu mir. Am Ende von Odengatan ist km 15 erreicht (Split 26:39).
Nanu, was verteilen die denn? Das sind ja Gurken! Tatsächlich reichen hilfreiche Hände den Läufern hier Gurkenspalten – ob sauer oder salzig, kann ich leider nicht sagen, ich traue mich an die Dinger nicht ran, wer weiß, ob ich es vertrage? Während ich noch grübele, biegen wir wieder auf den leicht abschüssigen Valhallavägen ein, und ich drücke auf die Tube. Hier, in der mythischen Wohnung der gefallenen Helden will ich ein bisschen Zeit gutmachen, bevor es nach Djurgarden mit den vielen kleinen Wellen in der Strecke geht. Djurgarden ist das Naherholungsgebiet der Stockholmer. Es handelt sich um ein großes Wald- und Wiesengebiet mit nur geringer Bebauung, das die Stockholmer an diesem Traumtag zu ausgiebigen Picknicks nutzen. Unter anderem befindet sich hier auch das Tivoli, ein großer Freizeitpark mit einigen spektakulären Fahrgeschäften. Es gibt ruhige Teilstücke hier, ohne Zuschauer und man kann ein wenig die Natur genießen. Dann gibt es wieder kleine oder größere Gruppen von Zuschauern, die uns anfeuern. Die Sonne knallt hier ganz schön, und die kleinen bissigen Anstiege fordern uns Läufer. Die ersten müssen gehen, bevor die HM-Marke bei 1:52:42 überquert ist. Ich spüre die Anstrengung in den Beinen, der linke Oberschenkel macht ein wenig zu – bisher hatte ich die Salztabletten vergessen. Nun nehme ich eine, bei km 23 gleich die nächste. Der Druck im Muskel lässt wieder nach, ich werde wieder lockerer. (Splits 26:31 und 26:57)
Jetzt geht es am Reichsmuseum vorbei, hier irgendwo müssen die beste Ehefrau der Welt und der nicht minder wichtige Rest der Familie stehen. Ah, dort sind die drei! Mein Sohn reicht mir wie ein Profi die Flasche, kurzes Rufen und Winken allerseits, weiter. Super, ich freue mich riesig, es tut unendlich gut, euch zu sehen! Über eine kleine Brücke geht es zurück in die City, auf den Strandvägen. Hier geht inzwischen die Post ab, die Stimmung ist riesig und der Lärm ebenso. In kleinen Schlucken trinke ich meine Flasche leer, zwei Verpflegungsstationen kann ich dadurch auslassen. An den Stationen schlucke ich viele Läufer, denn hier herrscht immer großes Gedränge und es wird inzwischen viel und lange gegangen. Wieder in Gamla Stan erreichen wir km 30. (split 26:51)
Auf dem weg nach Slussen (die Schleuse) treffe ich eine Läuferin der Siefersheimer Rennschnecken. Siefersheim ist nicht weit von uns entfernt und ich bin einen meiner ersten 10er in diesem hübschen Dorf gelaufen, organisiert von diesem netten, laufverrückten Verein im Herzen Rheinhessens. An der Schleuse ist die Hölle los, das Publikum grölt und schreit, sie wissen, dass es jetzt hart werden wird für die Läufer, die das Bad in der Menge genießen. Man läuft hier kurz bergab in eine Unterführung hinein und das Geschrei der Leute scheint von überall zu kommen. Gänsehaut pur!
Auf dem Weg zur zweiten Brückenüberquerung überhole ich viele Läufer, muss allerdings auch immer wieder ausweichen. Manch einer bleibt unvermittelt mitten auf der Straße stehen oder läuft mir in den Weg, um an den Straßenrand zu kommen. Das kostet Zeit und Kraft. Hier überhole ich auch den Außerirdischen von der Vega, den ich schon am Start gesehen hatte. Auf seinen Shirt steht „vegan runner“. Dann geht es die Brücke hinauf, wieder nehme ich ein wenig Tempo heraus. Andere gehen, ich laufe mit einer Pace von 5´55. Jetzt bloß nicht überziehen, noch sind es 9km! Dann kann ich es wieder laufen lassen, noch ein Gel, und km 35 ist erreicht. Ich weiß inzwischen, dass ich einem super Ergebnis entgegen laufe, wenn ich nicht einbreche. 3:45 ist außer Reichweite (und wäre auch zu vermessen gewesen), 3:50 ist bestimmt machbar. Den Rest schaffe ich jetzt auch noch, das spüre ich. (27:42)
Aber dieser Rest ist nicht ohne, denn hier geht es langgezogen noch mal die Torsgatan hinauf, und vor dem Donnergott habe ich ob seines Werkzeugs immer noch Respekt. Hier motiviert mich die Musical-und Tanzgruppe mit fetzigem Bläsersound sehr, und Thor traut sich nicht aus seinem Versteck. Vielleicht ist er ja auch gar keine Gefahr für mich, gilt er doch auch als der Beschützer Midgards, der Menschenwelt? So langsam macht sich Euphorie in mir breit, ich weiß, jetzt kann nichts mehr passieren, ich fühle mich immer noch stark. So genieße ich diesen Abschnitt, die Odengatan geht exakt bis km 40, weitere 27:34 sind vergangen.
Jetzt ist es gleich geschafft! Von einem Reebok-Laster schallt laut AC/DCs TNT als letzte Motivationsspritze. Ich laufe, freu mich, werde überholt und überhole. Die Pace ist nur noch zweitrangig für mich, ich genieße die Eindrücke. Auf der Straße sehe ich die plattgetretenen Gurkenreste der ersten Runde. Der verrückte Spanier vor mir schwenkt seine Flagge und lässt sich von den Zuschauern feiern. Viva Espana! Überall rufen die Menschen, schwenken schwedische, finnische, italienische und wasweisichsche Fahnen und treiben uns an. Dann kommt endlich das Stadion in Sicht! Ich weiß, wir müssen noch mal halb um das Oval außen herum laufen, ehe wir hinein können. Macht nix, ich genieße jetzt jeden Meter! Rechts ist das Tor, durchlaufen, rein in den Innenraum! Es ist etwa halbvoll, schön, alt, ehrwürdig und laut! Wieder habe ich Gänsehaut! Der irre Spanier läuft mir mit seiner Flagge noch mal in den Weg – na gut, dich schnappe ich auch noch!
Die Zielgerade ist erreicht. Jetzt will ich aber auch ein geiles Zielphoto! Also noch den da vor mir überholen .. das ist meine Lücke … Arme hoch … hurraaaa!
Nettozeit: 3:48:09 (brutto: 3:50:00), Platzierung 3557 (AK 496)
Danke für eure Ausdauer beim lesen.

Viele Grüße,
3fach