
Exakt 2 Monate und einen Tag nach meinem Stunt mit Raabscher Gesichtsbremsung fehlen mir drei entscheidende Dinge: die Kondition, der Größenwahn und die richtige Krankenversicherung, um möglichst schnell einen Termin beim Kardiologen zu bekommen. Ich hege nämlich den Verdacht auf myokardiale Beteiligung. Sollte mir die Sache mit dem Virus doch zu Herzen gegangen sein? Und wenn ja, wie komme ich dann ohne Herzkasper über den Rennsteig? Sollte ich vorher noch mein Testament machen und wem vererbe ich dann meine Laufschuhe? Fragen über Fragen. Passenderweise bekomme ich den Termin für die Beantwortung all meiner Fragen für den 10. des Monats, also genau zwei Tage nach dem Lauf.
Ungecheckt stehe ich mit Tati, Matti und Walter in der schneewalzenden Läufermasse am Start in Neuhaus und mache mir so meine Gedanken, während über uns der Hubschrauber kreist. Noch kann ich aussteigen, mich als übervorsichtiges Weichei outen. Andererseits habe ich ja schon bezahlt. Und mein Taxi nach Schmiedefeld ist auch schon weg. Ich müßte also zum Hotel latschen, mein Team zurückrufen und hätte ein ganz bescheidenes Gefühl. Also sowas von bescheiden.... Ach nö. Kann ja erstmal gucken, wie weit ich komme. Und dann immer noch aussteigen. Theoretisch. Heimlich mustere ich Tati und Walter und frage mich, ob sie mich im Fall des Falles ins Ziel schleifen könnten. Vielleicht sollte ich, nur mal so nebenbei und rein theoretisch natürlich, fragen, wann sie ihren letzten Erste-Hilfe-Kurs gemacht haben oder ob sie zufällig einen Defibrilator dabei haben? Zu spät. Der Schuß fällt und wir schieben uns den Berg Richtung Schmiedefeld hinauf. Laufen an meinem Hotel vorbei. Na, vielleicht doch? Zack, vorbei ....
Gemächlich traben wir in Richtung Rennsteig. Ich beschließe, die flachen Abschnitte mit einer Wellness-HF von 150 Schlägen und die Berge dazwischen mit maximal 160 hochzuwandern. Hört sich doch gut an. Mensch, ich hatte 160 drauf! Wow, 160, cool Mann, äh Frau


Sechs Kilometer vorm Ziel kommt uns Walter abhanden. Eben war er noch da, jetzt ist er wie vom Erdboden verschluckt und wir stehen alleine an der Verpflegungsstelle in Frauenwald. Mein Gott Walter, ihm wird doch nichts passiert sein? Erste Verluste sind zu beklagen. Obwohl ich genauso langsam laufe, wie vorher, tut meine HF so, als würde ich schneller laufen als vorher. 5 Stunden Hardcore-Wellness geht doch an die schwächelnde Substanz. Mir graut vor dem Schmiedefelder Mount Everest. Werden uns die Zuschauer ins Ziel peitschen? Werde ich dem Druck widerstehen oder den sterbenden Schwan geben? Ich könnte mich noch schnell hinschmeißenn und den Invaliden vortäuschen. Würde das die Massen besänftigen?? Der Berg rückt immer näher. Die letzte Schleife durch Schmiedefeld, es gibt kein Entrinnen. Und dann, dann ist er plötzlich da und .... KEIN SCHWEIN STEHT AN DER STRECKE! Was ist denn los, Leute

200 Meter vor dem Ziel steht mein Team und guckt gequält. Schließlich mußten sie dieses Jahr eine Stunde länger warten. Wie Michael Jacksons Nachwuchs baumelt Renn-Schneckchen über der Absperrung und wird auf ihre Mutti losgelassen. Wir nehmen den Nachwuchskader in die Mitte und beenden unseren Wellnesslauf in gepflegten 5 Stunden und 11 Minuten. Im Ziel steht auch schon Walter und freut sich. Wir freuen uns auch, dass er nicht irgendwo im Wald liegt. Die Massage lasse ich diesmal weg - das wäre dann wirklich zuviel Wellness. Mein Team drängelt. Sie mußten das Auto einen gefühlten halben Tagesmarsch vor der Stadt parken. Und das noch bergauf. Renn-Schneckchen hat keine Lust mehr zum Laufen, sie hat ihr Pensum heute schon erfüllt. Die alten Überredungstricks funktionieren nicht mehr. Erst als sie Oma mit dem Proviant sieht, kann sie auf einmal wieder laufen. Welch wundersame Heilung. Im Hotel stelle ich mal wieder fest, dass das Schönste am Marathon die Dusche danach ist. Und das Bier. Und Essen. Und Schlafen. Das habe ich mir bei soviel Wellness wahrlich verdient

Zwei Tage später beim Kardiologen. Obwohl ich einen Termin habe, warte ich geschlagene 65 Minuten auf das Date mit dem Doc. Dann liege ich nochmal 20 Minuten sinnlos in einem Untersuchungszimmer und warte auf Gott - den Gott in Weiß. Das alles, um 5 Minuten später mit einem "ich kann nichts entdecken" nach Hause geschickt zu werden. Das beruhigt mich jetzt ungemein. Konnte er nichts entdecken, weil es nichts gab oder weil er unfähig ist oder die Technik schlecht? Warum hat man als Schlecht- äh Pflichtversicherter immer das Gefühl, dass man nur ein Zehntel des Programms geboten bekommt?
Acht Tage nach dem Rennsteig stehe ich wieder auf der Matte. Na ja, fast. Das Läuferfeld ist überschaubar. Ich bin entspannt. Es ist zwar mein erster Gorch-Fock-Marathon, aber Wilhelmshaven kenne ich ja, ist ja alles plattes Land und Wasser. Am Tag vor dem Lauf lerne ich sogar das Reinhard-Nieter-Krankenhaus, an dem ich sonst immer vorbeilaufe, von innen kennen. Diesmal bin nicht ich invalide, sondern Renn-Schneckchen mit über 40° Fieber. Die Ärztin meint was von Darmaktivität, sprich Wanstrammeln und tippt auf Magen-Darm-Infekt. Damit hat sich der Bambinilauf für unser Kind erledigt

Auf den ersten Kilometern fallen mir zwei Dinge auf. Es gibt doch noch Ecken von Wilhelmshaven, in Fachkreisen auch WHV genannt, die ich noch nicht kenne und das aus gutem Grund. Das Zweite ist, dass ich weder Sonnenschutz noch Sonnenbrille mitgenommen habe. Das kann ja heiter werden, was es auch prompt wird. Ich komme mit einem 100-Marathon-Club-Läufer ins Gespräch und schäme mich ein bißchen ob meiner verschwindend geringen Anzahl von 37 (?) absolvierten Marathons. Wenn ich so weiter laufe, kann ich in 10 Jahren mal freundlich anfragen, ob die mich in ihrem Verein haben wollen. Aber bis dahin werden die sich schon in 200-Marathon-Club umbenannt haben und dann wird's wieder nichts. Zu uns gesellt sich eine weitere Läuferin. Auch sie läuft hier nicht zum ersten Mal. Dementsprechend angepaßt ist auch ihr Lauftempo. Das sollte mir zu denken geben. Ach was, plattes Land, ich setze mich mal ab und gucke, wie die Luft da vorne ist.
Wir laufen auf der Rüstringer Brücke über den Kanal und um den Banter See rum. Da war ich schon mal tauchen. Hab aber nichts gesehen. So bei Kilometer 5 geht's auf den Deich hoch. Das kenne ich. Von langen Läufen am Rande des Wahnsinns. Was jetzt kommt, ist eine mentale Herausforderung. Gefühlte 10 Kilometer oben auf dem Deich, links Schafe, rechts Meer, Plattenweg und man sieht gaaaanz weit vorne die anderen Läufer. Und von oben knallt die Sonne aufs Hirn. Man denkt die ganze Zeit: noch'n Meter, noch'n Meter, noch'n Meter, das Lamm da ist auch schon ganz schlapp, wann kommt Wasser, wann hört das auf, warum quälen die uns so ...? Wenn man dann diese Mentalibanprüfung bestanden hat und noch nicht ganz weggetreten ist, kann man sich den Marinestützpunkt ansehen, der sonst für Unbefugte nicht zuläufig ist. Und dann fällt einem ein, dass man das ganze Elend in der 2. Runde nochmal mitmachen darf...

Nach dem Marinestützpunkt kommt die Hafentour. Nordhafen, Ausrüstungshafen, Großer Hafen, zusammengefaßt in - genau - Wilhems Hafen. Alter Preuße, hätte Wilhelm gewußt, dass 137 Jahre nach seiner Idee mit der Marinegarnison jedes Jahr so ein paar Bekloppte durch die Stadt laufen, hätte er vielleicht ein paar Brücken mehr gebaut. So schleppen wir uns auf der Schleusenstrasse am Marinemuseum vorbei, wieder bis zum Banter See, aber diesmal am anderen Ende vorbei. Doch bis man die Deichbrücke erreicht heißt es erstmal, das Atmen einzustellen und auf seine Füße aufzupassen. Die Strecke ist nur mit Kegeln, in Fachkreisen auch Pylone genannt, vorsichtig angedeutet und hier erfährt man die Begeisterung der Autofahrer bezüglich laufender Hindernisse hautnah. Ich mag weder Abgase, noch unkoordiniert fahrende, genervte Autovandalen. Bin mittlerweile auch selbst genervt. Von wegen, Laufen entspannt

Als es in Richtung Marktstrasse geht, hoffe ich, wenigstens einen Bruchteil meines Fanclubs zu sehen. Niemand da. Das kann nur zweierlei bedeuten: entweder, das ist hier so stinklangweilig, dass keiner gucken kommt, oder Renn-Schnecki geht's schlechter und sie haben nicht angerufen, weil sie mich nicht beunruhigen wollten oder mein Handyakku alle ist oder ich weiß nicht was. Vor lauter Grübeln laufe ich einfach hinter einem Marathonläufer her, der von der Marktstrasse abbiegt und werde 300, 400, 500 Meter weiter, keine Ahnung, von einem Streckenposten darauf hingewiesen, dass das der Halbmarathonkurs ist und ich hätte geradeaus weiterlaufen müssen. Na prima, auch das noch. Nach dem Deich des Grauens und Autoslalom auch noch desorientiertes Herumirren

Ein weiteres Highlight der Strecke ist der Ems-Jade-Kanal. Kilometerweit immer am Kanal lang, bei Gegenwind und Sonne. Okay, meine subjektive Wahrnehmung ist nach 25 Kilometern sicher nicht mehr objektiv, aber mit der Aussicht auf Deich und Meer kann ich mich einfach nicht zu einer entsprechenden Würdigung dieses Landstriches überwinden. Die Schleife am Kanal findet ihren krönenden Abschluss darin, dass wir einen Kilometer mehr Meer, sprich Deich haben. Das und die volle Mittagssonne bei Kilometer 30 sind wohl zuviel für einen Läufer. Am Verpflegungspunkt auf dem Deich bricht hektische Betriebsamkeit aus. Rufe nach Wasser werden laut. Habe das Gefühl, dass das alles ganz weit weg ist. Messe die Strecke nur noch in Schafen. Endlich. Da vorn ist schon der Marinestützpunkt. Diesmal lassen sie uns nur bis kurz hinter die Wache laufen, dann geht's zurück. Das hat den Vorteil, dass man die abkippenden Läufer nicht so weit schleppen muss.
Die Situation an der Hafenstrecke hat sich nicht verbessert. Noch 6 Kilometer und ich kann nicht mehr. Zweimal Hölle am Watt und ich bin völlig platt. Mein Magen leistet nicht gerade einen konstruktiven Beitrag. Er streikt und krampft. Gehe ein paar Schritte in der Hoffnung, einigermaßen anständig ins Ziel zu laufen. Mann, was hab ich mich verschätzt

Ich habe dagegen nur einen Sonnenbrand und die Erfahrung mitgenommen, dass ich im nächsten Leben nicht als Deichschaf auf die Welt kommen möchte. Also wenn ich an Wiedergeburt und sowas glauben würde. Aber ich bin ja Atheist. Hundertprozentig.