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JoongAng Seoul Marathon 2010: Laufen ist Mathematik

JoongAng Seoul Marathon 2010: Laufen ist Mathematik

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JoongAng Seoul Marathon 2010: Laufen ist Mathematik

In Hongkong lebend und auf der Suche nach einem guten Herbstmarathon mit dem Potential die eigene Bestzeit zu verbessern, hatten wir uns dieses Jahr den JoongAng Seoul Marathon ausgeguckt, der am 07. November 2010 stattfand.
Seoul mit 12 Millionen Einwohnern, der Grossraum Seoul sogar mit 24.5 Millionen Einwohnern vereinigt die Haelfte der suedkoreanischen Bevoelkerung, und bietet als begeisterte Sportstadt gleich mehrere Marathons innerhalb eines Jahres. Die beiden groessten Marathons werden von Zeitungen veranstaltet, dabei folgt der JoongAng Seoul Marathon der Strecke des Olympiamarathons von 1988 einschliesslich mit Ziel im Olympiastadion im Stadtteil Jamsil.
Dies war neben der flachen Strecke einer der attraktiven Aspekte, die uns veranlassten, diesen Marathon zu waehlen.
Ich hatte in der Vergangenheit beruflich in Suedkorea zu tun und war somit etwas vertraut mit Seoul. Die Anmeldung ueber die englische Internetseite ist die erste Herausforderung. In Suedkorea, und das ist ueberraschend fuer die meisten Besucher, ist die englische Sprache trotz der politischen Naehe zu den USA keinesfalls eine gaengige Fremdsprache, und zwar bei Alt und Jung. Das Anmeldeformular ist auffallend schlicht; als wir unsere Startnummern am Samstag abholen wollten, mussten wir leider feststellen, dass wir in den letzten Startblock gruppiert wurden. Auf Nachfrage teilte uns der Veranstalter mit, dass wir die notwendigen Zeitnachweise nicht eingereicht hatten. Ich hatte mein Anmeldeformular dabei und eine kurze Ueberpruefung zeigte, dass das englische Formular keinen Zeitnachweis bindend forderte. Nach einiger Diskussion wurde uns erlaubt die entsprechenden Marathonzertifikate per e-Mail spontan nachzureichen und schliesslich bekamen wir am spaeten Nachmittag die entsprechenden Aufkleber fuer unsere Startnummern.
Am Sonntagmorgen war dann schnell klar, dass die Bloecke zwar deutlich markiert waren, der Zugang zu den Bloecken aber in keinster Weise kontrolliert wurde, somit war es der Ehrlichkeit der Laeufer (einschliesslich den anklagenden Blicken der anderen) ueberlassen, ob sie im richtigen Block standen. Die allermeisten haben sich tatsaechlich diszipliniert an die Vorgaben gehalten.
Mit einer Zeit unter 03:30h konnte man sich im A-Block direkt hinter den Eliteathleten einreihen. Es war interessant zu sehen, wie die eingeladenen Laeufer, ueberwiegend aus Afrika, 10 Minuten vor dem Start in die Startzone gefuehrt wurden. Die Ansagen waren ausschliesslich in koreanisch. Der koreanische Ansager hat seine Aufgabe so sehr genossen, dass sich die nette koreanische Uebersetzerin hinter ihm irgendwann samt Mikrofon zurueckzog. Er gab ihr einfach nicht die Gelegenheit das Wort zu ergreifen.
Es waren auch nur sehr wenige auslaendische Laeufer am Start, laut einem Zeitungsbericht waren es 227 bei 22.057 Laeufern, nach unserer Wahrnehmung waren es eher 22; somit wurde die Mehrheit mit koreanischen Ansagen gut bedient.
Noch eine Statistik: 86% der Teilnehmer waren Maenner und erstaunliche 40% der Laeufer waren 40-49 Jahre alt, wie wir uebrigens.
Der Start fand ebenfalls in unmittelbarer Naehe zum Olympiastadion statt. Eine sehr befahrene, mehrspurige Strasse vor dem Olympiastadion wurde fuer den Start erst 30 Minuten vorher fuer den Autoverkehr gesperrt, ohne Staus, Huben, Schimpfen etc., zumindest haben wir solche negativen Reaktionen nicht bemerkt.
Die Rollstuhlfahrer wurden als erstes losgeschickt, es folgten ca. 2 Minuten spaeter die ca. 20 Eliteathleten einschliesslich der koreanischen Laeufer. Interessanterweise wurde das grosse Feld ca. weitere 5 Minuten spaeter auf die Strecke gelassen; dabei hatte der Veranstalter offensichtlich die Moeglichkeit die Startuhren extra zu starten, ohne exakt eine bestimmte Uhrzeit oder Tageszeit einhalten zu muessen.
Bei der Anmeldung fuer den Marathon hatte ich mir noch das ambitionierte Ziel gesetzt die 3h-Marke zu knacken, die magische Grenze, der naechste natuerliche Schritt nach einer Chipzeit von 03:04h beim Tokiomarathon im Februar 2010. Es gibt in Hongkong eine Unter-3h-Liste, die ueber ein Laeuferforum auf dem neuesten Stand gehalten wird; und mein Ehrgeiz ist es, ich gebe es zu, da ist natuerlich das Ego im Spiel, meinen Namen auf dieser Liste zu sehen.
Allerdings war meine Vorbereitung durch eine hartnaeckige Oberschenkelverletzung nicht optimal, dadurch bedingte zwei Wochen Laufpause, dann einige Aufbauwochen mit reduzierten Kilometern und anschliessend zwei dummen Trainingsstuerze. Nehmen Trainingsstuerze mit dem Alter etwa zu? Keine ermutigenden Aussichten...
Interessanterweise hat mich meine Physiotherapeutin immer wieder ermuntert, zu laufen und dann mehr zu laufen, selbst als ich noch dachte, die Verletzung lasse Laufen nicht zu oder verschlimmert gar diese sogar.
Anfang August hatte ich beinahe aufgegeben an der Startlinie in Seoul zu stehen. September und Oktober waren nach Physiotherapie dann doch einigermassen im Training gut gelaufen und somit konnte das Unternehmen Olympiamarathon doch noch angegangen werden.
Nach ein paar Wochen waren sogar die urspruenglichen Ziele wieder aktuell, oder fast aktuell.
Nach dem Startschuss war ich sofort in der Lage zu laufen und war innerhalb weniger Sekunden auf der Startmatte. Realistisch waren die Laeufer um mich herum schneller als ich und der 02:45h Schrittmacher mit seinem roten Ballon zeigte mir das sehr deutlich. Ich musste also darauf achten, nicht zu schnell anzugehen und vor allem den ersten Pulk hinter dem 02:45h Schrittmacher wegziehen zu lassen.
Laufen scheint hier nichts fuer zimperliche zu sein. Immer wieder kam es vor, dass mich Laeufer ueberholten, um dann sofort meine Lauflinie zu kreuzen, alles Maenner uebrigens, es fuehlte sich wie eine Kampfansage an. Ich musste dann immer wieder meinen Schritt verkuerzen und anpassen, um einen Zusammenstoss zu vermeiden, sehr aergerlich. Als ich einmal laut fluchte, gab es ein kurzes Zucken, zwar keine Widerrede, aber auch keine Entschuldigung. Vielleicht war es aber auch einfach nicht mein Tag...
Das Wetter war am Start mit ca. 9 Grad und einem Art Hochnebel ideal zum Laufen. Die Marathonstrecke bleibt durchgehend suedlich des Flusses Han im neueren, modernen Teil der Stadt mit sehr weitlaeufigen Strassen, teilweise mit vier und mehr Spuren in einer Richtung, Manifestion Koreas als Autonation, darin Deutschland nicht unaehnlich.
Bei km8 stiess etwas an meinen Kopf und als ich diesen nach rechts wandte, konnte ich den ersten blauen 03:00h Ballon sehen. Das auffallend laute Geraeusch vieler Laufschuhe im Takt, Laeufer, die dem Schrittmacher im dichten Pulk folgten, haette mich warnen sollen.
Ich versuchte zu folgen und musste dabei, wie meine GPS Uhr anzeigte, mein Tempo von ca. 04:17h auf 04:07h erhoehen. Es war zum ersten Mal, dass ich einem Schrittmacher folgte und mir war nicht klar, ob dieser nun punktgenau 02:59h ansteuern wird oder aber die drei Schrittmacher fuer diese wichtige Barriere, diese Information haben wir dem Startheft entnommen, unterschiedliche Zeiten anbieten werden, z. B. 02:55h, 02:57h und 02:59h, um ein Polster fuer spaetere Einbrueche zu schaffen.
Haben die Schrittmacher die 03:00h locker im Griff oder ist das auch deren Leistungsgrenze? Der erste Schrittmacher war mir phasenweise zu schnell, vor allem nach den langgezogenen leichten Anstiegen, dann aber wieder genau richtig auf flacheren Abschnitten.
Bei km13 entschloss ich mich dem Ballon nicht mehr auf Biegen und Brechen zu folgen; das Tempo war mir insgesamt einen Tick zu schnell. Mein rechter Oberschenkel hatte sich bereits einige Kilometer vorher gemeldet und ein stechender Schmerz oberhalb der Kniekehle, wie es einmal im Training passiert war, samt Aufgabe war moeglich.
Einem bekannten Laufbuch folgend, welches ich vor meinem ersten Marathon gelesen habe, setze ich mir in der Regel drei Ziele. Diese Mal war das Minimalziel unter 03:15h zu laufen, folgend von einer neuen PB, also 03:03h und schliesslich 02:59h als oberstes Ziel. Bei km15 verabschiedete ich mich von der 3h-Marke und sah die blauen Ballons, mittlerweile hatten mich alle drei Schrittmacher ueberholt, noch eine Weile vor mir. Nun begann das Kopfrechnen, was bei einem Marathon aeussert schwierig ist, selbst wenn man durchschnittlich in Mathematik begabt ist: was kann ich heute noch erreichen bei welchen Kilometerzeiten? Nach PBs in den letzten drei Marathons, war das ein neues altes Gefuehl fuer mich; ich musste nun Motivation fuer eine Leistung finden, die nicht eine Bestzeit sein wird. Das ist das ewige schneller, hoeher, weiter, selbst fuer Hobbysportler. Natuerlich kam mir auch der Gedanke, ob es ueberhaupt Sinn macht zu Ende zu laufen, aber diese Eingebungen schob ich schnell zur Seite und sie sind mir im Nachhinein sogar einwenig peinlich.
Die Strecke fuehrte ueber km20, den Wendepunkt nach km25 und dann auf langen breiten mehrspurigen Strassen zurueck zum Olympiastadion. Die Unterstuetzung durch Zuschauer war eine Enttaeuschung. Kaum jemand stand an der zugegebenermassen ueberwiegend abgelegenen Strecke. Die wenigen engagierten Band waren in einer Art Dauersoundcheck als ich deren LKWs passierte und spielten nur Bruchstuecke eines seltsamen Hardrock-, Heavymetaldurcheinanders und das mit wenig Begeisterung.
Kurz nach dem Wendepunkt sah ich M. aus unserem Hongkonger Laufklub, zusammen bildeten wir unsere Vertreter bei diesem Marathon. Er sah frisch aus und hatte offenbar heute Spass und wir winkten uns kurz zu. M. war da noch ca. 5 Minuten hinter mir.
Normalerweise gefaellt mir der Marathonabschnitt nach km30 am besten, wenn das Vorgeplaenkel abgeschlossen ist, wenn man weis wie man sich fuehlt, die Oberflaechlichkeiten drum herum nicht mehr wichtig sind und man sich richtig reinknien kann und muss, um einen Marathon erfolgreich zu Ende zu laufen; die Phase, die man im Schach Endspiel nennt, nicht dass ich nennenswerte Schachqualitaeten ueber das regelgerechte Ziehen der Figuren habe, aber fuer mich ein griffiger Vergleich.
Dieses Mal war bei km25 endgueltig klar, dass ich ein richtig schweres Stueck Arbeit vor mir habe. Die blauen 03:00h-Ballons waren mittlerweile aus meiner Sicht verschwunden, und das bei teilweise sehr geraden Strassen, bei denen man die Kilometermarken weit im Voraus sehen konnte.
Nach km30 konnte ich mein Tempo spuerbar nicht mehr halten und nach km35 wurde es richtig kritisch. Mein Tempo rutschte nun jenseits der 04:30min/km und ich versuchte so gut es ging, meinen Schritt zu halten. Die Verletzung im rechten Oberschenkel hatte sich frueh gemeldet, behinderte mich jetzt aber nicht mehr. Oberschenkel und Waden waren jetzt an den Grenzen der Belastung; die fehlenden Trainingskilometer waren nicht mehr zu leugnen. Allerdings hatte ich nicht das Gefuehl, dass Kraempfe auftreten werden, obwohl sich vor allem die Waden immer wieder meldeten.
Die Laeufer um mich herum waren nun eine bunte Mischung: einige konnten noch zusetzen und liefen rasch vorbei; andere waren wie ich an an ihren Grenzen und mit einigen lieferte ich mir ein Kopf-an-Kopf-Rennen; schliesslich gab es auch diejenigen, die sogar langsamer als ich. Nachdem ich am Anfang vom allgemein hohen Tempo beeindruckt war, sah nun eine Anzahl von Fussgaengern, die man normalerweise in diesem Bereich, vor allem bei idealen Wetterverhaeltnissen, nicht sieht.
Nun betete ich jede Kilometermarke im Gedanken herbei. Km40 war eine freudige Ueberaschung, da ich erst km39 erwartete hatte. Mit meinem Langsamwerden spuerte ich den starken M. foermlich in meinem Ruecken. M. hatte in der Hongkonger schwuelen Sommerhitze ein unglaubliches Programm mit beinahe woechentlichen 35km Laeufen absolviert, die ich fuer mich nicht fuer moeglich halte, zu keiner Jahreszeit, zumindest bis heute. Es ist schwierig Laufen bei ueber 30 Grad Celsius und Luftfeuchtigkeit ueber 90% zu beschreiben, die Erschoepfung ist jedenfalls unglaublich, jedes Jahr aufs neue, und kann nicht mit Laufen im deutschen Sommer verglichen werden.
Es kommt leider fast jedes Jahr vor, dass Wanderer den Hongkonger Sommer unterschaetzen, teilweise sind es Auslaender, teilweise aber sogar geborene Hongkonger, zu wenig Wasser fuer ihre Wanderungen in den Hongkonger Naturschutzparks mitnehmen (diese kann man am besten mit deutschen Mittelgebirgen vergleichen), in Not geraten oder sich sogar verirren und bis sie gefunden werden an einem Hitzschlag gestorben sind. Es ist auch 2010 wieder passiert.
Bevor ich M. nach km40 sah, konnte ich seine Schritte und das laute Atmen hoeren; er stuermte an mir vorbei, ich hatte keine Chance mitzugehen, meine Beine waren nicht mehr gut genug. Mein Ziel war nur noch mit dem jetzigen Tempo das Ziel zu erreichen.
Ich dachte jetzt zur Motivation ans Olympiastadion und an Dieter Baumanns internationalen Durchbruch 1988 mit seiner Silbermedalie ueber 5000m.
Mein erster Marathon war in Muenchen 1993, damals noch auf der Marathonolympiastrecke von 1972 einschliesslich Zieleinlauf im Olympiastadion. Das Stadion war zwar fast leer, aber ich denke trotzdem immer noch gerne an diesen Tag zurueck. Ein grosses Erlebnis unter dem Zeltdach einmal als Sportler aufzutreten und nicht nur als Zuschauer.
In Seoul war ein breiter Korridor vor dem Olypmpiastadion abgesperrt, an dem sich jeweils eine einzige Reihe von Zuschauern links und rechts aufgestellt hatte. Anstatt aber die erschoepften Laeufer lautstark anzufeuern, was es sehr still, keine Hand regte sich, kein Zurufen, beinahe andaechtiges Staunen, eine Atmosphaere wie in einer Kirche, fuer mich hier aber unangebracht.
Der Betontunnel unter der Tribune war erstaunlich kurz, kuerzer als in Muenchen, dann waren wir auch schon auf der roten Laufbahn. Das Stadion wird in einem sehr guten Zustand gehalten. Ich konnte M. bereits in der zweiten Stadionkurve sehen. Nun konnte ich wieder etwas zulegen, die letzte Energie, aber meine Beine waren nun wirklich schwer. Die zweite Kurve zur Haupttribuene und dann noch einmal ein kleiner Sprint und der Marathon war fuer mich beendet.
M. hatte seine persoenliche Bestzeit um sage und schreibe 27 Minuten auf 03:07h gesteigert. Eine Leistung, vor der ich ganz tief den Hut ziehe.
Meine Zeit von 03:08h war meine zweitbeste Nettozeit und meine drittbeste Bruttozeit.
Fazit, es ist ein schneller Marathon bei guten Wetterbedingungen, die man durchaus mit dem deutschen Herbst vergleichen kann. Die Organisation ist zwar sehr gut und effizient, allerdings trifft man mit ausschliesslich englischen und ohne koreanische Sprachkenntnisse hier und da auf Schwierigkeiten.
Die Anzahl der Zuschauer und somit die Unterstuetzung fuer die Laeufer war enttaeuschend, aber man kann sich als Laeufer natuerlich auch darauf einstellen.
Ich werde den JoongAng Seoul Marathon in guter Erinnerung behalten, allerdings habe ich im Moment noch nicht geplant 2011 hier wieder zu laufen.

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Solche Läufe gehören halt auch dazu, bei denen es nicht so einfach läuft. Aber du hast dich ja durchgekämpft und eine gute Zeit erzielt. Das baut auf für weitere Läufe.

Bernd
Das Remake
Infos zum Laufen und Vereinsgedöns gibt's auf www.sgnh.de
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