[Ein etwas sprunghafter Bericht aus Hamburg]
Bei mir kommt schon wieder so ein ödes, fast gelangweiltes Gefühl auf, also reiße ich mir einen Gel-Chip von der Sicherheitsnadel an der Hose, teile ihn mit einem inzwischen geübten Biss in zwei etwa gleichgroße Teile und platziere diese in meinen Backentaschen. Ob das schmeckt? Keine Ahnung. Aber es lenkt ab. Es lenkt ab von den Beinen, den Krämpfen, dem Lärm, von Allem, auch vom Laufen. Wie in Trance. Mein Körper besteht nur noch aus zwei Backentaschen mit was drin und Beinen dran. Zumindest fühle ich das. Es war der letzte von 10 Chip - eigentlich ein gutes Zeichen, es geht auf die letzten 5 km. Rückblende.
Das vergangene Jahr war ein gutes (Lauf-)Jahr. Viele Kilometer, viel Spaß bei vielen schönen Läufe und immer noch viel zu viele Kilo.
Mein Ziel für Hamburg war gesetzt: die 4-Std.-Grenze sollte fallen. Trotz des langen Winters und der langen Zeit verschneiten Wege kam ich lauftechnisch super über den Winter und hatte Steffnys Plan für 3:45 immer im Gepäck und meist auch im Griff.
Treffpunkt mit den Kollegen aus der Betriebssportgruppe (konnte in diesem Jahr nicht nochmal 'Nein' sagen) war eine Stunde vor dem Start um 8. Besprechung der verschiedenen Strategien und Zielzeiten. Umziehen. Nervös machen. Ich antworte auf die Frage, ob mir das Singlet nicht zu kalt wäre nur: "Wenn ich anfange zu frieren, bin ich zu langsam unterwegs". Killerphrase . Keine Lust zum Diskutieren. Macht wohl die Aufregung. Hartmut, einer aus dem Marathon 100 Club in unserer BSG möchte wegen mangelnder Vorbereitung gemütliche 3:45 laufen und bietet sich als Hase an. Ich und zwei weitere sind dabei. Prima, denke ich, Gehirn aus (passiert mir sowieso jenseits der 30), Hartmut ins Visier und dranbleiben bis ins Ziel. Ganz einfach .
Es ist 9:03 in Startblock G, noch 2 Minuten bis zum Startschuss. Die Masse brodelt. Kleidungsstücke und Müllsäcke fliegen durch die Luft. Ich spiele aufgeregt an meiner Timex rum. Plötzlich nur noch "--", wo eigentlich die Pace stehen sollte. Worst case. Mein GPS hat keinen Empfang mehr. Ich liebe diese Hektik kurz vor dem Start . Im letzten Jahr beim Marathon-Debüt den Pulsgurt zu Hause vergessen und jetzt verabschiedet sich mein Spielzeug - aber ich erkenne blitzschnell: ich habe ja einen Hasen, genau wie Julio! Rhythmisches Klatschen beginnt. Nur noch Sekunden bis zum Startschuss. Hartmut beugt sich zu mir sagt, dass er ab km 5 seinen Rhythmus hat und dann bis km 32 die Führungsarbeit übernimmt. Ab 32 soll jeder mal sehen, was noch geht und bis km 5 soll doch ich die Pace machen, mit meiner Timex. Ich? Aber ich ....
Startschuss! Wir traben an. Ich möchte Hartmut gerade antworten, dass mein GPS im Timex-Himmel ist, da hab' ich wieder Kontakt. Die Satelliten haben mich erfaßt!!!
Es läuft gut. Ich fühle mich gut. Bärenstark. Selbst der erste km ist nicht zu schnell, eher ein wenig "defensiv". ICH führe unsere Gruppe mit 5:20 an. ICH und meine Satelliten da oben. Was für ein Team. Ausgerechnet ICH, und muss schmunzeln, ICH, der vor ziemlich genau 2 Jahren mit Laufen angefangen hat. Klassisch: 2 Minuten laufen - 1 Minute gehen. Im Wechsel, Mit ca. 109 Kilo.
Bei km 5 die erste Wasserstelle. Super. Jetzt ist Hartmut dran. Ich nehme mir wie besprochen 2 Becher und trabe weiter. Einen über den Kopf, den anderen schlürfe ich beim Weiterlaufen.Hartmut - It's your turn!Hartmut! H a r t m u t ? Fehlanzeige. Wir haben ihn verloren. Oder er uns. Egal. Weiter geht’s mit Matthias. Hartmut und der 4te im Bunde werden uns bestimmt bald finden (hat er aber nicht mehr). Matthias fragt mich, ob ich bis km 30 den Hasen machen würde. "Klar", antworte ich. Bin ja ein freundlicher Mensch. Und ich liebe spontane neue Aufgaben. Als hätt' ich nicht schon genug mit mir selbst zu tun.
Aber es läuft wider Erwarten sehr gut weiter. Wir sind ein klasse eingespieltes Team. Ich führe und mache die Pace und Matthias passt auf, so nach seinem Gefühl, dass wir nicht überpacen. [Über die Stimmung auf und an der Strecke haben die vielen anderen Foris schon viel geschrieben. Deshalb nur soviel: Sie haben untertrieben!]. Im Vorbeifliegen hatte ich noch OTTOERICH bei km 9,5 wild gestikulierenden begrüßt und er mich angefeuert. Danke . Das war doch mal eine konkrete Ansage, wie man Dich findet. Komisch, dass man direkt beschleunigt, wenn man an Groupies vorbeikommt.
Halbzeit nach 01:53:05 Punktlandung. Mein Traumziel, die 4 Std. zu knacken sieht guuuut aus: bislang auch keine Probleme. Soweit so gut. Ab km 25 werden meine Beine langsam schwerer. Die Lockerheit ist irgendwie raus. Also zunächst noch einen Gel-Chip in die Backentaschen. Habe genau 10 Chips dabei. Je einen alle 5 km und auf den letzten 12km die doppelte Menge "tote Frösche" [Copy-right frauschmitt]". Ansonsten heute nur Brunnenwasser, keine Bananen, kein Elektrolyt. Nochmal den Laufstil überprüfen: Armeinsatz. Körperstreckung. Kopf. Blick. Kniehub. Kniehub? egal. Unser 2-Mann-Team frisst sich unaufhaltsam weiter durch die Hamburger Straßen bis kurz vor km 30. Dann muss Matthias, erkältungsbedingt leicht gehandicapt, wegen erhöhtem Trinkbedarf abreißen lassen. Schade, hat Spaß gemacht Kollege, viel Glück weiter und Danke.
Nach einem tollen Gassenlauf bei Ohlsdorf bin ich mit mir alleine. Ich fühle mich einsam. Werde melancholisch. Zwischen km 32 und 39 bekomme ich von der Welt "da draußen" nicht mehr wirklich viel mit. Ich bin eine Maschine. Ich freue mich schon fast über die Steifheit meiner Waden und der obligatorisch auftretenden Verkrampfungen in meinen Oberschenkelrückseiten. "Euch kenn' ich doch! Vom letzten Jahr hier in HH und von Berlin. Willkommen." Was für ein Irrsinn. Ich unterhalte mich tatsächlich mit meinen verkrampften Muskeln . Da bin ich wenigstens nicht allein. Letzte Ansage noch: "Ihr versaut mir mein Ziel nicht!", und dann den nächsten Frosch zur Ablenkung in den Mund, bevor ich noch überschnappe.
Ich bin jetzt eine Frosch-fressende Maschine, ein Monster in Form eines Mundes mit zwei stählernen Beinen, die sich stampfend ihren Weg bahnen. Nichts kann mich aufhalten. Ich sehe schon länger weder auf meine Timex noch auf die Marschtabelle oder die Zuschauer. Ich kenne weder Zeit, Pace noch Raum. Ich registriere zwar viele Menschen um mich rum, laufe aber mit Tunnelblick durch alle Geräusche hindurch und überwinde dabei Raum und Zeit. Es ist surreal.
Das km 40-Schild taucht auf. Ich wache schlagartig auf. Die 4 ist das magische Signal zum Finale. Zum Angriff auf die 4. Die 40km habe ich im Training nie gesehen. Bislang erst 2mal in meinem Leben. jetzt zum 3ten Mal. Ich bin stolz. Jetzt "nur" noch einen endlos scheinenden Berg mitten in Hamburg erklimmen, dann ist's fast geschafft. Diesen Moment hatte ich vor 3 Wochen zwischen Serfaus und Fiss beim "Höhentraining" vor Augen und bin doch gut darauf vorbereitet. Ich laufe, also bin ich. Ich bin, also laufe ich. Ich laufe also bin ich Läufer. Ich bin, also ... ich sehe das ZIEL. Ich sehe die Zieluhr. Die Bruttozeit zeigt 3:irgendwas. Julios Zeit! Bin ich nicht später gestartet als er? Und hatte ich im Vergleich zu ihm keine Hasen? Ich realisiere, dass ich meinen Traum, in einen Marathon unter 4 Stunden zu finishen, gleich erreiche. Aber bei km 42 hat irgendwer Expander an meinem Rücken befestigt. Viele Expander. Ich bin doch gleich im Ziel und jetzt das. Ich beuge mich mit aller Kraft nach vorne und meine Beine laufen weiter. Es ist sehr schwer, aber ich komme meinem Traum immer näher. Zentimeter für Zentimeter. Wie in Zeitlupe. Plötzlich reißen die Seile hinter mir. Ich fliege mit Victory-erhobenen Armen über die Zielmatte schreie vor Erlösung. Ich habe meinen Traum erreicht! Mein ganzer Körper ist überzogen mit Gänsehaut. Ich kann mich jetzt kaum mehr bewegen und bin überglücklich ...
Falk (der seine Debützeit um 45 Minuten unterboten hat und mit Sicherheit die nächsten 10 Tage keinen Schluck Wasser mehr trinken wird)
Ohne Hasen aber mit Höhentraining durch Hamburg
1Laufen, weil es Spaß macht.
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"The swim in an ironman is a contactsport" (NBC)
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"The swim in an ironman is a contactsport" (NBC)