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Stuttgart HM 2006 - Ein Desaster mit Blut, Schweiß und Tränen

Stuttgart HM 2006 - Ein Desaster mit Blut, Schweiß und Tränen

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Der Samstag verläuft hektisch. Der Terminplan ist eng. Einkaufen, Startunterlagen holen, Tasche packen, zum Helferfest der örtlichen Laufveranstaltung radeln. Dort halte ich mich zurück, trinke nur zwei Apfelschorle.

Zuhause fängt mich meine Noch-Ehefrau ab. Unsere Tochter hat im Rahmen der Untersuchungen einer Virusinfektion auch Blut abgenommen bekommen. Die Werte der weißen Blutplättchen sind alarmierend, so dass für einen Blutspiegel noch einmal eine etwas größere Menge Blut abgenommen werden musste. Die Wahrscheinlichkeit der Diagnose Leukämie ist gering, aber mit einem mulmigen Gefühl gehe ich ins Bett.
Obwohl die Fenster geöffnet sind, ist es heiß und ich mache mir Sorgen, drücke kaum ein Auge zu.

Sonntag. Um 6:15 klingelt der Wecker. Ich dusche kalt und trinke Kaffee, um munter zu werden. Frühstücke Toast mit Honig und eine Banane. Als ich um sieben abgeholt werde, steigt meine Laune langsam. Wir sind fröhlich, reißen Witze.

Da wir einen Boschler dabei haben, gehen wir ganz frech auf das Bosch-Sportgelände und ziehen uns um, kein Gedränge, keine Hektik. Wir geben unsere Taschen ab und trollen uns Richtung Benzstrasse.

Der Start der Inliner hat Verspätung, so dass das Gedränge auf den Zugangswegen immer stärker wird. Es ist ohnehin schon schwül und ich habe das Gefühl, wenn es nicht bald losgeht, falle ich um. Endlich sind die Startbereiche frei und ich gehe in den dritten, den gelben Block. Zum ersten Mal werden in Stuttgart jeweils zwei Blöcke mit Zeitabständen gestartet und ich komme in der Tat besser weg als sonst. Bereits den zweiten Kilometer laufe ich in 5:15. Aber ich finde keinen Rhythmus. Die Kilometerzeiten variieren ungewöhnlich stark.

Nach einer Stunde hat sich die morgendliche Wolkendecke aufgelöst und es wird nun richtig zäh. Zum ersten Mal denke ich kurz ans Aufgeben, aber nach der ruhigeren Passage am Neckar entlang gibt es im Ortsteil Münster wieder Anfeuerungsrufe durch die Zuschauer, die die schlechten Gedanken vertreiben. Meine Pausen an den Verpflegungsstationen sind längst ausgiebiger geworden. Ich nehme immer zwei Becher, trinke ein paar Schlucke und nehme den Rest als Dusche. Jeder Gartenschlauch, den die Anwohner ins Läuferfeld richten, ist willkommen. Trotzdem werden die Beine schwerer, ich versuche bewusst, runter auf 5:40er Zeiten zu gehen.

Es nützt nichts, bei km 16 krampft schlagartig die linke Wade. Und noch lange fünf Kilometer zum Ziel! Trotzdem: Jetzt möchte ich ins Daimlerstadion. Ich versuche, möglichst zügig zu gehen und immer mal wieder zu laufen, was auch jeweils für 100-200 m gelingt. Der Schnitt liegt nun bei 7-7,5 Minuten pro Kilometer, hunderte von Läufern ziehen an mir vorbei, aber das ist mir egal.
Da die Vornamen auf den Startnummern stehen, bekomme ich vermehrt Aufmunterung. Dummerweise muss ich die Zuschauer wegen der Wade enttäuschen. Irgendwann, nachdem auch der 2-Stunden-Luftballon grußlos an mir vorbeigeschwebt ist, kommt auch das Daimlerstadion in Sichtweite und lässt den Schmerz ein wenig vergessen, ich laufe und schneide eine Grimasse fürs Zielfoto. Zeit: 2:02:46 netto.

Nach drei Bechern Wasser fläze ich mich auf den Rasen, doch es ist mir ringsherum zu unruhig. Ich verziehe mich in Richtung Gegentribüne, die weitgehend leer ist. Plötzlich fühle ich mich unendlich müde, traurig und einsam, ringe mit den Tränen. Es ist auf einmal alles zuviel.

Als ich langsam wieder meine Umwelt wahrnehme, entschließe ich mich, in Richtung Marathontor zu gehen, um die Ankunft der Läuferinnen und Läufer ins Stadion zu beobachten. Ein faszinierendes Schauspiel. Es ist allen die Erleichterung anzusehen, es geschafft zu haben. Die meisten zeigen eine unbändige Freude. Einen Läufer allerdings hat es böse erwischt, ein Gemisch aus Blut und Schweiß verfärbt sein Shirt von der Brustwarze bis zur Hose. Da wird er noch einige Zeit Freude dran haben.

Ich klatsche unentwegt. Wer ernst blickt, dem rufe ich zu: „Lächeln!!!“. Bei vielen klappt es und meine Laune steigt immer weiter. Es laufen Leute ein, die 2:30 bis 2:50 Stunden gebraucht haben. Die allermeisten sehen sehr zufrieden aus.

Langsam muss ich los, ich möchte, bevor ich mich mit Kollegen an der Veranstaltungsbühne treffe, geduscht sein. Es wird ein bisschen geplauscht, Maultaschen gegessen, Radler getrunken.

Am Nachmittag gehe ich aufs Warmbronner Open-Air. Die Sonne lacht. Es wird Reggae bis in die Nacht gespielt, die Stimmung bei Alt und Jung ist unglaublich relaxt und das Bier schmeckt. Ein merkwürdiger Tag neigt sich dem Ende.

Dienstag kam der Befund für mein Mäuschen. Die Blutwerte sind bestens. War wohl nur der Virus.
"Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein."" (Voltaire)

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Holger63 hat geschrieben:Dienstag kam der Befund für mein Mäuschen. Die Blutwerte sind bestens. War wohl nur der Virus.
Gott sei Dank!

Alles Gute.

Michael
Michaels Laufblog:
http://laufblock.wordpress.com

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Aufregend. Spannend. Zum Glück mit Happy End.
Der erste lange Laufbericht, den ich lese. Es lag am Horror-Titel, ich geb's zu. ;-)

Daß Du nach und vermutlich auch mit den sorgenvollen Gedanken (die ich gut nachvollziehen kann) gelaufen bist und durchgehalten hast ist stark. Ich werde mir das zum Beispiel nehmen wenn mich mein Schweinehund mal wieder piesackt.

Gruß,
Gaby

- noch Lichtjahre entfernt von einem HM -
- Vater seit Ende Mai an Leukämie erkrankt -

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Hallo Holger!

Prima, dass alles gut ausgegangen ist! :daumen:

Ich finde es positiv einen so ehrlichen Bericht zu lesen, bei dem nicht alles nur super und toll ist.

Bei den ganzen Widrigkeiten ist es beachtlich, wie du dich durchgebissen hast und am Ende die langsameren Läufer noch aufmuntern konntest! :respekt:

Hoffentlich hat sich die Wade schon wieder erholt!

Grüßle Nelja :hallo:
Nelja

10 Km 05.05.2007 50:07
1.HM 2.04.2006 Freiburg 2:00:45
24.09.2006 Karlsruhe Baden-HM 1:56:40

... jetzt Aufbauphase nach Bänderriß

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Holger63 hat geschrieben:Dienstag kam der Befund für mein Mäuschen. Die Blutwerte sind bestens. War wohl nur der Virus.
alles andere ist Nebensache...

Grüße oli :hallo:

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Hallo Holger!

Dein Leben scheint ja derzeit etwas unrund zu verlaufen. Da wundere ich mich über ein derartiges Rennen und das Ergebnis nicht wirklich.
Wünsche dir daher alles Gute für die Zukunft - und rasche Erholung von deinen HM-Schmerzen.
Aber wie schon Oli schreibt: Das Wichtigste ist, dass deine Tochter gesund ist.

Liebe Grüße

El Corredor

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Herzlichen Dank für Eure Aufmunterung!

Mittlerweile habe ich mich von dem Schrecken gut erholt und die Wade scheint auch wieder Ruhe zu geben.
Hier hat es heute am Abend etwas geregnet, die Luft hat merklich abgekühlt und so werde ich morgen früh gleich eine gemütliche Runde im Wald drehen.

Viele Grüße :hallo:

Holger
"Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein."" (Voltaire)

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Hi Holger!

Ist doch alles gut gegangen.
Jedenfalls nicht das Desaster mit Blut, Schweiß + Tränen.
So ein Krampf kann immer passieren + deiner Tochter geht es glücklicherweise gut.

Ciao

Caramba :hallo:
Success is knowing that you did your best to become the best that you are capable of becoming (John Wooden)

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Also gut, der Titel für meinen Bericht ist wirklich sehr reißerisch :peinlich: . Sollte ihn deswegen jemand gelesen haben und enttäuscht worden sein, so bitte ich um Entschuldigung. Ich gelobe Besserung.

Trotz aller Widrigkeiten ist der Stuttgartlauf in meiner Wahrnehmung jedoch wirklich ein Desaster gewesen. Bislang hatte ich noch keinen Lauf, der von Anfang bis Ende so unangenehm war, auf dem kein einziger Kilometer Spaß gemacht hat.

Dass der Rest der Geschichte etwas sprunghaft dargestellt ist, liegt vielleicht wirklich daran, dass es bei mir derzeit etwas unrund läuft. Aber jetzt wird es wieder zu Off-Topic.

Gelaufen bin ich heute auch, sozusagen als Systemcheck insgesamt 22,4 km durch den Wald mit einigen knackigen Anstiegen. Schön war’s und der Körper hat es auch wieder problemlos mitgemacht. Gebraucht habe ich gemütliche 2:23 Stunden, was aber auch an den leckeren Brombeeren lag, die mittlerweile verlockend reif am Wegrand zu Pausen einluden :D .

Grüßle :hallo:
Holger
"Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein."" (Voltaire)

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Mir hat dein Bericht gut gefallen :)
Wär ja schade und armselig, wenn alle Berichte nur lustig und/oder positiv wären. Der Titel war nach dem 2. Absatz schon vergessen.

Schön, daß es gut ausgegangen ist, und hoffentlich läufts bald wieder ganz rund.

Aber um die schon reifen Brombeeren beneide ich dich :zwinker2:

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Hallo Holger,
das war ein schöner ehrlicher Bericht. Du hast gekämpft, Dein pers. Ziel
war an dem Tag wohl nicht erreichbar für Dich aber Du hast nicht aufgegeben. Auch das wäre keine Schande gewesen, jeder sollte so laufen wie es für ihn vertretbar ist, aufgeben ist eine eine *Stärke* u. keine *Schande*
Aber Du hast es geschafft, konntest nachher wieder andere motivieren u. fröhlich sein, das ist das wichtigste. Herzlichen Glückwünsch zu Deinem HM-Erfolg :handshak:

Es ist schön aber nicht das wichtigste.................das ist nämlich das es Deiner Tochter wieder gut geht

Lieben Gruss

Brigitte
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