Vor dem Start!
Ich sitze in meinem Startblock. Ich genieße die Sonne, den Augenblick, auf den ich mich seit 23 Jahren freue. Wie war das damals? 18 Jahre war ich wohl alt, als ich das erste mal einen Bericht vom New York Marathon sah. Ich war fasziniert und beschloss damals, irgendwann im Leben einen Marathon zu laufen. Viel ist inzwischen passiert. Ich habe viel erlebt, hatte glückliche, ergreifende, traurige und auch einfach nur schöne Momente, aber der Marathon musste warten. Bis heute.
Aus den Lautsprecherboxen dröhnt aufpeitschende Musik. Sehr rockig, genau wie ich es liebe. „Eye of the tiger“ Die Filmmusik des ersten „Rocky“-Films. Ein Film über einen Sportler, der durch extrem hartes Training sein großes Ziel erreicht. Das passt!
Held oder Highopie?
In wenigen Minuten fällt der Startschuss. Dann wird es sich zeigen, was in mir steckt. Marathon ist ein besonderer Sport. Schon deshalb, weil man meist sein eigener Trainer, Manager und Sportler ist. Ein „Ein-Mann-Unternehmen“ sozusagen. Man ist für sich ganz allein verantwortlich. Es gibt keine Ausreden, wenn man versagt. Obwohl ich ans Versagen gar nicht denke. Ich fühle mich perfekt vorbereitet. Keine Erkältung hat mich in der Vorbereitung gebremst. Meine Testläufe waren so schnell, dass ich mein Zeitziel nach unten korrigiert habe. Sollte mir das zum Verhängnis werden? 3:45 Stunden beim ersten Marathonversuch?
Wir werden es bald wissen…
Der Start
Es sind über 10.000 Läufer am Start. Damit aus dem Start kein Rodeo wird, bei dem womöglich Menschen zu Tode getrampelt werden, sind die Läufer in 7 Startblöcke aufgeteilt.
Der Moderator kündigt den ersten Start an. Die Topathleten starten ca. 30 Minuten vor mir. Der Moderator ist super. Ein echter Profi, finde ich. Er verbreitet gute Laune, ohne dabei zu viel Blödsinn zu reden. Stattdessen spielt er immer wieder klasse Beats ein…Ich will jetzt loslaufen, kann es kaum erwarten.
Wie Kuhherden werden die einzelnen Startblöcke zum Start geführt. Da ich im Vorletzten bin, kann ich mir das in Ruhe ansehen und die Stimmung in mich aufsaugen.
Das Kölner Publikum
Ich bin noch nicht einmal gestartet und freue mich schon über das frenetische Publikum. Die Kölner sind einfach spitze. Eine so positive Stimmung habe ich selten in meinem Leben erlebt.
Endlich stehe ich an der Startlinie.
Es geht los…das Publikum winkt und jubelt, als wären wir schon im Ziel. Ich laufe, endlich laufe ich. In einem Pulk von unendlich vielen Füßen. Bloß niemandem auf die Füße treten und umknicken. Heute ist mein großer Tag. Volle Konzentration von Nöten.
Kurz nach dem Start geht es über die Deutzer Brücke. Hier bin ich gestern noch mit dem Auto rübergefahren. Besser gesagt gerollt, denn es war Stau.
Aber da habe ich schon gesehen, wie schön der Blick hier über den Rhein geht. Eine Wahnsinnsaussicht. Wenn alles gut geht, werde ich diese Brücke noch einmal überqueren. 500 Meter vor dem Ziel.
Die ersten Zehn
Der erste Kilometer ist aufgrund der vielen Läufer, die ich überhole, etwas langsamer als der gewünschte Schnitt. Das hatte ich aber eingeplant. Lieber zu langsam als zu schnell loslaufen. So wurde ich noch am Abend zuvor beim Laufforumstreffen gewarnt.
So laufe ich also. Kilometer für Kilometer im geplanten Tempo. Ich genieße die Atmosphäre. Ich genieße es, zu überholen. Ich bremse mich ständig, damit ich nicht zu schnell laufe. Mein Puls stimmt, alles ist bestens…noch! Aber ich habe „erst“ zehn Kilometer hinter mir und ganz viele vor mir. Also, weiterhin gebremst laufen.
Gedanken bei Halbzeit
Auf den 11.100 Metern von 10 km bis zur Halbzeit stelle ich fest, dass mein Puls nicht ganz so ruhig bleibt wie geplant. Ich wollte eigentlich nach der ersten Hälfte etwas schneller werden, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass das keine so gute Idee wäre. Also versuche ich meine Tempo weiter zu laufen. Einfach laufen. Wenn ich unter vier Stunden bleibe, reicht das auch. Ist ja schließlich mein erster Marathon. Wenn ich ankomme, habe ich automatisch Bestzeit. Ich trinke bei jedem Verpflegungsstand Wasser oder Tee. Meistens esse ich auch ein Stück Banane. Vielleicht sogar zu viel. Aber mein Magen ist unempfindlich. Also kein Problem.
Von Handbremse auf Automatikbremse umgeschaltet
Die Halbmarathondistanz ist bewältigt. Ich bin in dem Teil der Strecke, in dem ich mich nicht mehr so sehr bremsen wollte. Brauche ich auch nicht, stelle ich fest. Ich kann gar nicht mehr schneller. Ich bin überrascht. Verunsichert.
Auf der anderen Fahrbahn kommen uns Läufer entgegen. Sie haben die Schleife, die vor mir liegt, schon hinter sich. Und diese Schleife ist sehr lang. Dabei sehen die gar nicht so viel schneller aus. Na ja, egal, weiter laufen.
Plötzlich fällt mir das Getrappel auf, dass die Marathonherde verursacht. Tausende von Füßen in unterschiedlichen Rhythmen. Wahnsinn. Ich laufe Marathon.
Hammermann? Gab es nicht, aber einen schleichenden Geist, der sich wie Gift im Körper ausbreitet.
Die Legende vom Hammermann ist die, dass irgendwo auf der 42,195 km langen Marathonstrecke ein Mann mit einem Hammer lauert, der jeden Marathonläufer erwischt. Meist so zwischen km 30 und km 36. Manche beschreiben das Gefühl so, als würde man gegen eine Wand laufen. Danach fällt das Laufen sehr schwer oder geht gar nicht mehr.
In dieser Form erlebe ich das nicht. Bei mir schleicht er sich an. Ab km 23 merke ich, wie mich langsam meine Kraft verlässt. Ich schaue neidisch rüber auf die andere Fahrbahn, wo mir noch immer die Schnelleren entgegenkommen.
Ich selber überhole auch noch viele Läufer, aber fit fühle ich mich schon nicht mehr.
Km 27: 15 km vor mir und schon keine Power mehr
Bei km 27 ist das Gift, dass mir der Mann anstatt des Hammers eingeflößt hat, vollständig am wirken. Bis hier konnte ich das Tempo noch konstant halten. Jetzt gehe ich lieber auf Nummer sicher und laufe deutlich langsamer. Noch 15 km zum Ziel. Mein lieber Mann. 15! Und ich fühle mich wie ausgelutscht.
Km 30 bis 35 „und es ging langsam voran, wir kamen langsam voran“ (Ein Lied von Achim Reichel)
Auf meine Zeitentabelle schaue ich nicht mehr. Erstens bin ich weit von meinen errechneten Zwischenzeiten entfernt und zweitens würde mich das jetzt nur demotivieren.
Ich bin froh, als ich die 30 km-Marke erreiche. In meiner mentalen Vorbereitung war mir schon klar gewesen, dass es ab hier irgendwo wehtun würde. Das tut es ja nun schon länger, aber ab hier ist es sozusagen „planmäßig“. Na ja, dass ich so langsam werden würde, nicht.
Immerhin bin ich jetzt auf der anderen Straßenseite. Ich schaue auf die mir entgegenkommenden Läufer und bemitleide sie ernsthaft, weil ich weiß, wie lang der Weg von dort hierhin ist. Als wenn ich nicht selber genug zu kämpfen hätte…
Super Idee bei km 33
Bei km 33 fällt mir ein, dass ich so weit noch nie im Leben gelaufen bin. Das motiviert mich ungemein. Ich bin stolz auf jeden weiteren Kilometer, den ich von hier noch schaffe. Denn nur wer es einmal versucht hat, weiß, wie hart diese Kilometer sind. Es fühlt sich ein bisschen an, als würde man trotz Fieber versuchen, irgend etwas Anstrengendes zu tun. Ich hatte einmal 5 Tage Magen-Darm…Da habe ich mich ähnlich kraftlos gefühlt. So, als wäre ich 108 Jahre alt.
35, 36, 37… Quäl dich du S..
Habe ich schon das Publikum erwähnt? Gerade jetzt ist es wirklich Gold wert. Auf meiner Startnummer steht auch mein Name und deshalb werde ich immer wieder mit meinem Namen von wildfremden Leuten angefeuert. „Volker, du schaffst das“, “Volker, du siehst super aus“ oder einfach „Klasse Volker“. Der Gedanke ans Aufgeben, der tatsächlich manchmal da ist, wird so immer wieder verdrängt!
Auf manchen Schildern stehen Sätze wie „Quäl dich du Sau“. Ja, mache ich schon lange!
Km 37 - 39: Zombie running oder Der laufende Untote
Ich weiß jetzt, dass ich, falls nichts total heftiges passiert, durchlaufen werde. Mittlerweile bleibe ich an den Verpflegungsständen zum Trinken stehen, obwohl ich immer Angst habe, danach nicht mehr wieder in Gang zu kommen. Ansonsten laufe ich. Sehr langsam. Aber ich laufe. Das Gute ist, dass ich mich nicht wundgelaufen habe. Meine Füße tun weniger weh, als bei manchen Trainingsläufen. Alles was ich fühle, ist eine totale Müdigkeit im ganzen Körper. In jedem Muskel. Meine rechte Schulter tut ein bisschen weh, aber das macht den Kohl nicht mehr fett.
Km 39 - 41,7
Ich schaff´s! „Leck mich am Arsch! Ich laufe Marathon!“
Ich weiß, dass ist ein bisschen unfein ausgedrückt, aber das ist, was ich denke. Jetzt bin ich so weit gekommen. Wenn es sein muss, krieche ich von hier ins Ziel, aber ich werde es schaffen. Noch laufe ich aber. Und mit sehr viel Zuversicht, dass ich wirklich durchlaufe. Schließlich laufe ich schon seit mehr als zehn Kilometern ohne Kraft.
Wenn bloß das verdammte Kopfsteinpflaster nicht wäre. Das tut höllisch weh. Gar nicht so sehr an den Füßen, aber in allen Muskeln vom Fuß aufwärts. Da ich zu kraftlos bin, falle ich ja praktisch in jeden Schritt und das unebene Kopfsteinpflaster lässt mich manchmal einen Zentimeter tiefer fallen als ich es ahne und dann wandert eine Erschütterung durch die Muskeln wie ein Erdbeben.
Plötzlich, als ich um eine Ecke in der Altstadt biege, laufe ich fast gegen den Kölner Dom, den ich vorher gar nicht bemerkt habe. Auch hier sind wieder unendlich viele Zuschauer, aber ich schaue nach oben und genieße dieses monumentale Bauwerk und diesen herrlichen Moment in meinem Leben. Die Gänsehaut, die ich sowieso habe, weil ich schon seit bestimmt einer Stunde friere, wird auf einmal sehr angenehm.
Seit Kilometer 30 überhole ich schon Läufer, die sich so ausgepowert haben, dass sie nur noch gehen können. Auch so kurz vorm Ziel erwischt es noch erschreckend viele. Ich hoffe für sie alle, dass sie wieder in Tritt kommen!
Die Deutzer Brücke: Schönster Ausblick, aber die schlimmsten zwei Minuten!
Trotz des langsamen Tempos verschwindet der Dom recht schnell hinter mir. Ich möchte jetzt ins Ziel kommen. Die letzten zwei Kilometer ziehen sich noch mal, obwohl meist viele Zuschauer da sind und auch viel Musik. Es tut aber nicht mehr ganz so weh, weil ich mich so freue. Ein paar Kurven durch die Altstadt und da sehe ich endlich die Deutzer Brücke! Wie ich darauf gewartet habe!
Ich brauche keinen ganzen Kilometer mehr laufen. Allerdings merke ich beim hoch laufen auf die Brücke, wie schwer mir diese letzte Steigung fällt. Rechts und links stehen Zuschauer und spornen uns für die letzten Meter noch einmal an.
Dann passiert es. Als ich gerade genau oben in der Mitte der Brücke bin, verkrampft mein rechter Oberschenkel vorne und hinten zugleich. Ich bleibe stehen. Es sind noch lächerliche 500 m zum Ziel, aber so kann ich nicht einmal gehen.
Auch hier reagieren die Zuschauer sehr nett und wollen helfen, aber ich will mich nicht auf den Boden legen, weil ich nicht glaube, dass ich dann wieder aufstehen könnte. Da der Krampf auf beiden Seiten ist, kann ich nur versuchen, das Bein zu entspannen und zu lockern. Nach ca. 30 Sekunden ist der Krampf gelöst. Vorsichtig versuche ich loszugehen, aber sofort ist der Krampf wieder da! Das kann es doch nicht gewesen sein! So kurz vor dem Ziel! Ich warte noch einmal ungefähr eine Minute. Dann laufe ich einfach los und….es geht wieder. Sogar relativ entspannt.
Das Wunder! 500 m ins Ziel…Genießen, genießen, genießen!
Wie ein Wunder verkrampfen die Muskeln jetzt nicht mehr. Ich habe nur noch wenige Meter bis ins Ziel. Ich sehe die Tribüne, die Bühne neben dem Ziel und endlich auch das Ziel selber.
Der Krampf, 10 m vorm Ziel
Auf der Zielgeraden wird mir halbwegs klar, dass ich es geschafft habe. 50 Meter 40…
Zehn Meter vor dem Ziel werde ich von einem weiteren Krampf heimgesucht. Diesmal aber nur ein harmloser Weinkrampf. Vor Glück. Er hält auch nur den Bruchteil einer Sekunde an, aber die Gefühle in diesem Moment sind unbeschreiblich. Alle Last fällt ab. Im Ziel stoppe ich die Zeit, die mir zwischendurch total unwichtig geworden war. Gefühlt waren es mindestens 4:30 Stunden, aber ich sehe, dass ich „nur“ ungefähr 11 Minuten über vier Stunden gelaufen bin.
Im Ziel, wo ist meine Medaille?
Im Ziel bin ich total erschöpft aber glücklich. Da ich als Brillenträger beim Laufen eh immer ein bisschen blind bin, suche ich nach den hübschen Mädchen mit den Medaillen….sehe aber keine. Da mein Kopf total leer ist, beschränke ich mich auf einfache Gedankengänge. Ich schaue nach und stelle fest, dass die anderen Läufer auch noch keine Medaillen haben. Also weiter geradeaus torkeln. Als gehen kann man das nämlich nicht bezeichnen.
Nach wenigen Metern bekomme ich dann die wohlverdiente Medaille.
Sie trugen merkwürdige Gewänder und irrten planlos umher
Auch einen Plastikumhang bekomme ich. Den brauche ich auch dringend, denn mir ist fürchterlich kalt. Wahrscheinlich, weil ich sämtliche Kohlenhydrate verbrannt habe. Ich möchte schnell durchs Verpflegungsdorf, um ein wenig zu essen und eine Cola zu trinken. Um meinen Kreislauf halbwegs stabil zu halten und vor allem um schnell zu meinem Schatz zu kommen, die bestimmt am Treffpunkt auf mich wartet. Leider verliere ich in der Menschenmenge etwas die Orientierung, aber ich frage mich durch. Alle Läufer scheinen genauso erschöpft und zufrieden zu sein wie ich.
Wie geht es meinem Schatz?
Jetzt schnell zu meiner Freundin. Na ja, was man so schnell nennt, denn ich bewege mich immer noch wie vor der Erfindung des aufrechten Gehens. Sie ist 11,11 km gewalkt und ich hoffe, bei ihr ist auch alles glatt gegangen.
So ist es auch. Wir fallen uns glücklich in die Arme. Ich glaube, sie hatte große Angst um mich. Wieso eigentlich? Ist doch nur Sport!
Wer bindet meine Schuhe auf?
Sie geleitet mich zu den Duschen. Alle ziehen sich draußen aus, weil es drinnen heiß und nass wie in einer Sauna ist. Ich frage mich nur, wie ich meine Schuhe aufbekommen soll, ohne Krämpfe zu bekommen. Selten habe ich so lange gebraucht, um aus einem T-Shirt, einer Shorts, 2 Schuhen und Socken zu kommen.
Der nette Mann beim Umkleiden…Nie wieder laufen?
Da das Ausziehen so lange dauert, unterhalte ich mich währenddessen mit einem anderen Läufer. „Nie wieder Marathon“, sagt er, und das wäre eine Steigerung, denn letztes Jahr hätte er noch „Nie wieder laufen“ gesagt!
Ich halte mich mit solchen Aussagen bewusst zurück. Ich genieße noch viel zu sehr den Moment!
Immer noch verstärkte Tränenbildung…
Lange nach der wohltuenden Dusche bekomme ich immer noch Tränenschübe, wenn mir ansatzweise klar wird, dass dieser von mir 23 Jahre lang gehegte Traum heute in Erfüllung gegangen ist.
Danke Köln!
Das muss ich noch einmal sagen, denn ohne die überwältigende Stimmung der Zuschauer hätte ich womöglich schon sehr früh aufgegeben. Und das wäre doch sehr schade gewesen, denn ich habe es drauf gehabt.
Ich bin ein Marathonmann!
Das erste Mal tut immer weh! Marathon op Kölsch
1Comeback 27.09.2009 in Bertlich
2008 9.Feb WLS Duisburg 10km 44:14 PB
2008 1.März WLS Duisburg 15km 1:11:13 PB
2008 29.März WLS Duisburg HM 1:40:10 PB
2008 27.April Hermannslauf 31,5km 3:16:35
2008 01.Juni Rhein-Ruhr-Marathon 3:56:02 PB
2008 9.Feb WLS Duisburg 10km 44:14 PB
2008 1.März WLS Duisburg 15km 1:11:13 PB
2008 29.März WLS Duisburg HM 1:40:10 PB
2008 27.April Hermannslauf 31,5km 3:16:35
2008 01.Juni Rhein-Ruhr-Marathon 3:56:02 PB