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Lübeck Marathon 24.10.2010

Lübeck Marathon 24.10.2010

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Kerstin Döscher ist fast blind – und startet
doch beim Lübeck-Marathon
Mit Trainingsplan und Zeitüberwachung bereitet sich Kerstin Döscher mit Hilfe von Erhard Graf
auf die Halbmarathon-Strecke beim Lübeck-Marathon vor. Der Pastor läuft dann an ihrer Seite.
Foto: Judex-Wenzel
Klein Wesenberg – Im kleinen Dorf Klein Wesenberg gibt es einen Lauftreff – bei der Kirchengemeinde! So kommt es, dass die fast blinde Kerstin Döscher mit dem Pastor
den Lübeck-Marathon läuft.
Als sie 1996 der Liebe wegen aus der Stadt aufs Dorf zog, war das für Kerstin Döscher sehrgewöhnungsbedürftig. In Bad Oldesloe ist die heute 45-Jährige aufgewachsen. Als bei ihr im
achten Lebensjahr ein beidseitiger Sehnervschwund (Optikus Atrophie) festgestellt wurde, kam die Schülerin gut damit zurecht, die Sehbehindertenschule in Hamburg besuchen zu müssen. Ab der sechsten Klasse fuhr das Mädchen sogar allein mit dem Zug, obwohl es nur über eine geringe Rest-Sehkraft verfügte. Ganz Stadtkind also, fühlte sich Kerstin Döscher in Klein Wesenberg zunächst „wie
abgeschnitten“. Zur und von der Arbeit bei der Agentur für Arbeit in Bad Oldesloe, wo die heutige Berufsberaterin seit 1985 arbeitet, nachdem sie an der Blindenstudienanstalt Marburg das Abitur gemacht hatte, kommt sie mit dem Bus. Bei privaten Unternehmungen sitzt ihr Lebenspartner Jürgen Ullrich hinter dem Steuer. Aber selbst Auto fahren, das konnte die sonst so selbstständige junge Frau nie.
In Klein Wesenberg entdeckte Kerstin Döscher vor mehr als zehn Jahren jedoch eine neue Art der Freiheit: das Laufen. Es begann mit den Nachbarinnen Annette Hagemann und Bettina Mannske.
Seit vorigem Jahr gibt es den Lauftreff der Kirchengemeinde – und dort hat sich Kerstin Döscher zu mehr als einer Freizeitläuferin entwickelt. Kommenden Sonntag startet sie beim Lübeck-Marathon.
Wenn alle da sind, trifft sich beim Lauftraining mit Ultra-Marathon-Läufer Klaus- Rainer Martin und dem
laufbegeisterten Pastor Erhard Graf wöchentlich ein rundes Dutzend bewegungsfreudiger Menschen.
Durchtrainierte wie Fortgeschrittene. Von Klein Wesenberg aus laufen sie durch die Natur. Im Winterhalbjahr drehen sie Runden um den Sportplatz in Hamberge, wenn die Fußballer bei Flutlicht trainieren. Zu den Sportläufern gehört Kerstin Döscher.
Ihr Talent bemerkten Martin und Graf sehr schnell – ihre Sehbehinderung mit einem Sehrest von nur zehn Prozent hingegen sehr spät. Die zierliche Frau redet möglichst nicht darüber. Und dem klaren Blick ihrer schönen brauen Augen sieht man die Krankheit nicht an. Im Alltag, erst recht in gewohnter Umgebung, bewegt sich Kerstin Döscher sicher. „Ich erkenne Hindernisse meist rechtzeitig“, erklärt sie. Als Hilfsmittel benutzt sie lediglich bei der Arbeit einen speziellen Computer mit Großschrift.
Hell und Dunkel kann sie unterscheiden, sieht Menschen in Umrissen, erkennt sie erst von nächster Nähe. Beim Laufen sieht sie Schilder, kann diese im Vorbeilaufen aber nicht lesen. Deshalb verlief sie sich beim Drei-Kirchen-Lauf Zarpen–Klein Wesenberg–Hamberge. Seitdem sagen ihre Mitläufer an, wenn beispielsweise im Wald Wurzeln aus der Erde stehen. Den Hamburg-Marathon dieses Jahr absolvierte Kerstin Döscher an der Seite von Klaus-Rainer Martin. Der schickte sie bei Kilometer 37 allein auf die weitere Strecke. „Sie ist schneller als ich“, stellt der 72-Jährige fest, der sich außerdem für baldige 75- und 100-Kilometer-Läufe schonen wollte. Die sehbehinderte Läuferin konnte sich an der blauen Markierung der Ideallinie für die Weltklasseläufer orientieren. Nach 5:40 Stunden kam sie ins Ziel.
Klaus-Rainer Martin und Erhard Graf trauen ihr viel mehr zu. „Wir peilen die zwei Stunden an“, verrät Pastor Erhard Graf nun für die Halbmarathon-Strecke in Lübeck. In 2:35 Stunden schaffte die Klein Wesenbergerin diese Distanz bisher. Das Angebot des Pastors, in Lübeck als Coach mit ihr zu laufen, nennt sie „sehr grosszügig“. Seine Bestzeit sind 1:39 Stunden. In zweistündigen Extra-Laufeinheiten trainierten beide nach genauem Zeitplan. In Klein Wesenberg, wo sich Kerstin Döscher längst wohl fühlt. „Immer wieder sind Menschen da, die mich weiterbringen“, sagt sie dankbar, „es ist wundervoll.“
aus den Lübecker Nachrichten vom 22.10.2010 Druckansicht
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