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Aachener Sylvesterlauf

Aachener Sylvesterlauf

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Früher wollte ich mal Archäologe werden. Wen diese Leidenschaft fürs Altertümliche und für all die großen und kleinen Geheimnisse, die es dem Erdboden zu entlocken gilt, einmal ergriffen hat, den läßt sie nie wieder los. Und so bin auch ich dieser Tage immer wieder voll auf meine Kosten gekommen. Wie Heinrich Schliemann, der einst in der Ebene der Troas die Frage erwog, welcher der sanften Hügel wohl die sagenhafte Stadt Troja geborgen haben möchte, so stand auch ich, mit Schneeschieber, Besen und Spaten bewehrt, immer wieder vor der Überlegung, unter welchem der vor mir sich auftürmenden Schneeberge unser Auto sich wohl befinde.

Ohnedies genießen die Bewohner unserer Stadt weltweit einen traurigen Ruf als regenverwöhnte Leute, bei denen die Jahreszeiten sich ausschließlich nach dem Kalender voneinander unterscheiden lassen und unter welchen spätestens mit dem stets unverhofften Eintreffen der dritten Schneeflocke das vollendete Chaos losbricht – vorzugsweise in Form von Massenkarambolagen auf dem Weg zum kollektiven Hamsterkauf. Selbst der australische Onkel meiner Frau weiß von Fernsehbeiträgen zu berichten, in denen die winterliche Wirrnis auf Deutschlands Straßen mit wahrhaft finsteren Bildern aus Aachen exemplifiziert wird.

Hinzu kommen reihenweise Hiobsbotschaften im RW-Forum und auf Veranstalterwebseiten über abgesagte Silvesterläufe. Bleibt also die spannende Frage: Wird der Aachener Sylvesterlauf wie angekündigt stattfinden? Wer Land und Leute kennt, dem scheint es schier an ein Wunder zu grenzen, wenn bereits am 28.12. =30029&_suchbegriff=sylvesterlauf&_do.x=45&_do.y=12&_do=go&_artikelid=1500994&_id=1500994#nachoben]öffentlich vermeldet wird, der Lauf sei ungefährdet und werde stattfinden. Was ich dann allerdings tatsächlich vorfinde, stellt alle Erwartungen in den Schatten: Auf uns Läuferinnen und Läufer wartet eine vollkommen schnee- und eisfreie Strecke, die sich bei knapp über 0°C hervorragend laufen läßt!

Als ich mich vor zwei Monaten anmeldete, hatte ich mir naiverweise vorgenommen, zum Jahresende über 10 km noch einmal an der 40er-Marke zu kratzen. Längst hatte das Wetter mich auf den Boden der Tatsachen zurückgeworfen: Ein geordnetes Training nach Plan mit hohen Intensitäten war kaum möglich gewesen, und den saisonüblichen weihnachtlichen Genüssen entsagen wollte ich schließlich auch nicht. Also entschied ich, im Rahmen des improvisierten Trainings und des konsequenten Bekenntnisses zur jahresendlichen Völlerei (der Homo sapiens ist ein Alchimist, der mühelos die Gaben der Natur in Hüftgold zu wandeln weiß) den Sylvesterlauf einfach nur als stimmungsvollen und von jedem Ehrgeiz freien Tempodauerlauf zu absolvieren und auf eine Zeit unter 45 Minuten zu hoffen.

Schon im Bus, der mich ins Stadtzentrum brachte (ortsüblich nicht mit Winterreifen ausgerüstet, aber ortsunüblich gleichwohl pünktlich), stiegen nach und nach Menschen zu, denen man deutlich ansah, wo sie hinwollten. Man lächelte einander wissend zu und fühlte die Vorfreude stetig anwachsen. Im Kellergewölbe des renaissancezeitlichen Rathauses, vordem oberes Ende der Pfalz Kaiser Karls des Großen (den es, wie Heribert Illig behauptet, gar nicht gab, was einen örtlichen Kabarettisten und Krimiautor dazu veranlaßte, Illig kurzerhand in einem seiner Romane zum Mordopfer zu machen), werden Startnummern und Funktionsshirts ausgegeben. In Größe S ist keins mehr da. Aber das bin ich gewohnt. Rein konfektionsmäßig gibt es mich ja im Grunde gar nicht. Das merke ich jedesmal, wenn ich eine neue Hose brauche.

Auf dem Marktplatz direkt vor dem Rathaus steht ein Podium, auf dem eine kostümierte Animateuse ein Aufwärmprogramm mit flotten Geräuschen moderiert. Auch einige der Teilnehmenden haben den Fummel vom letzten Karneval wieder hervorgekramt. Schließlich haben die Veranstalter auch einen Preis für das originellste Outfit ausgelobt. Und so sieht man später auch gar manche Marienkäferin und Rokokokokotte über den Parcours scharwenzeln. Ich drehe lieber einige Runden durch die Nebenstraßen, auf denen sich jetzt sowieso kein Automobilist herumtreibt.

Gestartet wird auf dem Marktplatz. Gelaufen werden fünf Runden, erst zweimal ca. 1,7 km, dann dreimal 2,2 km. Ob diese Angaben so ganz korrekt sind, weiß ich nicht. Mein FR, der eher zum Understatement als zu Übertreibungen neigt, sagt später: Nein, es waren mehr. Naja, egal. Erst verläuft die Strecke ziemlich eben über Pflaster und später Asphalt, dann geht es kurz ein wenig abwärts, dann unterhalb des Hügels eine lange ebene Gegengerade am Rande des gemütlichen Pontviertels entlang, wieder abbiegen, weiterhin eben, eine letzte Kurve, und zum Schluß geht es dann noch einige hundert Meter bergan zurück zum Marktplatz. Am Ende jeder Runde wird also ein wenig gesiebt. Die meisten Zuschauer stehen genau hier und erzeugen eine Geräuschkulisse, die uns leichtfüßig den Hügel hinan treibt. Und so stelle ich fest, daß ich mit jeder Runde immer schneller werde. So sollte es ja auch sein.

Der Parcours führt uns auch durch ein paar der reizvolleren und nicht so sehr in der ersten Reihe gelegenen Innenstadtstraßen, in denen auch nach dem Krieg noch alte Bausubstanz stehen geblieben ist. Fünfmal dieselbe Runde – das hört sich eigentlich langweilig an, aber jedes Mal entdecke ich ein paar neue Details am Wegrand, die mir bis dahin verborgen geblieben sind. Vielleicht sollte ich öfter mal einen Stadtbummel machen, auch wenn das Zentrum weit weg ist. An den Fenstern jubelnde Fans zu erwarten, wäre vermessen. Schließlich sind wir ja nicht der Karnevalszug und werfen auch nicht mit Kamellen um uns. Dafür sind auch hier die Straßen immer wieder von Zuschauern gesäumt, die uns anfeuern. Was machen die eigentlich alle hier? Es ist doch eigentlich die beste Zeit zum Kaffeetrinken. Auch bei uns zuhause ist der Besuch schon eingetroffen und macht sich über unser finnischstämmiges Backwerk her. Hoffentlich essen die nicht alles allein auf. Lieber schnell noch einen Zahn zugelegt! Hakkaa päälle, pohjan poika!

Wie üblich, habe ich mich am Start zu weit hinten aufgestellt. Ich treffe einfach die richtige Stelle nicht. Die erste Runde verläuft also recht gemächlich, in der zweiten und dritten lichten sich die Reihen, um sich dann wieder zu verdichten, weil mehr und mehr Läufer zu überrunden sind. Die Ärmsten haben wohl keine so attraktive Kaffeetafel in Aussicht wie ich. Bei einer kurzen Analyse zuhause stelle ich fest, daß der erste vorsichtige Kilometer mich etwa 20 Sekunden gekostet hat. Das ist überraschend wenig. Zu viel, wenn man eine persönliche Bestzeit angepeilt hat, aber ohne weiteres verkraftbar, wenn man z.B. bei einem Marathon verhindern will, daß man zu schnell losläuft. Werde ich mir merken.

Irgendwann kurz vor Ende des vorletzten Durchgangs werde dann auch ich überrundet. Von hinten zieht ein wirklich schneller Mensch vorbei. Natürlich ein Marokkaner. Der Marokkaner ist ja der Kenianer der regionalen Provinz. Anders als der Kenianer wird der Marokkaner aber nicht für teures Antrittsgeld eingekauft, sondern hat sich längst hier breit gemacht und trägt das Trikot eines örtlichen Sportvereins. Er…

(Stimme aus dem Off: ) Woher kommt bloß mein Gefühl, daß du auf dem besten Weg bist, entsetzlichen Schwachsinn zu reden?

Aghamemnun: Wieso Schwachsinn? Noch ist das hier doch ein freies Land. Da wird es ja wohl erlaubt sein, klarzustellen, wie’s ist und ein paar Dinge klar beim Namen zu nennen, die sich bei uns schon keiner mehr offen zu sagen traut. Diese Ausländer nehmen uns doch die ganzen Preisgelder weg, und unsereiner muß sehen, wo er bleibt!

(Stimme aus dem Off: ) Na, wievielter bist du denn geworden, daß du solch exorbitanter Preisgelder verlustig gegangen bist?

Aghamemnun: Netto immerhin siebzigster! Von mehr als achthundert!

(Stimme aus dem Off: ) Aha. Und die ersten neunundsechzig waren demnach alles Marokkaner, die *hüstel* sich hier breitgemacht und dir dein sauer verdientes Preisgeld vor der Nase weggeschnappt haben, so daß du jetzt von Hartz IV leben mußt?

Aghamemnun: Was soll denn das jetzt schon wieder? Also, ich erklär dir das mal…

(Stimme aus dem Off: ) Laß nur. Ich fürchte, das würde ich ohnehin nicht verstehen…

Aghamemnun: Und überhaupt: Wie kommst du dazu, hier mit mir zu reden wie der Herr Jesus persönlich mit Don Camillo?

(Stimme aus dem Off: ) Willst du damit sagen, du hättest die sportliche Statur eines Don Camillo oder gar die markante Rennpferdphysiognomie eines Fernandel? Jung, mach dich nicht lächerlich und erzähl uns lieber, wie der Lauf weiterging.

Aghamemnun: Will ich ja die ganze Zeit, aber du unterbrichst mich ja dauernd.

Also: Die letzte Runde bricht an. Das angenehme daran ist, daß man nicht mehr überrundet werden kann. Das Publikum ist mit allerhand Rasseln bewaffnet und auch mit Trillerpfeifen. Letzteres hat mich ein paarmal leicht verwirrt. Irgendwie bin ich noch von früher darauf geeicht: Wenn’s pfeift, muß man sofort stehenbleiben und schauen, was der Schiedsrichter für Anweisungen gibt. Zum Glück kann ich dieser Versuchung widerstehen und renne einfach weiter, in Erwartung weiterer gebieterischer Pfiffe. Die kommen allerdings nicht, so daß ich schnell wieder in meinen Rhythmus finde.

Letzte Blicke auf die verträumten Fassaden des Pontviertels, die inzwischen zu engen Vertrauten geworden sind. Fast scheint es, als sei eine Art Leben in sie gefahren, als seien sie ihrerseits zu Zuschauern geworden, die nicht länger stumm verharren, sondern uns auf ihre ganz eigene, etwas stoische Weise anfeuern. So merkwürdig das klingt, aber auch das macht die Füße leichter!

Kurz bevor ich zum Anstieg vor dem Ziel einbiege, taucht plötzlich vor mir ein Kerl mit einer großen Bayernfahne auf. Igitt, die will ich nicht sehen müssen! Da gibt es nur eine Möglichkeit: Hochschalten zum Endspurt und den Alptraum hinter mir lassen. Die Zuschauer tun mit ihren Anfeuerungsrufen ein Übriges, und am Ende kann zwar von 40 Minuten absolut keine Rede sein, aber die den Realitäten angepaßte Zielvorgabe ist klar um mehr als drei Minuten unterboten.

Nach ein paar Bechern Zitronentee zum Aufwärmen geht es wieder heimwärts zum gemütlichen Jahresausklang bei Tee (schwarz und mit Pfefferminze versetzt; das marokkanische Nationalgetränk) und Pullat. Das habe ich mir jetzt verdient.
Дуа кинум йах иди, ту пуц ца бофт тар ту-хез йатов̌!

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BockWurstDO hat geschrieben:Es ist immer noch ein Silvesterlauf :nene:
Finde ich eigentlich auch. Aber die Veranstalter sehen das anscheinend anders und setzen da eiskalt ein y hin. Na gut, sowas sortiere ich unter "moderate Verschrobenheiten" ein und mache es in Gottes Namen mit. Sowas hat bei mir allerdings Grenzen: "Monschau Marathon" - sowas lieber nicht. Und wenn es eines Tages einen "BerlinMarathon" geben sollte, fahre ich da ganz bestimmt nicht hin.
Trotzdem netter Bericht
Danke für die Blumen :)
Дуа кинум йах иди, ту пуц ца бофт тар ту-хез йатов̌!

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Ich kann nix dafür, aber mir gefällt der Bericht irgendwie :wink:

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SchweizerTrinchen hat geschrieben:Ich kann nix dafür, aber mir gefällt der Bericht irgendwie :wink:
Da musst du dich aber nicht für entschuldigen. :zwinker5:
Mir hat er übrigens auch gefallen.
"If I had no sense of humor, I would long ago have committed suicide." (Gandhi)

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Mir hat der Bericht auch gefallen :daumen: (auch wenn ich ihn erst jetzt gelesen habe). Im nächsten Jahr bin ich auch dabei. Dieses Jahr war nach dem Winterlauf irgendwie die Luft raus.
Man muß das Unmögliche so lange anschauen,
bis es eine leichte Angelegenheit ist.
Das Wunder ist eine Frage des Trainings.

Carl Einstein

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aghamemnun hat geschrieben:Gelaufen werden fünf Runden, erst zweimal ca. 1,7 km, dann dreimal 2,2 km. Ob diese Angaben so ganz korrekt sind, weiß ich nicht. Mein FR, der eher zum Understatement als zu Übertreibungen neigt, sagt später: Nein, es waren mehr.
Auch von mir - leicht verspätet - ein Dankeschön für den kurzweiligen Bericht zum Lauf zu Ehren von Papst Sylvester, der zufällig am Silvestertag stattfindet. ;-)

Mein Forerunner 310 XT hat übrigens 10,46 Kilometer gemessen. Und das lag sicherlich nicht nur daran, dass der Bürgersteig am Seilgraben wegen der Vereisung gesperrt war und auf die Fahrbahn ausgewichen wurde. Da es mein erster Sylvesterlauf war, habe ich leider keine Vergleichswerte aus den Vorjahren. Aber egal: Ich bin mit meiner Zeit zufrieden.

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oecher hat geschrieben:Mein Forerunner 310 XT hat übrigens 10,46 Kilometer gemessen.
Hmmm... Bei der Distanz hätte ich die 40 Minuten auf 10k ja doch noch unterboten. Vielleicht sollten wir unter denjenigen Teilnehmern, die einen Entfernungsmesser dabeihatten, mal eine Umfrage veranstalten und dann einfach den Mittelwert nehmen.

Also Leute: 10,46 sind geboten. Wer bietet mehr? Höre ich irgendwo 10,5? Na los, gebt euch einen Ruck! Der Meistbietende bekommt eine noch nie dagewesene Paceverbesserung!
Aber egal: Ich bin mit meiner Zeit zufrieden.
Geht mir auch so. Und wenn ich dieses Jahr wieder dabei bin und das Wetter wieder in etwa so ist, habe ich ja einen Vergleichswert.
Дуа кинум йах иди, ту пуц ца бофт тар ту-хез йатов̌!
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