Ein grauer, wolkenverhangener Himmel lag über dem Kemnader See, unangenehm kalt und Nieselregen. Der 10 km-Volkslauf "Rund um den Kemnader See" stand an, der in diesem und auch schon im letzten Jahr entgegen seinem Namen nicht um den ganzen See herumführt, sondern wegen Bauarbeiten in zwei Runden am Nordufer auf Bochumer Gebiet entlang führt. Der Start zu einer absolut unchristlichen Startzeit von 10:15 Uhr. , d.h. Anreise bereits um 08:30 Uhr und am Sonntagmorgen den Wecker stellen, ich hasse es! Als wenn man sich als arbeitender Mensch noch nicht oft genug zu nachtschlafener Zeit aus dem Bett quälen müßte. Aber für einen Volkslauf auf einer meiner liebsten Trainingsstrecken mache ich natürlich mall eine Ausnahme.
Fast auf den Tag genau ein Jahr ist es her, daß ich mit regelmäßigem Lauftraining bzw. überhaupt mit regelmäßigem Sport begonnen hatte. Nach einem vielversprechenden ersten 5 km-Wettkampf hatte mich das Fieber gepackt, aus einem wurden bis heute 26 Wettkämpfe, die meisten über 10 km. Eine Leidenschaft, die alles, was mir vorher Spaß machte, in den Schatten stellte! Durch meinen Späteinstieg und meinen nicht ganz idealen Körperbau für einen Läufer muß ich mich immer mit Zeiten in einem etwas bescheidenen Rahmen begnügen, aber das Gefühl, als Ex-Couch-Potato etwas leisten zu können, das ich vorher nie im Leben für möglich gehalten hätte, war doch ein ständiger Quell der Freude. Insbesondere erlebte und spürte ich mich in den Wettkämpfen in nie vorher gekanntem Ausmaß als den Menschen mit all seinen Stärken und Schwächen, die mich immer ausgemacht haben und zu denen mir zuvor doch aufgrund anderweitiger Probleme irgendwie der Bezug verlorengegangen war.
Seit Anfang des Jahres hatte ich mich einem Verein angeschlossen, um aus einem kurzen jahreszeitbedingtem Motivationsloch heraus das Training endlich strukturierter anzugehen und auch eine Tartanbahn für Intervalltrainings benutzen zu können. Das schnelle Laufen ist meine Leidenschaft, nicht der Marathon, deshalb bin ich bisher auch noch nie mehr als 10 km im Wettkampf gelaufen. Mein erster gezeiteter 10 km-Lauf im letzten Sommer lag um 55 min, und über den Winter steckte ich bei 53 min fest und es ging nichts mehr vorwärts. Ich träumte die ganze Zeit davon, *irgendwann* mal eine sub-50-Zeit über 10 km zu laufen und ich begann zu zweifeln, ob das realistisch sei. Und da war meine letzte Idee, einem Verein beizutreten. Es war mir eine große Hilfe, die organisierten Trainings nur noch wahrnehmen zu müssen und leistete mir aber meine eigene Handschrift. Ich absolvierte die vorgegebenen Trainings, aber ich lief nicht im 10 km-Tempo, sondern nach Gefühl so schnell, daß ich bei der letzten Wiederholung so gerade noch auf dem Zahnfleisch in Ziel kam! Das paßte perfekt und plötzlich verbesserte ich vor drei Wochen meine PB von einem Lauf auf den anderen von 53:01 auf 51:19 min! Damit hatte ich die Latte für mich aber schon sehr hoch gelegt und ich dachte, daß diese Marke einige Zeit Bestand haben würde und ich war etwas unsicher, wie ich den heutigen Lauf angehen sollte und welches Ziel ich mir setzen sollte.
Punkt eine Stunde vor dem Start traf ich am Kemnader See ein, der einzige Parkplatz bereits voll, nach drei erfolglosen Platzrunden quetschte ich meinen Wagen irgendwo in eine Ecke und suchte das Meldebüro am "Bootshaus Gibraltar". Assoziationen zum sonnigen Süden wollten bei dem Wetter aber so gar nicht aufkommen. Der Fußweg kam mir ziemlich lang vor und bis ich die Startnummer hatte, waren es nur noch 30 min. Zeit bis zum Start. Und ich mußte nochmal zurück zum Wagen, umziehen, Gepäck wegbringen, Startnummer anbringen usw. Danach waren es nur noch 12 min. und ich mußte noch wieder zurück zum Start. Nur nicht wieder so ein Fiasko wie in Bertlich, als ich schon einen Kilometer vom Parkplatz zur Startlinie laufen mußte, um rechtzeitig anzukommen! Ich nutzte den Weg, um mich warmzulaufen, fragte mich, ob mein schwarz-grünes kurzärmliges Shirt und die kurze Lauftights bei den Temperaturen nicht etwas gewagt seien. Aber ich hatte keine Zeit mehr, es mir anders zu überlegen. Drei Minuten vor dem Start war ich an der Startlinie. Puuuh! Aber was war das? Es standen nur Kinder an der Startlinie! Ich fragte einen Mitläufer, der erklärte, daß eigentlich die 10 km jetzt gestartet werden sollten, aber sich die Kinderläufe verzögert hätten. Und da stand ich da buchstäblich in meinem kurzen Hemd und ich fror wie ein Schneider. So gründlich habe ich mich noch nie zuvor aufgewärmt. Der Start erfolgte schließlich mit satten 22 min. Verspätung!
Der erste km war bestimmt durch das übliche Startgewühl, es war kaum möglich, frei zu laufen. Ich war auch der PB-Jagd irgendwie etwas müde. Mit der 51:19-PB von vor 3 Wochen war immer noch mehr als zufrieden und ich fühlte mich mittlerweile von meinen eigenen Leistungssteigerungen ein wenig unter Druck gesetzt. Ich nahm mir vor, einfach nach Gefühl zu laufen, ohne Marschtabelle, um den Lauf auch zu genießen. Ohne daß ich irgendwie eingriff, pendelten sich meine km-Zeiten so zwischen anfangs 5:10 und später 5:04 ein. So schnell wollte ich eigentlich gar nicht! Aber mein Puls lag noch unter 150, also weiter mit dem Tempo. Aus der ersten Runde wieder bei Start und Ziel vorbeikommend, wurden selbst wir Hinterbänkler von den tollen Zuschauern mit viel Jubel empfangen und es soll keiner sagen, daß das einen Läufer nicht anspornt. Ich spürte das Adrenalin in mir steigen. Zwischenzeit bei 5 km 25:53, trotz des langsamen Starts doch schon etwas schneller als bei meiner PB. Ich widerstand aber weiter der Versuchung, auf irgendeine Marschtabelle zu schielen und mir Durchgangszeiten auszurechnen. Ich wollte heute einfach nur Spaß haben! Ich verfolgte aber trotzdem jede km-Zeit und gab auf meinen Puls acht. Er stieg langsam bis auf knapp 160 an, aber das ist auf der zweiten Hälfte normal. Ich hatte da schon erheblich höhere Pulswerte.
Plötzlich eine 4:53 auf dem sechsten km! Ich nahm wieder etwas Dampf raus, für solche Paces war es noch zu früh! Es folgte eine 5:09 und eine 5:03. Bei km 8 fühle ich mich immer noch sehr gut, mein Puls lag immer noch unter 170 und da zog ich dann das Tempo an. Ich wußte mittlerweile, daß ich auf PB-Kurs war. Der vorletzte km in 4:43, wenn das mal gutgehen würde! Gefühl immer noch einigermaßen gut. Dann riskierte ich es und knallte den Schlußkilometer voll durch! Alles was noch drin war! Ich spürte, wieviel Kraft man bei einem solchen Tempo aufwenden muß! Schließlich schwanden meine Kräfte dann doch, aber es konnte nicht mehr weit sein. Da, endlich die letzte Kurve, ich sah das Zielbanner und ich konnte den Spurt bis zum Schluß durchziehen! Ich war völlig im Eimer und japste, so daß sich ein Sanitäter bei mir erkundigte, ob ich OK sei. Ich war körperlich am Ende, aber auch völlig überwältigt von Glücksgefühlen und ich konnte fast nicht glauben, was auf meiner Uhr stand: 50:10,74. Offiziell brutto wurde es dann eine 50:16. Die PB pulverisiert, ohne es wirklich geplant zu haben. 1:03 min. schneller als vor 3 Wochen und ohne es vorher zu ahnen, nur knapp an meinem großen Laufziel, der sub-50 vorbeigeschrammt. Aber keine Enttäuschung, einfach nur Freude darüber, überhaupt jetzt schon so weit in die Nähe dieses für mich großen Ziels gekommen zu sein. Und ja, jetzt weiß ich, daß ich es schaffen werde! Aber ich lasse mir die Zeit, die es braucht. Der heutige Lauf war mir da eine Lehre. Man muß eine PB nicht generalstabsmäßig vorbereiten. Wenn die Zeit reif ist, dann kommt sie auch ohnedies.
Was mir erst nach Studium meiner FR305-Protokolle auffiel: Mit meiner Zeit für die zweite Hälfte von 24:18 habe ich nebenbei noch meine aktuelle ein halbes Jahr alte 5 km-PB unterboten! Und mein Schlußkilometer war mit 4:28 schneller als die 1000 m-Wiederholungen, die ich so im Schnitt beim Intervalltraining auf der Bahn laufe. Mit 9 km auf dem Buckel. Was so ein wenig Adrenalin alles bewirken kann! Und jetzt weiß ich wieder, warum ich so 20-25 Wettkämpfe/Jahr laufe, obwohl das einem optimalen Trainingserfolg eher im Wege steht. Das Training ist die Pflicht, der Wettkampf die Kür. Ohne Pflicht keine Kür, aber ohne Kür würde mir irgendwann die Motivation verlorengehen, immer wieder die Pflicht zu absolvieren. Aber so wie es momentan ist, ist es perfekt! Es macht einfach nur noch Spaß!
Laufziel knapp verfehlt, aber überglücklich!
1Jahrgang 1961, Laufstart 2011 in der AK M50, Rücktritt vom Leistungssport 2021
PB: 5 km: 21:21 (10/2014, AK M50) --- 10 km: 44:15 (11/2016, AK M55) --- 15 km: 1:09:32 (12/2014, AK M50); --- HM: 1:50:19 (02/2015, AK M50)
PB: 5 km: 21:21 (10/2014, AK M50) --- 10 km: 44:15 (11/2016, AK M55) --- 15 km: 1:09:32 (12/2014, AK M50); --- HM: 1:50:19 (02/2015, AK M50)