Hallo Cornelius,
nun habe ich es endlich, endlich geschafft deinen Bericht zum Mauerweglauf zu lesen. Wie versprochen und weil es mir in deinem speziellen Fall ein Anliegen war. Immerhin habe ich – wenngleich vom Rande her – von deinen Anfängen, insbesondere im Ultrabereich, über die Zeit Notiz genommen. Wurde auch durch gelegentliche Fragestellung von dir in diese Anfänge „verwickelt“. Du hast in Berlin, im längsten und härtesten Ultralauf deiner bisherigen Ultrakarriere, Erfahrungen gesammelt, die die meisten von uns kennen. Egal auf welchem Niveau sie solche Bewerbe auch bestreiten. Zum Beispiel wird in einer wunderbaren, höchst beglückenden Weise in die Gemeinschaft aufgenommen, wer sich öffnet und aufnehmen lässt. Natürlich gibt es auch im Ultrabereich – ich sag’s offen – Betrüger, Phrasendrescher und sonstige Deppen. Aber eben viel seltener. Die allermeisten wissen allerdings nicht nur, was sie selber tun, sie anerkennen vor allem auch, was all die anderen leisten. Es gibt auf solchen Strecken keine wirkliche Konkurrenz oder sportliche Gegnerschaft. Es geht immer gegen die eigenen Widerstände und äußere Unbill. Es geht immer
mit den anderen nie gegen die anderen. Man gibt davor, dabei und danach, was man zu geben imstande ist. Die einen haben mehr zu geben, andere weniger. Von mir ist zum Beispiel davor und danach viel zu haben, währenddessen eher wenig. Ich bin zu sehr mit mir selbst beschäftigt und schon sehr früh im Tunnel. Meine Form von "Autismus", die ich brauche, um mein Ziel zu erreichen. Und doch bin ich Teil der Gemeinschaft, die mir mit den Jahren und der Anzahl fantastischer Laufkameraden, die ich kennen lernen durfte, immer wichtiger wurde.
Auch was du unterwegs erlebt hast, körperlich und mental, kennen wir alle zum größten Teil aus eigener Anschauung. Wie man physisch immer weniger wird. Wie der Kopf für jeden Gedanken immer länger braucht, will er ihn zu Ende denken. Wenn er überhaupt noch denken kann. Ich kenne diesen Effekt seit langem. Ich kam ihm auch auf kürzeren Strecken auf die Spur, weil ich mich eines Tages beim Schreiben von Laufberichten wunderte, wie viele Details und wie klar mir noch aus der ersten Hälfte eines Laufes erinnerlich waren und wie wenig Begebenheiten aus dem letzten Drittel oder Viertel den Weg ins Gedächtnis fanden. Es ist einfach so, dass man weniger wahrnimmt und über noch weniger des Wahrgenommenen auch nachdenkt. Gleichfalls schwächer ausgeprägt ist dann die Gedächtnisleistung, die Fähigkeit des Körpers die Details im Langzeitgedächtnis erinnerbar zu codieren.
Es gibt aber auch Ereignisse in deinem Bericht, die ich so noch nie teilen durfte oder musste. Zum Beispiel habe ich noch nie halluziniert. Auch wenn ich sehr oft im Dunkeln unterwegs war und auf extrem niedrigem Energieniveau. Ich war immer bei vollem Bewusstsein, lediglich von der Wahrnehmung und der Denkgeschwindigkeit her eingeschränkt. Vermutlich bekäme ich sogar Panik, sähe ich mich mit Fratzen oder surrealen Personen konfrontiert. Nein, dergleichen kenne ich gottlob nicht.
Es ist völlig normal, wenn einer Fehler macht. Es ist auch völlig normal, dass einiges anders läuft, als man es geplant hat. Ultralaufen bedeutet in eine Laufwelt vorzudringen, die sich mehr als andere „Laufwelten“ – etwa die des Marathons – auf eigene Erfahrungen gründet. Die man halt sammeln muss. Je länger die Strecken, umso schmäler wird die Basis des Allgemeingültigen. Ernährung ist ein zentral wichtiger Komplex: Keiner läuft Strecken weit jenseits des Marathons zu Ende ohne sich unterwegs adäquat mit Kalorien versorgen zu können. Es ist nicht genug Energie für 160 oder noch mehr Kilometer an Bord, die es einem erlauben würde ein Tempo kontinuierlich von A bis Z durchzuhalten. Man muss „essen“, trinken sowieso. Was der eigene Magen-Darmtrakt verträgt gehört vermutlich zum Individuellsten, was es im Laufsport herauszufinden gilt. Und vermutlich funktioniert das nur über die Methode Versuch und Irrtum. Ich muss ausprobieren, was und wie viel davon ich vertrage. Dass dir dann auf mehr als der Hälfte der Strecke deine „verträglichen Kalorien“ ausgingen, weil sie an der zweiten Drop-Stelle dein Bag nicht fanden und du dann die dritte Dropzone einfach „verpennt“ hast, ist natürlich übel. Dergleichen ist mir zum Glück noch nie passiert. Und ich weiß auch nicht, ob darauf so cool hätte reagieren können wie du.
Wie dem auch sei: Dass du trotzdem in einer fantastischen Zeit das Ziel erreicht hast, ist einerseits Grund deine Leistung hervorzuheben: Bravo Cornelius! Andererseits bedeutet das aber nicht weniger, als dass da noch ziemlich viel Luft für kürzere Laufzeiten ist. Wenn dir eben keine, zumindest nicht so gravierende Fehler unterlaufen, bzw. Schicksalsschläge zustoßen. Da geht noch einiges, lieber Cornelius!
Mir gefällt deine Sicht auf Gegenwart und Zukunft deiner läuferischen Entwicklung. Einerseits gibt es die Träume. Ich hatte immer Träume, immer Ziele, wollte immer herausfinden, was geht. Wollte wissen, wo meine Grenzen liegen. Das ist der Stoff, der uns antreibt (unter anderem). Mit Vernunft und Augenmaß mehr zu wollen – läuferisch – als wir schon erreicht haben. Auf der anderen Seite willst du dir von diesen Träumen die Gegenwart nicht trüben lassen, den aktuellen Genuss nicht schmälern lassen. Du willst dir Zeit lassen, den nächsten Schritt jeweils dann tun, wenn du dich dazu in der Lage fühlst.
So war ich immer. Ich wollte immer mehr als ich aktuell erreicht hatte. Aber nicht von heute auf morgen, nicht mit der Brechstange. Ich habe Läufer erlebt, die nie einen Marathon liefen und sofort von Unterdistanzen den Sprung ins Ultrageschehen wagten. Kann ja jeder halten wie er will. Aber meine Sache ist dergleichen nicht. Ich habe eher schulbuchmäßig meine Distanzen verlängert. Marathon, 6h-Lauf, 100 km, 12h-Lauf, 100 Meilen, schließlich 24h-Lauf und spätestens dann war mir klar, dass dem Laufwahnsinn auf der nach oben offenen Streckenlängenskala keine Grenzen gesetzt sind … außer den individuellen. Und um die nicht zu überschreiten, was mindestens schwere Verletzungen oder schlimmere Folgen hätte, fand ich es angezeigt immer nur Schritte ins Auge zu fassen, von denen ich sicher war, dass sie für mich nicht zu groß oder zu weit waren. Ich näherte mich jener Belastung, die ich für mich als grenzwertig erachte, auf diese Weise vorsichtig an. Deswegen meine ich auch diesen Punkt identifiziert zu haben und halte mich daran. Für mich war es der Spartathlon, der mich darüber belehrte, dass ich mir keine härtere Belastung zumuten sollte. Ja, nicht mal mehr eine Wiederholung dieser Leistung anstreben sollte.
Dein Traum ist der Spartathlon. Ein Traumlauf, von dem viele träumen. Es steht für mich außer Frage, dass du die nötigen Anlagen besitzt. Es spricht für dich, dass du noch Erfahrungen sammeln willst, bevor du dich in dieses Abenteuer stürzt. Damit es zu jenem Zeitpunkt eben genau das nicht mehr ist: Ein Abenteuer. Damit du zu jenem Zeitpunkt am Start stehst im Wissen, dass du das drauf hast. Gerade der Spartathlon braucht Läufer, die von sich bis in die letzte Faser überzeugt sind. Wer da mit einem „schau’n ’mer mal, dann seng ma scho!“ losläuft, hat schon verloren. Physisch und mental muss man alle Höllen und Himmel des Ultralaufes durchlebt haben, sich 1.001mal vorgestellt haben wie man ins Ziel läuft, physisch die Voraussetzung für 246 km und über 3.000 Höhenmeter besitzen und im Kopf ein mentales Bollwerk aus Leidensfähigkeit und Durchhaltewillen besitzen - dann wird man finishen. Natürlich nur, wenn nichts von dem aus dem Ruder läuft, was man nicht im Griff hat, Wetter, etc.
Lass dir ruhig Zeit für den Spartathlon. Aber auch nicht zu lange. Es ist kein Zufall, dass ich 2016 mit 63 der älteste männliche Finisher war. Das liegt an den Anforderungen, insbesondere der mörderischen Cut-Off-Zeit, die der Spartathlon seinen Eleven zumutet. Also Reife erwerben für das irre Ding, im betreffenden Jahr sich noch weit härter als zuvor vorbereiten, hinfahren und finishen. Das geht. Ich halte nichts von der vielfach publizierten Methode „das erste Mal schaue ich mir das an und dann in den Jahren drauf …“ Das habe ich nie akzeptiert. Wenn ich dahin fahre, dann kann ich das und dann mach ich das. Punkt.
Es ist auch aus einem anderen Grund sinnvoll nicht zu lange mit dem Spartathlon zu warten … Ich glaube, die meisten, die ihn erleben, werden unrettbar süchtig. Wäre ich nicht zu alt und – noch wichtiger – hätte ich nicht kurz nach dem Finish öffentlich das Gelübde abgelegt „nie wieder“, ich wäre längst rückfällig geworden. Alles in allem gibt es für Ultrastraßenläufer nichts, was über dem Spartathlon stünde. Dabei meine ich nicht nur den Lauf, die Leistung selbst. Ich meine die Veranstaltung als „Gesamtpaket“. Was ich damit ausdrücke, wirst du wissen, wenn du in ein paar Jahren, früher oder später, da warst. Sicher bin ich allerdings, dass du antreten wirst. Du willst es ja jetzt schon …
Alles Gute lieber Cornelius und ein Dankeschön dafür, dass ich dich nun zu meinem Freundeskreis in Sachen Laufen zählen darf. Einer mehr von den tollen Menschen, von denen zu schriebst. Oder soll ich sagen: Einer mehr von den tollen Dollen, den Ultraverrückten?
Machs gut, bis bald auf oder an der Strecke
Udo