Ich hätte es vorher wissen müssen. Diesen Weg über die Höhen hatte ich mir bereits 2 mal angetan. 15 Jahre später wollte ich nochmal wissen, wie leidensfähig ich bin ....
Freitag. Meine 40 Pflanzen waren gegossen und meine Laufklamottenkollektion deckte von Antarktis bis Wüste alles ab. Aufgrund gewisser Erfahrungen an der Oberelbe hatte ich sogar die Tchibo-Schlappi-Mütze eingepackt. Und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als mein Coach die Nerven verlor und mich aus der Wohnung zerrte....
Zum Glück reisen nicht alle der gut 15000 Läufer aus Berlin an, sondern nur 941. Planmäßig 4 Stunden später waren wir schon auf der Landstraße durch's Thüringer Land. Auf dem Weg nach Neuhaus kommen wir durch Schmiedefeld. Als wir 13 Kilometer später schon in Neuhaus sind, melden sich bei meinem Coach die ersten Zweifel:"Bist Du sicher, daß ihr 43 Kilometer lauft ???" In meiner prelaktalen Aufregung kommen auch mir Zweifel.
Egal, schnell in den Herrenberger Hof und einnisten. Am 4.10.2004 war der Startschuß zur Anmeldung zum Rennsteig. Am Mittag des gleichen Tages war ich stolzer Kandidat für die 35. Marathon-Startnummer und ergatterte das letzte freie Zimmer im Herrenberger Hof ! Am 4.10.2005 werden wir das Ganze nochmal wiederholen - mit dem Unterschied, daß wir das letzte freie Zimmer im Hotel diesmal schon haben :-))
Die Startnummernausgabe ist leicht zu finden : einfach den Leuten im sportiven Outfit folgen - oder der Straße, auf der die meisten Autos mit einem anderen Kennzeichen als SON unterwegs sind. Vor den WBS70-Häusern proben die einheimischen Zuschauer schon mal den morgigen Ernstfall und sammeln sich zur traditionellen Grill- und Mieterversammlung. Das nenne ich aktive Platte. Ob dieser Harmonie kommt mein Kiez-Kohl-und-Kacke-abgehärteter Coach ins Staunen - tja, in Thüringen ist die Welt noch in Ordnung.
Pünktlich zum Beginn der Kloßparty habe ich bereits meine Riesen-Startertüte in der Hand, in der verloren die kleinen, netten Pröbchen der Sponsoren rumkullern, über die ich mich immer so freue. Auf der "Läufermesse" suche ich vergebens nach den gerühmten Gel-Chips - dafür
habe ich wenigstens einen Grund, sollte ich morgen scheitern. Ich scanne nochmal den Saal nach bekannten Forumsgesichtern und mache mich auf den Weg zur Essenausgabe, um 2 Portionen echte Thüringer Klöße in Empfang zu nehmen. Da die Klöße mit Proteinen (Roulade) und Ballaststoffen (Rotkohl) garniert sind, lasse ich die Gregor'sche Idee einer Kloßpizza mit Spaghetti als Nachspeise fallen und g(e)nies(se) das köstliche Carboloading.
Der Saal ist rammelvoll und die Stimmung super - das tröstet mich darüber hinweg, daß es die Rennsteig-Laufshirts mal wieder nur ab der Männer-M-Größe gibt. Wie kann man 694 Frauen einfach so ignorieren !? Als der Schneewalzer geprobt wird, tobt der Saal. Zu meiner Schande kann ich nur die erste Zeile - was aber nicht weiter auffällt, da alle um mich herum für mich mitsingen. Auch Herbert Roth ist natürlich fällig und bei seinem "Diesen Weg über die Höh'n bin ich oft gegangen" muß ich an meine Oma, Herrn Mirmsecker und Ferien denken. Beim nächsten Rennsteig-Schlager horche ich auf: "Geh'n wir mal rüber ... zu Schmitt seiner Frau". Was, Frau Schmitt ist hier !!! Wo ???
Samstag. Zum einsamen Frühstück um 5.30 Uhr nieselt es sich draußen gerade ein. Mein Coach klappt ein Auge auf, sieht den Regen und sagt :"Na prima." Ein bißchen mehr Mitleid hätte ich schon erwartet. Frustriert lege ich die kurzen Hosen wieder in die Tasche. Der dritte Marathon in diesem Jahr - und wieder so ein Sauwetter. Wenigstens kann im Wald der Wind nicht so zuschlagen, wie an der Elbe. Ich kombiniere Flatterhemdchen mit langer Hose, da es nicht kalt ist, aber glatt. Der Rennsteig wird nach einer Regennacht zum Rutschsteig, und wenn ich mich schon schmeiße, sieht man unter der langen Hose wenigstens nicht die blutigen Wunden ....
Kurz nach acht - die Sonne lacht ! Sicherheitshalber nehme ich trotzdem meine Mülltüte mit. Mein Coach macht sich auf den Weg nach Schmiedefeld - gemäß den langjährigen Erfahrungen seiner Schwiegereltern sofort und ohne mich zum Start zu bringen.Die zehn Minuten bis zum Start trabe ich mich warm. Ein kleiner Abstecher in den Wald erspart mir das mobile Plumsklo. Mir ist so schon schlecht vor Aufregung. Für einen Flachlandtiroler wie mich ist der Rennsteiglauf, der eigentlich kein Marathon ist, eine Offenbarung. Hier geht es nicht um persönliche Bestzeit - sondern um's Überleben. Mit einer HF von 139 (!) reihe ich mich mittig ins Feld ein, über uns kreisen die Geier, äh, Hubschrauber und übertönen fast den Schneewalzer. Dann geht's los.
Bis zur Startmatte brauche ich 2 Minuten, dann kommt der erste Hammerberg von der Festwiese bis zur ersten Kreuzung, vorbei an der aktiven Platte und vielen Einfamilienhäuschen. Ich überprüfe, ob meine Polar funktioniert - ja, sie zeigt gerade die HFmax an. Bis zum Hotel sind es 2 Kilometer. Davor steht, wie jedes Jahr, der Herbergsvater auf einem alten Feuerwehrauto und feuert die Läufer an, neben ihm ein Transparent : "Nur noch 41 Kilometer bis ins Ziel !" Auf den ersten 5 Kilometern laufe ich an Layka und ihrem Herrchen vorbei. Obwohl die Husky-Dame an der Leine zieht, frage ich besorgt, ob sie denn die 43 Kilometer auch schaffen wird ? "Sie schon, aber ich ...?" Von hinten drängelt sich die mobile Kamera durch die Massen und nebelt uns mit Abgasen ein. Nichts wie weg, ich schlage mich in den Wald.
Nach 10 Kilometern, engen Waldwegen und dem ersten Berg sind wir auf dem Dreistromstein und an der ersten Verpflegungsstelle. Neben Zucker mit Tee gibt es Mineralwasser mit Kohlensäure - keine gute Idee für mein Magensensibelchen. Weiter geht's. Nur noch 9 Berge vor mir. Zum Glück geht es nach jedem Anstieg auch wieder abwärts. Ich nutze Masse mal Beschleunigung, um die bergauf verlorene Zeit wieder auf- und mich nebenbei zu erholen. Das klappt so gut, daß ich bei der Zeitnahme auf dem Masserberg für 18,8 Kilometer 1 Stunde und 47 Minuten gebraucht habe. Auf der höchsten Stelle des Laufes, nach fast der halben Strecke geht es mir (noch) sehr gut.
Vor der Schwalbenhauptwiese 4 Kilometer später kommen noch 500 Meter Zwangsgehpause. Im Entenmarsch geht es mit 8 km/h durch eine kleine Schlucht. Durch diese hohle Gasse muß ich kommen, ohne bei Geröll, Wurzeln und Schlamm auf einem ca. 30 cm schmalen Weg den Halt zu verlieren. Die Läufer, die hier die Nerven verlieren, springen wie die Gazellen über Stock und Stein. Ich sehe sie schon fast an den nächsten Baum klatschen und vorher noch ein paar von den anderen umkegeln. Nee, nee, lieber ein paar Minuten später im Ziel, als Knochen gebrochen ....
Bei jeder Verpflegungsstelle fasse ich Tee für mich und Wasser für den Schwamm. Die Berge treiben mir den Schweiß aus den Poren. Mit 9,8 km/h ackere ich Steigung um Steigung hoch. Neben mir simuliert ein Läufer die Jens-Weißflog-Haltung auf der Großschanze. Wie ein Tier, mit dem Gesicht kurz über dem Boden, kämpft er um jeden Meter. Würde man ihm das Wosp'sche Gummiband um die Schultern legen, würde er wahrscheinlich noch Stunden auf der Stelle traben und irgendwann auf die Seite kippen. Netterweise sind auf dem Rennsteig nur 5-Kilometer-Marken aufgestellt. Ab Kilometer 25 stellen sich meine üblichen Magenprobleme ein. Die Perestaltik rebelliert und läßt sich weder mit Power-Gel noch Tee ablenken. Mein Pappi mit seiner Lauferfahrung hatte recht : es liegt nicht am Frühstück und auch nicht an der Verpflegung unterwegs - es ist einfach Überanstrengung.
Während ich mich in Bad Füssing und an der Elbe beim Kampf gegen den Wind verausgabt habe, sind es hier die Berge. Bei jedem Anstieg drückt mein Magen, als hätte ich einen Pümpel im Gesicht. In Neustadt schnappe ich mir eine Banane, vielleicht hilft's. Um den berühmten Haferschleim mache ich lieber einen Bogen - keine weiteren Experimente bei der Verdauung. Noch 4 Berge bis Schmiedefeld ! Bis zum Dreiherrenstein bei Kilometer 33 gehe und laufe ich die Berge abwechselnd hoch. Zwischendurch schleicht sich ein Krampf von hinten an den Oberschenkel ran. Ups, den kenne ich sonst garnicht. Während er anfängt, zu ziehen, ziehe ich meine Spezial-Mischung : Apfelsaft mit Salz. Schmeckt grauenerregend, ist aber würgsam.
Beim Aufstieg zum Dreiherrenstein schleift meine Zunge auf dem Boden. Wie schön wäre es jetzt, vom Weg abzukommen und mit allen vieren von sich gestreckt nach vorn ins warme, weiche Moos zu fallen.... Niemand würde was merken und in 3 Stunden kommt der Lumpensammler und nimmt mich mit. "Man gebrauche nicht den Zwang! Man ermuntere durch Beifall!" Was bei Johann Christoph Friedrich GutsMuths vor 200 Jahren funktionierte, klappt auch hier, zumindest das mit dem Beifall. Die Zuschauer am Rand versorgen jeden Läufer mit Wasser aus Wanne, Flasche und Schlauch und mentaler Stärke. Ich möchte jeden umarmen - allein schon , um mich nur 10 Sekunden auszuruhen. Der erschrockene Blick und die Äußerung "Du hast es bald geschafft, halt durch !" eines Zuschauers sagen mir, daß man mir 9 Berge und 34 Kilometer ansieht ....
Obwohl es gerade mal leicht bergab geht, trifft mich das 35-km-Schild hart. Nicht weil ich dagegengelaufen bin, sondern weil ich insgeheim gehofft hatte, daß ich schon weiter bin. Mittlerweile habe ich mit meinem Magen einen Kompromiß geschlossen : sobald er bergauf krampft, gehe ich ein paar Schritte. So kommen wir immerhin noch auf einen guten Schnitt von 9 km/h. Kurz vor Frauenwald, der letzten Verpflegungsstation, piept mich meine Polar an : Check Sensor. Aha, der kann also auch nicht mehr. Hinter Frauenwald geht es (fast) nur noch bergab und mit mir langsam wieder bergauf. War ich vorher von Männern umzingelt, bin ich jetzt fast mutterseelenallein. Nur die Fotografin auf der Strecke zeigt mir, daß ich mich nicht verlaufen habe. Daumen hoch für's Foto, Grinsen, weiter geht's. Mein MP3-Player trällert "Your dream will come alive". Genau.
Der letzte Hammer wartet in Schmiedefeld. Der Weg zum Sportplatz hoch ist kein Berg - das ist der Thüringische Mount Everest. Eine schmale Gasse, links und rechts viele Zuschauer,in allen Größen, die jeden Läufer lautstark nach oben treiben .... ICH KANN JETZT NICHT GEHEN ! Dann endlich kommt das Ziel in Sicht. Jeder Finisher wird mit Namen und Ort ausgerufen, die Mika-Empfänger piepen, ich stoppe meine Uhr bei 4:21:10, nehme meine Medaille in Empfang - und suche meinen Coach. Ich muß jetzt einfach jemandem an den Hals springen ....Mein Starfotograf macht das Siegerfoto, drückt mir meine Jacke in die Hand und dirigiert mich zum Massagezelt. Dann holt er meine Urkunde, eine Portion Nudeln und Bier - habe ich schon erwähnt, daß es doch noch perfekte Männer gibt ;-)
Vor dem Massagezelt futtere ich meine Nudeln und unterhalte mich mit einem Läufer aus (Berlin-)Buch. Das war heute sein 27. Rennsteig, ein paar davon auch über die lange Strecke. Voller Bewunderung denke ich so bei mir : da muß er ja früh angefangen habe. Meine Bewunderung geht in Staunen über, als ich später nachlese, in welcher Altersklasse er läuft, daß er nicht früh angefangen hat und 5 Minuten nach mir ins Ziel kam. Auf der Massageliege pelle ich Schuhe und Socken aus und rechne mit dem Schlimmsten : 10 Berge runterlaufen in vollem Tempo gehen an die Substanz. Zum Glück sind's nur 2 Blasen, vielleicht hätte ich auch nicht die frisch gewaschenen Socken nehmen sollen....
Im Festzelt suche ich nach dem Mann mit dem Köstritzer in der Hand und dem anderen Mann mit laufen-aktuell auf der Brust. Bei ersterem kann ich unter ca. 1000 auswählen, den anderen sehe ich nicht. Um meinen Eltern mitzuteilen, daß ihre einzige Tochter den Rennsteig überlebt hat, gehe ich vor's Zelt. Auf dem Rückweg läuft mir Fräse über den Weg. Ich reiße die Jacke auf und halte ihm meinen Bauch mit der Startnummer entgegen. Er sieht mich so entgeistert an, als hätte ich ihm einen unsittlichen Antrag gemacht und fragt irritiert : "Kennen wir uns ???" Erst bei Internet und LA kommt die Erleuchtung, mit meiner Startnummer konnte er nichts anfangen. Bei Bier und Wasser kommen wir ausführlich ins Gespräch und beschließen, zusammen nach Neuhaus zurückzufahren. Das erspart Fräse den engen, duftigen, warmen Standplatz im Bus - und wir können im Auto noch ein wenig über verbissene Läufer lästern (DAS WAR JETZT EIN JOKE - BITTE KEINE BESCHWERDEN !).
Das war's, der Rennsteig ist gelaufen. Ich laufe ein bißchen wie John Wayne durch die Gegend, fühle mich aber nach Essen und Radler zufrieden, satt und müde. Am nächsten Tag geht's zurück nach Hause. Beim Anblick des Thüringer Waldes auf dem Weg zur Autobahn stellen wir fest, daß man hier doch mal Urlaub machen müßte. Naja, wir können ja mal stückchenweise damit anfangen, z.B. am 20.05.2006 ....
GuthsMuths über alle Berge oder Die Rennsteig-Schnecke
1Renn-Schnecke
... von 2 auf 100 in 11 Jahren ...
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