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Von der verlorenem Leichtigkeit des läuferischen Seins – Karwendelmarsch 2023.

Von der verlorenem Leichtigkeit des läuferischen Seins – Karwendelmarsch 2023.

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Irgendwie fällt es mir immer schwerer vor anstehenden Wettkämpfe mich zu organisieren. Obwohl hundertfache Routine in diesen Dingen doch zu einer gewissen routiniert Ablaufweise geführt haben müsste. Aber es macht mir immer weniger Spaß mich im Vorfeld mit den Ausschreibungsfeinheiten bei erstmals gelaufenen Bewerben zu beschäftigen. Wo ist die Vorfreude vergangener Jahre geblieben, etwas Neues erleben zu dürfen. Warum ist es wie eine eher lästige Pflicht, statt befreiender Kür, mich meiner notwendigen Vorbereitungen zu widmen. Ich finde keine rechte Antwort auf diese sinnlosen Fragen. Fakt ist, ich mache mir wenigstens die Mühe mein längst gebuchtes Hotel, schließlich waren die ca. 2.500 Plätze des Karwendelmarschs in 5 Stunden sold out, 3 Tage vor Ankunft auf der App zu checken. Und muss erschreckt feststellen. Die Buchung ist storniert, das Hotel für die Übernachtung von Freitag auf Samstag, natürlich längst ausgebucht. Ich bin mir nicht bewusst aktiv gehandelt zu haben. Oder haben die storniert, um das Zimmer teurer wieder einstellen zu können. Keinen Ahnung was da wieder schiefgelaufen sein könnte. Glücklicherweise finde ich noch ein bezahlbares Quartier, zwar nicht im Startort in Scharnitz, aber im nahe gelegenen Seefeld.

Was mich – eigentlich unnötigerweise zusätzlich stresst – ist die besch…Wetterprognose und die damit verbundene Planung für die richtige Rennkleidung und das Equipment, das in den Laufrucksack kommen soll. 52 km im Gebirge, bei angesagter Warnung vor Sturm, sintflutartigem Regen und Hagel, lassen mir die Vorfreude auf die erhoffte Bilderbuchlandschaft im Karwendel nahezu gegen Null tendieren. Mehr noch. Ich habe die Laufhosen zwar nicht gestrichen voll, aber Blitz und Donner sind nichts für mein zartes Gemüt. Ob sich mein Laufteufel davon beeindrucken lässt, wenn mir der Schweinehund an den Haken klebt.

Mit gemischten Gefühlen geht es nach getaner Arbeit unausgeschlafen, , nachmittags auf die Autobahn. Das Wetter sieht noch gut aus, die katastrophalen Prognosen für morgen werden aber leider nicht besser. Nach dem Einchecken im Hotel geht es direkt nach Scharnitz zum „Länd“, so nennt sich der Parkplatz, wo die Startunterlagen abgeholt werden können. Da fühle ich mich gleich richtig heimisch, als jemand der aus: „The Länd“, kommt. Leider kann ich keinen Laufbekannten auf der Starterliste ausmachen, mehrheitlich lausche ich unfreiwillig fremden Läuferlatein mit Tirolerischem Klang. Nicht alle Feinheiten kann ich in meine Landessprache dechiffrieren. Vielleicht besser so. So entgehen mir sicher sorgenvolle Vorausahnungen für den morgigen Tag.

Ich gehe dann mit gemischten Gefühlen früh ins Bett. Meine große Tasche für den Transport zum Zielbereich in Pertisau habe ich mit allen möglichen warmen Sachen vollgepackt, schließlich wird mit ca. 15° gerechnet, das sind 20 weniger als noch letztes Wochenende. Als der Wecker um kurz nach 4 klingelt reißt er mich aus dem Tiefschlaf. Das gab es auch noch selten vor einem „Läufle“. Ich muss mich schlaftrunken aus dem Bett quälen, nachdem ich mich minutenlang gefragt habe, ob ich mich nicht einfach umdrehen soll und mir die zu erwartenden Quälerei einfach erspare. Denn draußen braut sich was zusammen und als ich unlustig um viertel vor 5 das Hotel verlasse blitzt es in der Dunkelheit bedrohlich am Horizont und erster Regen stellt sich ein. Ich muss ca. eine Viertelstunde mit dem Auto fahren und grüble weiter, ob ich nicht besser den Nachhauseweg antreten soll. Die Option, zuerst nochmals zurück ins noch warme Bett fällt leider flach, weil ich nicht mehr ins noch verschlossene Hotel zurückkomme.
Der Regen wird stärker und ich hoffe – über 1 Stunde vor Rennbeginn – noch in Startnähe parken zu können. Nächste Enttäuschung. Die Parkeinweiser der freiwilligen Feuerwehr schicken mich einfach weiter und auch am nächsten ist keine Einfahrt mehr möglich. Ca. 1,5 km vom Startplatz entfernt werde ich auf den abgelegensten Parkplatz gelotst. Ja klasse. Ich fahre zögerlich ein und denke mir, das wäre jetzt doch die Chance gewesen dem ganzen Blödsinn ein Ende zu machen. Du wirst heute stundenlang, bei Kälte und Wind, tiefliegenden Wolken und ohne zu wissen in was für einer tollen Umgebung du gerade bist, lustlos umherirren. Was könnte es Schöneres geben, als blindlings durchs grandiose Karwendelgebirge zu trotten. Bei Schönwetter: Ein Märchen aus tausendundeiner Nacht. Mein Schweinehund hat heute mindestens 1002 Gegenargumente.

Ich zwinge mich nach kurzer Überlegung aus dem trockenen Schutz des Autos, schnappe meinen Laufrucksack und die Abgabetasche und marschiere zum angebotenen Parkplatzshuttle. Da ist schon eine Schlange. Endlich kommt ein VW-Bus. 8 Mann rein, ich stehe immer noch dumm im Regen rum. Es ist nun 5:15 Uhr, eine kleine Gruppe vor mir kriegt Panik und macht sich zu Fuß auf den Weg. Mich juckt heute nichts mehr. Abwarten. Ich schaffe es dann bis kurz vor der Deadline für die Taschenabgabe. Vorsorglich versuche in Erfahrung zu bringen, was mit nicht abgeholten Taschen passiert. Denn insgeheim habe ich mich mit dem optionalem Ausstieg nach 35 km in der Eng angefreundet. Dann stünden die warmen Sachen aber in Pertisau am Achensee. Zu meinem Schrecken muss ich erfahren, dass ich nur dort meine Sachen wiederbekomme, was bedeutet, dass ich bei Aufgabe zunächst zurück zum Start kommen – und von dort nach Pertisau fahren müsste. So ist das mit den Punkt zu Punkt Läufen. Der Weg zurück ist immer zusätzlich eine kleine logistische Herausforderung. Für die Läufer sollen am Zielort Busse bereitstehen. Hoffen wir mal das das alles reibungslos klappt, bei den Massen an Teilnehmern. Naja, bei der nunmehr 14. Ausgabe sollte zumindest der Veranstalter routiniert sein, warum verspüre ich heute nur so eine Unsicherheit.

Auf dem Gelände wuselt es eine halbe Stunde vorm Start schon heftig. Ich bin es gar nicht mehr gewöhnt – und mag es zwischenzeitlich auch nicht mehr – an Massenveranstaltungen teilzunehmen. Hilft nix. Ich beschließe im extra früher geöffneten kleinen Snack-Bar noch eine Kaffee zu trinken, um irgendwie der Müdigkeit Herr zu werden. Ich schaffe es damit ein trockenes Plätzchen zu ergattern, während sich draußen die Schleußen weiter öffnen und gefühlt der Himmel herunterkommt.
Das Regenradar sagt eine Besserung ab 6:30 voraus und so beschließt die Rennleitung den Start einfach bis dahin zu verschieben. Das war die beste Entscheidung und ab da machte es irgendwie Klick in meinem Kopf und meine physische Verfassung bekam den ersten aufmunternden kleinen seelischen Klapps verpasst. Vielleicht bin ich doch nicht zur falschen Zeit am falschen Ort und ich werde heute weder völlig demoralisiert durchnässt blindlings durch die Gegend schlurfen müssen, noch im Selbstmitleid badend innerlich jammernd Stunde und Stunde frierend dem (Lauf)Ende entgegen gehen.

5 Minuten vor dem eingefrorenen Start, mache ich mich mit dicker Regenjacke und zusätzlichem Plastik-Einwegponcho auf den Weg zu Start. Als Teilnehmer kleiner Läufe bin ich es gar nicht mehr gewohnt, dass ich mich so kurz vor knapp, deshalb recht weit hinten, inmitten der Marschierer einordnen muss. Warum der Karwendel in Marsch- und Lauf-Teilnehmer unterscheidet, erschließt sich mir bis dato immer noch nicht. Beide Gruppen haben eine Zeitnahme, gleiche Start- und Zielzeit, das gleiche Outfit (es gibt tatsächlich niemand in Wanderstiefeln und Outdooroptik den ich gesehen hätte) sowie Läufer die wandernd und Wanderer die laufend unterwegs sind, wobei mich einige Marschierer im Stechschritt überholt haben im Uphill. Das ist wahrscheinlich der einzigste Unterschied. Beim Downhill sind die Marschierer mehrheitlich Fraktion, Stöcke raus und piano runtergehen. So - wie ich auch – versuchen die meisten Läufer, mehr oder weniger (mutig) schnell den Berg laufend talwärts herunterzustürzen. Der Regen hat fast vollständig aufgehört als die Startkanone abgefeuert wird. Langsam setzt sich die Traube aus roten (Läufern) und schwarzen (Marschierern) Startnummern in Bewegung. Offizielle 52 km und 2281 hm stehen auf der Agenda. Die Höhenmeter flößen mir zwischenzeitlich mehr Respekt ein als die Streckenlänge. Vor allem sind auf die ersten 13 km noch laufbare moderate, sanft ansteigende 300 hm auf einem breiten gekiesten Forstweg verteilt und die letzten 13 km geht es nur noch bergab. Verbleiben grob gesagt fast 1900 hm verteilt auf die Hälfte der Strecke. Jetzt ist es zu spät darüber nachzudenken, wahrscheinlich war es mit meiner heutigen Einstellung besser das Streckenprofil vorab nicht näher betrachtet zu haben. Sonst hätte ich vielleicht an der 1. Labe Schafstallboden (9,58 km) umgedreht. Ich habe den gpx-Track auf komoot übertragen und an der Laufuhr die Ansicht mit dem Höhenprofil aufgerufen. Das hilft mir als kleine Motivationsspritze an den endlos erscheinenden Anstiegen. Ich bin halt seit Jahren mal wieder bei einer Laufveranstaltung im Hochgebirge unterwegs, und da sind Anstiege über 600 oder 800 Höhenmeter am Stück eher die Regel als die Ausnahme.

Zunächst mal muss ich mich wieder daran gewöhnen, sehr beengt zu laufen. Anstatt das grüne liebliche Tal zu genießen, das wird durchqueren, muss ich meine müden Augen auf meine Vorder- und Hinterleute ausrichten und mich auf das Getümmel der fliegenden Stöcke der Marschierer und Läufer konzentrieren. Und natürlich auch darauf achten, dass von mir nicht versehentlich Gefahr für andere ausgeht, wenn ich die Wegbreite individuell ausnutzen will. Ich fange schon wieder an mich mental runterziehen zu lassen. Und dass, obwohl sich die angesagte Regenfront komplett verzogen hat. Sowohl real als auch in der WetterApp. Erst am späteren Nachmittag soll es losgehen. Also dran bleiben im moderaten Laufschritt, solange es für mich geht. Jeder gelaufene Kilometer ist ein guter Kilometer. Ankommen an der ersten VP – oder besser gesagt Labe. Es gibt Bananen, Äpfel, Kekse und selbstgemachte Riegel. Da mein Frühstück aus einem „Coffe to go“ bestand greife ich bei der gelben Frucht zu. Auch da heißt es aufpassen, ungehindert und trotzdem immer rücksichtsvoll an die gut bestückten Verpflegungstische zu kommen. Für meinen Geschmack könnte es definitiv einsamer sein, dann hätten die gestressten Helfer mehr Zeit auf meine persönliche Ansprache einzugehen, als hektisch schnippelnd Obst kleinzuschneiden oder ungeduldigen Bestzeitenjägern Becher oder Softflaks zu füllen. In (noch) sanften Serpentinen geht es weiter, die umliegenden Berge im Blick. Ich kann erahnen, dass es bald richtig hochgeht. Und richtig gedacht, nach weiteren 3 km geht es links ab vom Hauptweg und dann heißt es für mich. Wandernd Höhenmeter machen. Von nun an, Schritt für Schritt. Ab jetzt kommen von hinten die Power-Hiker und kraxeln mir um die Ohren. Ist schon irgendwie irre. Die Strecke hat im Grunde grobgenommen ein Profil, das aus 13km laufen, 26 km wandern und 13 km laufen besteht.

Zur Entschädigung, das mir mal wieder die Pein bewusst wird, dass meine besten Tage „am Berg“ vorbei sind lugt die Sonne immer mal wieder durch die Wolken. Gelbe Kraftspritze. So wie die Banane, die ich mir vor kurzem eingeworfen habe. Sonne am Morgen, vertreibt Kummer und Sorgen. Für mich ist das heute kein abgenudelter, dummer, alter Spruch. Verspür ich da etwa erste Glückshormone – obwohl es gerade steiler und steiler wird. Über die nächsten 3 km machen wir 300 hm. Wieder mal stehen Kühe auf dem kurzen „Off Grid Abschnitt“ (O-Ton Komoot). Rechts etwas erhöht grüßt das Karwendelhaus. Trotz der schönen Bergkulisse. Ich hadere schon wieder mit meinem inneren Ich. Diesmal wegen der steigenden Temperaturen. Noch ist die Sonne nicht komplett da, aber die Schwülheit lässt mich aus alle Poren dampfen. Oder ganz profan und ungeschönt ausgedrückt - Ich schwitzte wie ein Schwein.

Trotzdem kann ich mich dazu zwingen das Handy rauszukramen und ein Bild von der Szenerie zu verewigen. Wer weiß wann ich mal wieder so einen Tag in den Bergen erleben darf. Wer hätte heute Morgen gedacht, dass alle panischen Wetterprognosen für‘n A... waren. Anmerkung: Im Nachhinein habe ich erfahren, dass einige gemeldete Teilnehmer sich, deswegen entschieden dem Schweinehund nachzugeben und erst gar nicht anzutreten. Insofern hatte ich meinen ersten Kampf heute gewonnen. Jetzt musste nur noch dieser steile Direktanstieg ein Ende nehmen. Meine ganze Aufmerksamkeit galt nur meiner mentalen Balance. Nach steil kommt flach. Nach hoch kommt runter. Alles eine Frage der Zeit. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Und ist der Weg auch noch so steil...
Kurz nach passieren der Hütte kommt die ersehnte 2.Labe bei km 19. Es gibt nun auch Kartoffelsuppe. Ich verpflege mich in aller Ruhe auf 1737 m Höhe und mache mich dann auf den ca. 6 km langen Abstieg. Über einen breiten Serpentinenweg. Ein schöner laufbarer Downhill –-für mich im moderaten Tempo.

Die nächste Labe ist am kleinen Ahornboden. Freie Wiesenflächen mit großen Ahornbäumen. Ein mystischer Platz. Wie in einem Amphitheater, umrahmt von wild gezackten Bergketten, steht dort eine kleine Almhütte, aus massivem Blockholz. Direkt daneben das Zelt mit der Versorgung. Ich probiere erstmals auch die angebotenen Blaubeersuppe. Stärkung für das, was kommt. Noch ein paar entspannte Meter über kleine Holzbrücken. Dann wird es nochmal richtig hoch gehen. 400 hm auf 4 km, die zweite Hälft des Rennens beginnt richtig schweißtreibend. Statt dem erwarteten Dauerregen- Motivations-Downer killt mich nun die Hitze. Gnadenlos brennt die Sonne auf meine ungeschützte Haut. Km 25, es wird zäh. Und noch weiter, weiter geht es auf dem direkten Weg, steil und steiler nach oben. Km 26 es wird noch zäher. Ich schaue auf das Pünktchen auf der Uhr, dass sich nur langsam schräg nach oben bewegt Richtung Spitze. Die digitale Kontrolle. Segen und Fluch zugleich jederzeit zu wissen, woran man gerade ist. Weit ist es nicht mehr bis zum höchsten Punkt bei 1848m. Die nackten Zahlen lügen nicht, aber gefühlt komme es mir ewig vor. Endlich, die Falkenhütte. Kilometer 30. Der höchste Punkt.

Anschließend verlieren wir gleich wieder ein paar Höhenmeter, ehe es heißt. Kräfte bündeln für den steilen Schlussanstieg zum Hohljoch. Vor uns die Laliderer Wände. Endlich oben. Die letzten Meter zum Grat, hochgezwängt, kurz ein Bild geschossen. Ein atemberaubenden Anblick der sich von hier bietet. Unten im Talboden sieht man schon die Eng. Das nächste Ziel. Abwärts die nächsten 5 km auf schottrigem Untergrund. Technisch zwar unschwierig, aber Supersteil, jeder Schritt will überlegt sein. Nur nicht zu schnell werden lassen. Immer wieder abbremsen um in engen Serpentinen, nicht an den kleinen spitzen Felsbrocken hängen zu bleiben. Die Oberschenkel melden sich so langsam zu Wort und beginnen immer lauter zu meckern. Endlich neigt sich der Hang etwas zurück. Der Weg wird flacher, die psychologische Herausforderung Sturzeinlagen bei mangelnder Beinkoordination zu provozieren und den Horrorgedanken eines „Worst Case“ lassen nach und ich kann endlich die Bremse lösen. Das ein ungewollter Sturz auch auf ebenem Gelände möglich ist verdränge ich dabei. Man könnte meinen meine Berührung Berliner Asphalts läge schon Jahre zurück. Dabei war das erst vor genau 2 Wochen. Und ist noch spürbar. (Vermutlich habe ich mir dabei eine Rippe angeknackst).
An der Eng Alm ist die Hölle los. Anfeuernde Zuschauer, Partymusik und ein Moderator der die Läufer ankündigt. Sehr idyllisch gelegen, ein Ort zum Bleiben. Aber ich habe mich längst entschlossen. Carpe Diem – nutze den Tag. Während nur wenige Kilometer entfernt, bereits Unwetter toben und Bächle zu reißenden Flüssen werden, strahlt hier die Sonne bei wolkenlosem stahlblauen Himmel. Da werden die letzten knapp 17 km zumindest wettertechnisch nicht mehr hart. Das Streckenprofil kennt die nächsten 3 km dagegen nur eine Richtung. Eine diagonale Linie von links unten nach rechts oben. 600 hm. Zum Glück nicht durchgängig im gleichen Neigungswinkel.

Zunächst bewegt sich der kleine Punkt, der mich auf der Uhr darstellt, in flottem Gehtempo in mäßig steilem Anstellgrad bis zur Binsalm. Dort gibt es schon wieder was zu futtern und einen großen Becher des angebotenen Holundersafts. Kurz danach geht es von angenehmen Hauptweg ab und dann nochmals richtig steil auf einen Singletrail. Jetzt nur ruhig bleiben. Es ist der finale Aufstieg. Danach geht es nur noch bergab. Die grandiose Aussicht in alle Richtungen gibt die letzten Reserven frei. Endlos ziehen sich Schleife um Schleife die Läufer nach oben. Wie lange noch. Dann endlich. Das Joch ist greifbar. Es zieht frische Luft von der anderen Talseite herauf. Kurz verweilt - für ein Foto. Und dann beginnt sie. Die lange Downhillstrecke. Zuerst noch über einen kleinen Almwiesenpfad der sich mäandernd herunterschlängelt bis zur Gramaialm. Dort bei km 41,5 gibt es nochmal die ganzen Leckereien. Ich greife mir ein Käsebrot, einen Riegel und zum Dessert die Heidelbeersuppe. Spätestens ab jetzt ist der Tag gerettet. Der Tag der mir morgens so sehr auf die Psyche geschlagen hat. Wie ein böser Albtraum. Längst vergessen. Nun genieße ich einen Alptraum.
Frisch gestärkt, rolle ich weiter talwärts. Über eine zwischenzeitlich breite geschotterte Fahrstraße geht es zügig Richtung Alpengasthof Gramai. Es sind von da noch 7,5 km. Die größte Steilheit ist vorbei, ich bewege mich im entspannten Joggingmodus und tracke die Restkilometer, die mir die Garmin verkündet. Die Strecke, die ich auf komoot nachlaufe, ist etwas kürzer als die wettkampfbilanzierten 52 km. Um so besser. Die Vorfreude aufs Ziel am Achensee steigt.
5 km davor wird sie abrupt nochmals eingebremst. Schiet. Kurz nach der Falzthurmhütte geht es auf Asphalt. Nahezu bolzgerade. Ich fluche laut. Meine Trailschuhe stimmen mit ein. Kein schöner Abschluss. Gibt es da gar keine Möglichkeit einer Alternativroute. Wäre mir jetzt sogar egal, wenn die weiter wäre. Es hilft nix. Zähne zusammenbeißen. Zuschauer motivieren mich mit ihren Standardsprüchen wie: „Ist bald geschafft, sieht gut aus, Klasse weiter so, Respekt vor der Leistung“ und so weiter. So geht Kilometer um Kilometer weg und schließlich erreiche ich das Stadtgebiet von Pertisau. Es geht noch mal links ab und dann in Richtung Zielgelände. Ich biege ein, der 1.Zielbogen, weiter, denn die Messmatte liegt etwas weiter vorn. Kurz danach der krönende Einlauf. Der Moderator verkündigt Namen und Zielzeit. Von mir fällt schlagartig all die Last, ab die ich die letzten Tage mit mir herumgetragen habe. Ich genieße das Hier und Jetzt. Ganz intensiv. Koste den Moment aus und reiße die Arme hoch. „Yes - I did it again.“ Allen Selbstzweifeln zum Trotz. Finish. Bei einem Lauf durch eine grandiose Landschaftskulisse. 1 Tag in den Bergen. Bei Bilderbuchwetter. Einfach märchenhaft. Und doch real.

Ich mache mich kurz frisch und stärke mich. Dann geht es die letzten 200 meter vor zur Schiffsanlegestelle am See. Wenn ich das Wetter vorhergeahnt hätte, dann wäre ein Sprung in den See jetzt die geniale Abrundung eines perfekten Tages. So bleibt es bei mediterranen Gedanken und ich mache mich auf den Weg zum Bus-Shuttle. Ein Reisebüro bringt uns stündlich zurück nach Scharnitz zum Ausgangsort. Um kurz vor 3 Uhr nachmittags war ich im Ziel. Um Viertel vor 5 steige ich in den Bus ein, der um 5 abfahren soll. Der Himmel hat sich verdunkelt, die ersten Regentropfen fallen. Über Scharnitz ist vor knapp einer Stunde schon ein Unwetter gezogen, örtlich mit Hagel. Es sollen Autos geschädigt worden sein. Na, hoffentlich gibt es heute nicht doch noch ein böses Erwachen. Wir fahren los, der Himmel öffnet seine Schleusen. Über 1 Stunde wird die Rückfahrt über Innsbruck dauern. Die Zeit vergeht wie im Flug. Mit meiner unbekannten Sitznachbarin entwickeln sich nette, anregende Gespräche. Nicht nur über das Laufen. Wir finden viele spannende Themen und jeder erfährt etwas aus dem Leben des anderen. Aus zwei völlig Fremden werden Seelenverwandte. Was für ein verrückter Tag.

Leider lässt sich der Busfahrer nicht erweichen vom Startgelände aus noch die Mitreisenden weiter zu transportieren, die morgens auf den Parkplatz Nr. 1 verdonnert wurden (ich war nicht er einzigste im Bus). Und so bleibt mir – und meiner gerade gemachten Bekanntschaft – nichts weiter übrig als murrend die letzten 1,5 km für heute im strömenden Regen zu gehen. Völlig durchnässt komme ich dort an. Der Tag endet so nass wie er begonnen hat. Aber all das, was dazwischen lag entschädigt für alles. Das Auto erwartet mich schon, zum Glück unversehrt. Heute ist einfach mein Glückstag. Obwohl ich ihn beinahe verschlafen hätte, um ihm vorsorglich aus dem Weg zu gehen. Sollte mir für die Zukunft zu denken geben. Hoffen - statt bangen. Mit schlechten Gedanken - nimmst du dich selbst gefangen. Dein Mut beginnt zu wanken - anstatt die Dinge einfach anzufangen.
13.04. 12h Lauf Grüntal 53,55k
14.04. LIWA-Mara 04:56:44
27.04. Tri-speck 69 km 1100 hm
28.04. Ditzinger Lebenslauf
05.05. Trolli-Mara
11.05. Albtraum 115 k 3000 hm
06.07. Heuchelbergtrail 50 k
28.07. Schönbuch Trophy 47, k 1300 hm
17.08. 100 M Berlin
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Re: Von der verlorenem Leichtigkeit des läuferischen Seins – Karwendelmarsch 2023.

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Hallo Klaus,
ich gratuliere Dir zur guten Entscheidung doch angetreten zu sein... auch wenn das warme Bett gelockt hat und Du Dich mit über 1.000 Bedenken Dir das Leben/Laufen schwer gemacht hast.
Die Entscheidung den Start um eine halbe Stunde zu verschieben - das haben die Veranstalter wohl goldrichtig gemacht!
Und dann gratuliere/beglückwünsche ich Dich natürlich zum Finish für den gelungenen Berglauf in dieser fantastischen Bergwelt.
Nicht umsonst habe ich DEN auch noch auf meiner ToDo-Liste.
Und nun stehst Du also vor der Entscheidung: große Wanderung (mit Gratisstartplatz) - oder Weinfest ... Du bist ja überhaupt nicht zu beneiden :nick: :hihi:
Klaus Du wirst Dich schon richtig entscheiden ... mir hat mal Jemand gesagt - wie Du Dich denn entscheidest, es wird das Richtige sein!!!
In diesem Sinne - gib dem Affen Zucker ... "ähhm" - ich meine natürlich: Gib dem Teufel Feuer (Keep The Fire Burning)

Roland
runners.high - Nomen est omen :logik:

Re: Von der verlorenem Leichtigkeit des läuferischen Seins – Karwendelmarsch 2023.

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Hallo Schauläufer,

es ist immer schön Berichte zu Läufen zu lesen wo man selbst am Start war.

So einen Lauf bzw. die Zeit bis zum Start habe ich auch noch nicht erlebt. Ich bin etwas früher wie du von Seefeld nach Scharnitz gefahren und es war generell eine seltsame Stimmung in der Dunkelheit welche immer wieder durch Blitze aufgehellt wurde bis zum Starkregen gegen 6Uhr mit Startverzögerung um 30 Minuten. Danach war es aber ein Wetter wie man es nicht besser hätte haben können.
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