So, jetzt wird's matschig. Alle, die etwas sensibel veranlagt sind, sollten weglesen. Alle anderen können ihre blutrünstige Neugier ausleben. Berichte von Läufen, die echt Scheiße gelaufen sind, haben 3 mal mehr Hits als Läufe, die gut gelaufen sind. Was viel über die menschliche Natur und den Läufer an sich aussagt.
Montagnachmittag. Laufe gerade auf den Reichstag zu. Irgendwas ist komisch. So als hätte sich der bundesdeutsche Schwindel um mich rum auf meinen Kopp übertragen. Ignorieren geht vor Analysieren und ich laufe stoisch weiter, Richtung Alex. Mache das immer so seit einem halben Jahr. Morgens 7,7 Kilometer hin, nachmittags 7,7 Kilometer zurück. Sozusagen Alltagstrott.
Dienstagmorgen. Wie immer an der Spree lang. Bin grade beim Bundespräsidenten vorbei. Freue mich, dass dieser dämliche Schnee und das noch dämlichere Eis weg sind. Kann endlich wieder locker laufen. Die linke Schulter schmerzt leicht. Eine nette Erinnerung daran, dass ich mich vor 4 Wochen auf Eis gelegt habe. Gucke so auf den schmalen Rasenstreifen neben dem Weg, ob sich nicht schon der Frühling raustraut. Da hat doch so ein verblödeter Hundehalter die Tütchen mit Hundekacke einfach auf den Rasen geworfen! Wie doof muß man eigentlich sein, dass man den letzten Schritt - Tüte in Mülleimer - nicht auf die Reihe kriegt? Soviel Blödheit irritiert mich dermaßen, dass ich stolpere und mich grade noch so fange. Schreck laß nach.
Dienstagnachmittag. Muss heute Kind aus dem Kindergarten abholen. Die Vorstellung, wie Kind allein in der Kita sitzt und heult, weil keiner kommt, treibt mich rechtzeitig aus dem Büro. Also Laufklamotten an und los. Laufe wieder an den Tütchen vorbei. Dann beim Bundespräsidenten vorbei. Auf der linken Seite steht eine Schule. Die sehe ich zweimal täglich. Immer ohne Kinder. Heute mal mit. Ein paar kleine Jungs spielen Fussball. Der Ball fliegt über den Zaun und rollt in Richtung Spree. Der Läufer in mir sagt, lauf weiter, du musst zur U-Bahn. Die Mutti in mir sagt, hol ihn und wirf ihn rüber, bevor er in die Spree fällt. Mutti gewinnt. Bücke mich nach dem Ball, wende elegant auf der Ferse, laufe in Richtung Zaun und - plumps. Stolpere, falle, lasse natürlich NICHT den Ball los, schlage der Länge lang hin und bremse mit dem Gesicht ab. Plötzlich liege ich wie ein gestrandeter Wal vor dem Zaun. Die Jungs sind völlig irritiert und wissen nicht, ob sie das jetzt für eine Olli-Kahn-Nummer halten sollen.
Kann meine Bremsspur aus unmittelbarer Nähe begutachten. Sozusagen Auge in Auge mit dem Granitpflasterstein. Garniert mit etwas Split, damit man nicht ausrutscht. Ha ha. Setze mich erst mal hin, die Suppe läuft. Glück gehabt, die Zähne sind noch alle drin. Nur die Lippe ist etwas matschig. Das Blut tropft aus und von der Nase, um sich mit dem Blut vom aufgekloppten Kinn zu vereinigen und auf meine neue (!) Laufjacke, natürlich weiß, zu tropfen. Ein Läufer drückt mir seine Packung Papiertaschentücher in die Hand und sagt, dass er kein Handy mithabe, um einen Krankenwagen zu rufen. Das holt mich sofort zurück auf den Boden, auf dem ich immer noch sitze. Ich kann nicht ins Krankenhaus, ich muss mein Kind abholen! Ausserdem ist das doch garnicht so wild und überhaupt. An den mitleidigen Blicken der Spaziergänger sehe ich, dass ich ziemlich dramatisch aussehen muss. Zum Glück ist der Hausmeister der Schule da und läßt mich in die Schule. Unter dem ehrfürchtigen Staunen der Jungs, die mich viel spannender finden, als Fussball, humpele ich in den Waschraum.
Nicht in den Spiegel gucken. Bloss nicht. Werfe mir Wasser ins Gesicht, um wenigstens Split und Dreck abzuspülen. Die Suppe läuft immer noch. Jetzt hab ich auch noch den Waschraum eingesaut. Langsam reicht's. Der Hausmeister hat inzwischen seinen Sanikasten nach Pflaster durchforstet und so kann ich mich halbwegs bekleben. Mann, sehe ich zermatscht aus. Wie kann man so blöd sein und im wahrsten Sinne des Wortes auf die Schnauze fliegen?! Humpele aus der Schule, an den Jungs vorbei. Sieht cool aus, was? Finden die offenbar nicht und lassen mich meines Weges ziehen. Am liebsten würde ich jetzt in die Spree hopsen. Einfach treiben lassen bis zum Alex, niemand sehen und vor allem, nicht gesehen werden. Diese Show ist mir unendlich peinlich. Ich gehe zum Hauptbahnhof. Zu laufen, traue ich mich nicht. Muss zum Kindergarten, egal wie. Fühle mich wie Bruce Willis, der mit Bauchschuss und zertrümmertem Knie durch die feindlichen Linien marschiert, um seine Angebetete zu retten. Stirb langsam. Aber erst, wenn du im Kindergarten bist.
In der Bahn glotzen mich alle an, als hätte ich mich gerade mit ein paar Leuten geprügelt. Zum Glück läuft das Blut nicht mehr aus der Nase und ich kann noch durch selbige atmen, scheint also nicht gebrochen zu sein. Irgendwie bin ich dann endlich im Kindergarten. Die Kindergärtnerinnen schreien auf, als sie mich sehen. Mein Kind wird ein Trauma bekommen, wenn es mich sieht. Kind guckt aber nur interessiert. Offenbar kann sie bei ihrer Mutter nichts mehr erschüttern. Auf dem Weg nach Hause hoffe ich inständig, dass uns kein Nachbar über den Weg läuft. Das Letzte, was ich jetzt will, ist jedem zu erklären, dass ich zu blöd zum Laufen bin. Zu Hause lege ich neue Pflaster auf, die anderen sind schon durchgesuppt. Dann untersuche ich die Kolateralschäden. Hände, Schulter (natürlich die linke!) und Knie sehen arg ramponiert aus, also auch noch Pflaster drauf. Die Laufhose hat's zum Glück nicht zerlegt. Ob ich die Laufjacke je wieder sauberkriege - keine Ahnung. Die Nacht wird lustig. Kopf und Nase schmerzen, das Wundwasser läuft und läuft. Packe mir einfach Küchentücher aufs Kopfkissen und spule immer und immer wieder den Stunt im Kopf ab.
Mittwochmorgen. Fahre widerwillig zum Hausarzt. Allein die Vorstellung, dass die Pflaster abgemacht werden, treibt mir den Angstschweiß auf die Stirn. Würde mich am liebsten in eine Ecke verkriechen, lasst mich doch alle in Ruhe. Aber so kann ich nicht auf Arbeit auftauchen. Frankenstein im Büro - keine gute Idee. Beim Hausarzt bekomme ich dann eine Standpauke zu hören, warum ich nicht ins Krankenhaus gefahren bin. Dann schicken sie mich zum Durchgangsarzt, weil das ja ein Wegeunfall ist. Daran hatte ich nun überhaupt nicht gedacht. Beim "D-Arzt" muß ich Formulare ausfüllen, werde befragt und beguckt. Zum Glück machen sie die Pflaster nicht ab. Auch ums Röntgen komme ich drumherum, nachdem ich versichere, durch die Nase atmen zu können. Außerdem tut's ja garnicht mehr so weh. Auch den Verdacht auf Gehirnerschütterung kann ich abwiegeln, schließlich habe ich nur Kopfschmerzen. Mit der Anweisung, zu ruhen und, wenn's schlimmer wird, ins Krankenhaus zu fahren, werde ich entlassen. Zu Hause liege ich flach, kühle Nase und Knie. Mein Kreislauf, der schon Montag schwächelte, setzt noch einen drauf. Mein Blutdruck ist zwischenzeitlich bei 112 zu 62, der Puls dümpelt um die 60 rum.
Freitagmorgen. Der Tag der Wahrheit. Hatte mich extra Donnerstagabend neu verpflastert, um dem Übel am nächsten Morgen zu entgehen. Verbandswechsel war angedroht. Und die Schwester ist knallhart. In 5 Minuten zerstört sie mein mühsames Werk und legt alles frei. War mein Aussehen unter den Pflastern wenigstens noch der Phantasie des Betrachters überlassen, so sieht man jetzt das ganze Elend. Neben der angeschwollenen Lippe und Nase hat sich noch ein Matschauge gebildet, sodass ich jetzt wirklich aussehe, als hätte ich mich geprügelt. Und morgen wollte ich meinen zweiten Marathon in diesem Jahr laufen! Verdammte Scheiße, wenn ich da so auftauche, lassen die mich doch nie und nimmer laufen. Falls doch, würde ich mich wahrscheinlich dank des schwächelnden Kreislaufs nochmal hinschmeißen. Und der D-Arzt würde mich dann endgültig einweisen.
Mittwochmorgen. Bin natürlich nicht am Wochenende gelaufen. War echt hart. Habe meine Wunden gepflegt und getrauert. Selbst der Regen konnte mich nicht trösten. Meine Lieblingskonkurrentin hat das Ding in 3:47 gewonnen. Letztes Jahr bin ich den Lauf in 3:39 gelaufen. Es hätte so schön sein können. Könnte mich grün und blau ärgern, wenn ich's nicht schon wäre. Schleiche an den Laufklamotten vorbei und traue mich nicht, zu laufen. Was ist, wenn ich wieder die Rolle mache? Irgendwas stimmt nicht und ich muss das rauskriegen. Bekomme auf die Schnelle einen Termin beim Schilddrüsenarzt. Falls das nicht die Ursache ist, muss ich zum Checkup zum Hausarzt. Irgendwas müssen die doch finden.
Freitagmorgen. Werde beim D-Arzt als geheilt entlassen. Der Schorf ist ab. So, wie es jetzt aussieht, kann man das auch als Hautkrankheit verkaufen. Die Nase war anscheinend wirklich nicht gebrochen. Zumindest ist sie nicht schief. Schon besser drauf fahre ich zum Schilddrüsenarzt. Und der macht mich erstmal rund. Einmal im Monat Marathon laufen, das fällt ja schon unter Sucht. Täglich laufen und erst recht zweimal täglich, sei ja wohl bescheuert. Da sei es doch kein Wunder, dass ich mit meiner Medikamentendosis nicht auskomme und mich konsequent in eine Unterfunktion laufe. Überhaupt sei das nicht gesund, wenn man es so leistungssportmäßig betreibe. Dann sei der Puls irgendwann bei 40 und der Blutdruck im Keller und man selbst ein Kandidat für einen Herzschrittmacher. Er laufe ja selber, aber maximal 1 Stunde pro Tag und auch nur jeden zweiten Tag. Alles andere sei ungesund. Der Heroinjunkie führe sich die Endorphine von außen zu, der Laufjunkie von innen. Ganz schön krass, Doc. Aber in einem Punkt hat er recht: mein Leben richtet sich nur noch nach dem Laufen. Der Rest der Freizeit wird in den Wettkampf- und Trainingskalender gepreßt.
Völlig deprimiert lasse ich mir noch Blut abnehmen und schleiche von dannen. Den 50-Kilometer-Lauf morgen kann ich wohl vergessen. Mitten aus dem Läuferleben gerissen. Schaue mir meine Trainingsdaten der letzten 5 Jahre an. Bin doch tatsächlich mit 70 Kilometern pro Woche und nur jeden zweiten Tag Laufen mal eine 3:35 gelaufen. Okay, alles auf Anfang. Back to the roots. Der alte Trainingsplan wird der neue Trainingsplan. Ha, von wegen Sucht! Ich kann noch aufhören, wenn ich will. Fällt aber verdammt schwer. Und die Moral von der Geschichte? Man sollte zur Abwechslung mal auf seinen Körper und den Arzt hören. Und sich überlegen, ob es neben Laufen noch einen anderen Lebensinhalt gibt. Sonst fällt man nicht nur theoretisch auf die Nase, sondern auch praktisch
