Es war die Silvesternacht 2010, ich war mit einer Familie auf einen Kurzurlaub in den Bayrischen Wald gefahren und nun um 0.25 Uhr stand ich mit einem halbvollen Glas Sekt auf dem Balkon des Hotels und beobachtete das Feuerwerk in den Tälern rings rum während meine Frau unser kleines Töchterchen fertig fürs Bettchen machte.
Während es rum mich rum krachte und pfiff kreisten meine Gedanken um das vor mir liegende Jahr. Ich bin eigentlich nicht der Typ der sich großartige Vorsätze für ein beginnendes Jahr macht... warum auch? Rauchen tu ich eh nicht, im Job passt alles und ne nette Familie hab ich auch schon.....was bleibt da noch? Natürlich unser aller Lieblingssport

Seit dem Frankfurt Marathon Ende Oktober hatte ich zwar regelmäßig weiter trainiert, in der Vorweihnachtszeit mein Gewicht bei einer Größe von 1,86 aber trotzdem von 82 auf 86 KG geklettert. Die Weichnachtszeit ist einfach Gift für einen Schokoholiker wie mich

Obwohl ich den HM also gerne laufe, hatte ich mich bisher noch nie gezielt auf einen vorbereitet. Die HM Zeiten waren immer nur Abfallprodukte der Marathonvorbereitung und es reizte mich mal raus zu finden was wohl geht wenn ich den Fokus mal gezielt auf die kürzere Strecke lege. Den letzten HM lief ich im September 2009 in Bensheim als Vorbereitung für Frankfurt (wieder so ein Abfallprodukt) und konnte dort in einem Lauf am Limit meine PB auf 1:34:48 drücken. Was wäre nun also ein realistisches Ziel? Ist es für mich machbar die Schallmauer von 1:30 anzugreifen? 5 Minuten Verbesserung (inklusive Gewicht abspecken) bis zum Gutenberg Marathon in Mainz für den ich schon gemeldet hatte. Das wäre ein ganz schön dickes Brett…schwer aber nicht unmöglich ... also eigentlich genau das richtige Ziel!
Um 0.30 stand mein Entschluss fest und das Projekt 1:30 war geboren. In Mainz würde ich den Angriff wagen ! Ich kippte den letzten Schluck Sekt runter und ging mit einem Grinsen ins Hotelzimmer um meiner Tochter gute Nacht zu sagen....
Wieder Zuhause angekommen posaunte ich meinen Entschluss gleich hier bei meinen lieben Freunden aus dem "Zielzeit Halbmarathon .." Thread hinaus. Auf das sie mich an Tagen an denen der innere Schweinehund anfängt zu meckern an meine große Klappe erinnern mögen.
Der nächste Schritt war die Suche nach einem passenden Trainingsplan. Ich hatte mich bisher immer nach den Steffny Plänen auf meine Marathons vorbereitet und damit auch immer mein Ziel erreicht, aber trotzdem hatte ich Lust auch in diesem Bereich einfach mal über den Tellerrand hinaus zu schauen. Eigentlich alle Standardpläne sehen für eine 1:30 mindestens 5 Einheiten die Woche vor, was bei mir allerdings nur in Ausnahmefällen möglich ist, da ich mich in zähen Verhandlungen mit meiner Frau mal drauf geeinigt habe "nur" 4 Einheiten pro Woche zu machen. Die Familie will ja auch noch was von Papa haben


Die Vorbereitung startete dann "Dank" des tollen Winterwetters schwierig aber ich konnte die Einheiten zum großen Teil irgendwie wie geplant über die Bühne bringen und außer einer Pause von 5 Tagen wegen zwischenzeitlicher Leistenbeschwerden hab ich die ungewohnt vielen und schnellen Tempoeinheiten ganz gut weg gesteckt.
Während der Vorbereitung merkte ich deutlich, dass der Spruch "schnell macht schnell" absolut zutrifft. Das Tempo der Einheiten steigerte sich kontinuierlich aber ich war trotzdem immer ganz gut in der Lage Tempi zu laufen die mir ein paar Wochen zuvor noch völlig unmöglich erschienen waren. Ich merkte zwar das ich mich am oberen Limit bewegte, aber das dieses Projekt kein Spaziergang werden würde war ja von Anfang an klar.
Mitte April stand dann eine Standortbestimmung auf dem Plan auf deren Ausgang ich selbst höllisch gespannt war. Angesagt war ein 10 KM Lauf in Seligenstadt und hier konnte ich meine PB dann tatsächlich von 43:08 auf 40:25 drücken. Das gab halbwegs Gewissheit das ich auf Kurs war, es würde knapp werden, aber der Weg war der Richtige.
Und nun war es also so weit, der große Tag stand vor der Tür...
Nachdem es in den letzten Jahren in Mainz immer Sonne satt gegeben hatte, war die Vorhersage diesmal sehr vielversprechend. Bewölkt mit etwa 10 Grad und einer Niederschlagswahrscheinlichkeit von nur 15 % für 9.30 Uhr. Das klang nach Bestzeitenwetter!
Doch als ich zusammen mit einer ganzen Horde Mitläufer etwa eine Stunde vor dem Start in Mainz-Kastel aus dem Zug kletterte wurden wir bereits mit einigen Tropfen empfangen und über Mainz hing ein dunkler Vorhang der nichts Gutes versprach. Am vereinbarten Forentreffpunkt wartete schon 3fach-Chris und Thomas (Melrose) kam kurz danach noch dazu. Der dunkle Vorhang näherte sich leider unaufhaltsam und der Regen wurde von Minute zu Minute stärker. Wir Drei standen da wie die begossenen Pudel und entschlossen uns bald den Versuch Forumstreffen hier abzubrechen und uns lieber ein trockenes Plätzchen zu suchen.
Nach dem Umziehen und Kleiderabgabe machte ich noch einen kurzen Rundgang über die Marathonmesse in der Hoffnung das dort an einem Stand die berühmten warmhalte (in diesem Fall eher trockenhalte) Mülltüten verteilt würden, was aber leider nicht der Fall war. Na gut, dann halt noch schnell den letzten Toilettengang erledigen war der nächste Gedanke, aber an den Toiletten hatten sich schon riesige Schlangen gebildet. Meine Lust mich da anzustellen war doch sehr begrenzt und wie sagte schon Sherlock Holmes immer so schön.. ...kombiniere...: Wenn die alle hier drin auf die Toilette gehen weil niemand nass werden will, dann müssten die Dixie's draußen eigentlich schon frei sein. Und ob ich jetzt 10 Minuten früher oder später nass werde ist dann auch wurscht. Also auf dem Absartz kehrt gemacht und sich durch die Menge wieder in Richtung Ausgang gewühlt. Doch was ist das?? Tatsächlich...am Ausgang der Rheingoldhalle verteilten jetzt ein paar fleißige Helfer gelbe Säcke als Regenschutz! Ein nachträgliches Hoch auf denjenigen der diese Idee hatte. Also schnell ein paar Löcher für Kopf und Arme rein gerissen und drüber mit dem Ding.
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Der Himmel war in der Zwischenzeit etwas heller geworden aber der Regen prasselte trotzdem noch unvermindert runter und auf der Strasse hatten sich tiefe Pfützen gebildet. Also 15 % Niederschlagswahrscheinlichkeit und einen Niederschlag von < 0,1 mm pro Quadratmeter hatte ich mir irgendwie trockener vorgestellt.

Kurz vor dem Start der Handbiker ging es dann ab in Startblock 1. Ich hatte mir schon lange vorgenommen diesmal rechtzeitig in die Aufstellung zu kommen, da ich es mir zeitmäßig einfach nicht würde leisten können auf den ersten 2 KM auch noch Slalom zu laufen. Nach dem Start der Handbiker durften wir ein Stück weiter Richtung Startlinie vorrücken und standen jetzt unter der Fußgängerbrücke die zur Rheingoldhalle führt. Das hatte Vorteile da es hier geschützt war, aber auch einen Nachteil da mein FR schon bald den Verlust des Satellitenkontakts meldete. Na gut, die kriegt er schon wieder und ich muss auf dem ersten KM halt etwas mehr auf mein Tempogefühl achten und weniger auf den Wecker starren.
Dann war es endlich so weit... Der Startschuss fiel und der Lauf auf den ich die letzten 5 Monate hin gearbeitet hatte konnte beginnen..
KM 1: Pünktlich zum Startschuss hatte der Regen tatsächlich aufgehört und die Bedingungen waren 1A, kühl aber nicht wirklich kalt und dazu windstill. Allerdings stand noch reichlich Wasser auf der Strasse.
Natürlich war es am Anfang etwas eng, aber mein Tempo passte größtenteils sehr gut zu den mich umgebenden Läufern, so dass ich erfreulich schnell meinen Rhythmus finden konnte versuchte erstmal nicht gleich nach 100 Metern ein Fußbad zu nehmen, dieser Plan ging allerdings gehörig schief und irgendwann ab KM 5 hörte ich dann auch auf die durchquerten Pfützen zu zählen

KM 2: Der Laufrhythmus war da, alle Systeme zeigten Grün und die Läuferschar entzerrte sich schon langsam, so das jetzt richtig angenehmes Laufen möglich war. Nun ja... so angenehm sich ein Tempo halt anfühlt das am oberen Limit der eigenen Leistungsfähigkeit liegt

KM 3: Es geht im gleichmäßigen Tempo durch die Schott Werke, doch als ich am KM 3 Schild abstoppe zeigt mir die Uhr eine 4:47. Auch der FR behauptet das ich jetzt schon 3,1 KM gelaufen war und da ich garantiert nicht so viel langsamer geworden bin stand das Schild hier wohl eher suboptimal.
KM 4: Am Schild stoppe ich die Uhr bei 3:47, aha... damit gleicht sich der zu lange KM 3 wieder aus und wir müssten wieder auf Linie sein. Ich verstehe es zwar nicht warum es bei einer so großen Veranstaltung nicht möglich ist die KM Schilder halbwegs exakt zu setzten aber Hauptsache die erste Runde ist diesmal nicht wieder 200 Meter zu lang wie noch 2009.
KM 5 - 10: Direkt vor mir läuft eine fröhliche Truppe aus 5 Läufern die mir wieder mal deutlich den Unterschied zwischen richtigen Läufern und einem Trampeltier wie mir aufzeigt. Die Jungs laufen den kompletten Marathon und es wird viel erzählt, gelacht und mit den Zuschauern gescherzt. Klingt wie ein lustiger Entspannungslauf während meiner einer japst, hechelt und sich anstrengen muss um an den Jungs dran zu bleiben, und das wo ich doch nur den HM laufe.

KM 10 - 13: Die Zeit in der Gruppe vergeht wie im Flug und ich bedauere es wirklich als sich die Gruppe entscheidet ab KM 10 das Tempo noch etwas zu forcieren. Jetzt krampfhaft zu versuchen dran zu bleiben würde mich garantiert abschießen und so lasse ich die Jungs ziehen und versuche wieder meinen Stiefel zu laufen. Die Durchschnittspace auf den ersten 10 KM lag genau bei den geplanten 4:16, aber jetzt spüre ich so langsam ein erstes Ziehen in der Wade und auch in der Lunge spüre ich die Anstrengung. Das es irgendwann schwer werden würde war mir klar, aber KM 10 ist hierfür definitiv zu früh und ich muss meine beginnenden Zweifel bekämpfen.
"Komm bleib locker...Achte auf den Laufstil.. pass auf die Schrittlänge auf…Lauf mit Technik und nicht mit Kraft.." Ich ermahne mich immer wieder selbst und rette mich so über die im Nachhinein betrachtet schwierigsten Kilometer im ganzen Rennen.
KM 13 - 17: Jetzt nähern wir uns der Mainzer Innenstadt und die Anzahl der Zuschauer nimmt wieder deutlich zu. Dies ist jetzt mein dritter Lauf in Mainz aber trotzdem gibt es noch immer eine Gänsehaut wenn es durch die Altstadt geht wo die Zuschauer und Bands einen anständigen Lärm machen. Ich nenne das in einem Wettkampf immer die geschenkten Meter, weil man die Stimmung um sich rum so richtig aufsaugen kann und gar keinen Gedanken mehr an die Strapazen verschwendet. Über etwas Kopfsteinpflaster geht es aus der Altstadt wieder in Richtung Rheingoldhalle und das Ziel ist hier so nah und doch so fern, denn der Kurs führt jetzt nach rechts auf die bei vielen Mainzstartern höchst unbeliebte Weisenau Schleife. Keine Ahnung ob ich ne Ausnahme bin aber ich laufe die Schleife eigentlich ganz gerne... Ich mag lange Geraden ohne viel Höhenmeter auf denen man schön seinen Rhythmus laufen kann generell ganz gerne und hier geht es seeehr lange gerade aus

Auf der Weisenau Schleife angekommen ist es auf der Gegenspur noch einsam aber zwei Polizeimotorräder künden schon von der sich nähernden Spitzengruppe. Als sie bald darauf vorbei fliegen werden sie von uns allen noch mal kräftig angefeuert. Wahnsinn was die da treiben, dass ist definitiv ein anderer Sport. Aber Moment mal... hatte ich da eben noch Luft zum anfeuern?? Tatsache, na wenn das noch geht dann kann es um mich ja nicht so schlimm bestellt sein. Jetzt habe ich zum ersten Mal das Gefühl mein Ziel wirklich erreichen zu können und bekomme gleich wieder ne Gänsehaut. Als ich bei KM 15 den Kilometer abstoppe springt der FR genau am Schild auf 15.00 KM um. Na hat sich ja echt gelohnt die Autolap raus zu nehmen und manuell zu drücken.

Ich kann das Tempo leicht anziehen und laufen die verbleibenden Kilometer bis zur Wendemarke in 4:14.
KM 17 - 21 : Die Weisenau Wendemarke ist erreicht, schon gestern als ich auf dem Weg zur Startnummernausgabe mit dem Auto hier lang fuhr wusste ich irgendwie das dies ein entscheidender Punkt werden würde. Entweder ich würde jetzt ums Überleben kämpfen oder es wäre jetzt die Zeit alle verbliebenen Körner in den Ofen zu werfen und raus zu holen was noch drin ist. Neben mir läuft eine Dreiergruppe die sich am Wendepunkt noch mal gegenseitig anfeuert und genau wie ich den Endspurt einläutet. Es ist Gold wert jetzt Partner zu haben die das gleiche Tempo laufen und offensichtlich auch um Sub 1:30 kämpfen. Auf der gegenüberliegenden Seite wird die Schar der entgegenkommenden Läufer immer dichter und ich erkenne ein paar bekannte Gesichter (rote Bohne, Ric, 3fach) die sich dem Wendepunkt nähern. Trotz beginnendem Tunnelblick reicht es sogar noch für einen kurzen Gruß. Ich gebe jetzt alles was drin ist und habe das Gefühl kaum langsamer als beim letzten 10'er zu laufen, aber leider ist die Uhr einer anderen Meinung. KM 18, 19 & 20 laufe ich ziemlich genau in einer 4:10 wobei jeder aus der Gruppe mal die Führungsarbeit übernimmt. Hier noch mal einen herzlichen Dank für diese tolle Teamarbeit an meine unbekannten Mitstreiter

Als wir die Weisenau Schleife hinter uns haben und nach Rechts in Richtung Innenstadt abbiegen jubele ich innerlich schon. Die 1:30 wird fallen, jede Sekunde die jetzt noch dazu zusätzlich weg fällt ist nur noch Zugabe. Ein Blick auf die Uhr... sie springt gerade auf 1:28:00 um und das Ziel ist schon zu sehen, aber warum ist das noch so weit weg und warum kommt es verdammt noch mal nicht näher ? Hab ich mich irgendwie verrechnet und mich doch zu früh gefreut?
KLACK
Natürlich gibt der FR nicht so ein Geräusch von sich, aber ich schwöre das ich es hören konnte als die Uhr auf 1:29:00 umspringt.
Jetzt bloß nicht nachlassen…das Ziel ist jetzt nahe...ich kann schon die roten Matten sehen.... gleich ist es vollbracht.... drüber und abdrücken ...
1:29:34 STRRRIKE Mission erfüllt


Mit schmerzenden Waden aber unendlich glücklich wende ich mich der tollen Mainzer Zielverpflegung zu und frage mich im Hinterkopf schon wie wohl jetzt das nächste Ziel aussehen könnte.

Vielen Dank an Grüsse an dieser Stelle noch mal an die vielen netten MitZweifler, MitDaumendrücker und MitFreuer hier im Board.
Grüsse
Sascha