Toronto21 hat geschrieben:Warst du schon mal da, um das beurteilen zu können?
Gearbeitet habe ich dort noch nie, aber dagewesen bin ich dort insgesamt ca. 5 Monate. Und ich habe trotz Urlaub auch das Elend gesehen und habe in den letzten Jahren auch so einige Veränderungen mitbekommen.
Ich kratze mal ein paar Zahlen zusammen:
Ja, die Einkommen in den USA wachsen, aber dummerweise nur bei den ohnehin schon reichen Menschen. 1% der Bevölkerung besitzt ca. 30% des Vermögens. 10% ca. 64% des Vermögens. Soweit ist es bei uns noch nicht, aber die derzeitige Steuerpolitik führt doch genau dahin.
Diese Gesellschaft lebt in höchstem Maße auf Pump. Über ein Verschuldungskriterium von 3% wie in der EU lachen die nur. Die haben ca. 26000 Mrd. US$ Schulden und jedes Jahr kommen jetzt so ca. 700 Mrd. dazu. Die privaten Schulden sind unglaublich. In der Folge ist das Leistungsbilanzdefizit riesig. Es wird importiert ohne Ende.
Ca. 15 % der Menschen haben keine Krankenversicherung. Die staatliche Fürsorge haben die zurückgefahren, wer kann, versichert sich privat. So auch bei der Rente. Das Problem: Der Großteil der Gelder ist in Aktien angelegt und dass, das ein Risiko ist, haben die Engländer schon gezeigt. Auch Unternehmensrenten sind bei Konkursen der Firmen nicht abgesichert. Und eines wird in dem Land nicht - gespart, die Sparquote liegt so ungefähr bei 1%. Also werden viele, wenn es soweit ist, auch keine Ersparnisse haben. Hier lauert also auch eine Zeitbombe.
Was die Arbeit angeht, gehen die Menschen doch zunehmend unqualifizierten Arbeiten nach. Industriejobs gibt es kaum noch. Und als USA-Besucher wirst du gemerkt haben, dass vieles zwar "bemüht" ist, aber am Ende klatschst du häufig nur die Hände über dem Kopf zusammen. Und wie die Leute arbeiten - für Hungerlöhne und selbst mit 2 Jobs kommen viele kaum über die Runden. Von den Arbeitszeiten wollen wir mal gar nicht reden.
Und dann wäre da noch das Thema "Kriminalität" - nicht zuletzt Folge des ganzen Spiels.
In meinen Augen spielen die Amerikaner da ein verdammt gefährliches Spiel. Für mich ist das gesellschaftlich gesehen bestimmt kein Vorbild. Was mich in den letzten Jahren völlig abgenervt hat, war diese "Verschwurbelung" mit der tiefen Religiösität, aber das ist ja nochmal was anderes.
Du greifst nun den fehlenden Kündigungsschutz heraus und die Vorteile, die dein Schwager hatte. Aber für große Teile der Bevölkerung trifft das doch alles nicht zu. Da könnte ich jetzt genauso sagen, schau dir die tristen Wohnwagensiedlungen am Arsch der Welt an und alle paar Monate darfst du auf der Suche nach einem neuen Job dein Haus einpacken und weiterziehen. Ja, etwas verzerrend und plakativ, aber ähnlich die Story vom Schwager.
Aber natürlich sehe ich wie du die Problematik auf dem Arbeitsmarkt in Sachen Kündigungsschutz und Einstellung von älteren Arbeitnehmern. Ein Freund von mir ist Jurist und Personalchef in einem Unternehmen mit mehreren hundert AN - er flucht auch andauernd über unser Sozialgesetzbuch und all die Probleme und die Folgen davon.
Toronto21 hat geschrieben:Ich will das amerikanische System nicht über den grünen Klee loben, aber es herrschen ganz schöne Mythen über das amerikanische System, ohne zu wissen, wie die Praxis eigentlich aussieht. Fakt ist, die Arbeitslosenrate liegt in den USA und auch in England weit unter der europäischen, geschweige denn der deutschen Arbeitslosenrate.
Wodurch wird das aber erkauft? Ich habe oben ein paar Anregungen aufgezählt.
Toronto21 hat geschrieben:Es kann also nicht so schlecht sein, denn mein Schwager beispielsweise fühlt sich dort sehr wohl.
Klar ... gutbezahlt - womöglich im Auslandseinsatz - nettes Haus in bewachter Community ...
Toronto21 hat geschrieben:Vieles von dem, was du hier sagst, klingt ganz nett, aber die Realität sieht heute einfach anders aus.
Was ein neoliberaler Standardspruch wäre (aber in der Verzerrung von Realitäten denken die einen von den anderen ebenso). Ich rege ja nur an, auch mal ein wenig den Gesamtzusammenhang zu berücksichtigen und nicht wild drauflos alles zu deregulieren und zu rereformieren.
Toronto21 hat geschrieben:Teile unserer europäischen Nachbarn (namentlich z.B. Dänemark, Holland, Österreich) machen uns vor, wie es besser geht und wir diskutieren uns zu tode.
Ja, im Ansatz spielen sich da interessante Dinge ab. Eine gesunde Mischung aus Nachfragesteuerung und Angebotsoptimierung wäre mein Favorit, aber das Problem der Nachfragesteuerung scheint der Mainstream nicht wahrzunehmen.
Toronto21 hat geschrieben: Verlagerungen von Hauptsitzen und Produktionsstandorten sind nun mal Realität.
Klar, das kommt einen so vor. Gibt es da eigentlich endlich mal Zahlen drüber, über den damit verbundenen Verlust von Arbeitsplätzen? Ich kenne keine, habe es aber nicht weiter verfolgt. Es gab mal 2004 oder war es letztes Jahr eine Untersuchung von Morgan Stanley über das Offshoring mit dem Tenor, dass das alles halb so wild sei und in den USA und Großbritannien viel dramatischer wäre.
Toronto21 hat geschrieben: Was du Neo-Liberalismus nennst, nenne ich bei dir im Gegenzug Sozialträumerei. Ich gehöre nicht zu den Liberalen, ich hoffe, die FDP verschwindet irgendwann komplett von der Bühne (liberal ist aus meiner Sicht was anderes), habe aber das Bedürfnis, endlich mehr Freiheiten in der Form zu genießen, mir meine Vorsorge im Baukastenprinzip selbst zusammen zu stellen und nicht in ein System gepresst zu werden, von dem ich effektiv nichts habe.
Die Frage ist für mich, woran du tatsächlich festmachst, dass das für eine ganze Gesellschaft besser wäre.
Mann, das kostet hier ganz schön Zeit ... aber ist auch interessant.