Dienstag morgen, 6 Uhr: der Wecker fiept. Nein, ich will noch nicht aufstehen. Beim Blick aus dem Fenster möchte ich die Decke wieder weit über den Kopf ziehen. Es ist grau da draußen. Es ist noch fast dunkel. Morgengrauen. Ja, das ist das richtige Wort. Grausam, so am Morgen.
Was hilfts, raus aus dem Bett. Die Pflicht ruft. Ich gehe die Treppe hinunter, als die Haustür aufgeht. Mein Mann kommt von der Nachtschicht. Gut gelaunt. Klar! Hat ja Feierabend. Der Duft frischer Brötchen füllt das Haus.
Ich mache mich kurz frisch, ziehe meine Laufsachen an, und wecke meinen Sohn. Auch das ist Morgengrauen. Ein pupertierender 14Jähriger ist nicht unbedingt die Lebensfreude pur, so um Viertel nach Sechs.
Die frischen Brötchen auf dem Tisch grinsen mich an. Während ich zwei davon meinem Sohn mit Wurst und Salat für die Schule belege, beißt sich ein kleiner Schweinehund in meinem Nacken fest: Scheiß aufs Laufen. Knall Dir zwei Brötchen und zwei Tassen Kaffee hinter! Lies Zeitung und dann setz Dich ins Auto und fahr zur Arbeit. Es ist viel zu zeitig zum Laufen. Müde bist Du auch noch.
Nix da! Ich bleibe hart. Trete vor die Tür. Es ist kalt, die Sonne ist noch nicht so richtig aufgegangen. Ich laufe los, ohne Uhr, ohne Garmin. Ich kenne die Strecke, möchte heute nur genießen. Noch sieht es nicht danach aus. Ich laufe vorbei an den Häusern meiner Dorfmitbewohner. Die Autos stehen mit beschlagenen Fensterscheiben unter den Carports. Licht in den Fenstern der Häuser... ich ahne die Besitzer dahinter bei Kaffee, Toast und Zeitung sitzen. Was um alles in der Welt mache ich hier!
Das Ende des Dorfes ist schnell erreicht, jetzt geht es in den Wald. Die Sonne geht auf, im noch östlicheren Osten, Tautropfen spiegeln sich in den Spinnweben, die wie kleine Hängematten in den Gräsern hängen. Es riecht nach Pilzen, Erde, Wald. Kraniche rufen und sammeln sich für den Flug in den Süden. Der Specht klopft und die ersten Vögel beginnen ihr Morgenlied zu singen. Ich spüre den Duft der Freiheit, und zwar jener, die ich mir nehme, um das hier so früh am Morgen zu erleben. Mir geht das Herz über, vor lauter Glück. Ich laufe nicht, ich glaub, ich schwebe. Manchmal bleibe ich stehen, ich muß diese Bilder einfangen. Glücklicherweise habe ich mein Handy dabei. So kann ich Euch nicht nur mit Worten, sondern auch mit Bildern daran teilhaben lassen. Schade nur, daß ich die Düfte, die Geräusche nicht einfangen kann.
Es ist wie ein Märchen. Und doch ist es wirklich. Ich spüre meinen Puls in den Adern, mein Atem erzeugt kleine weiße Wattewölkchen. Es ist wohl immer noch kühl. Aber das spüre ich schon lange nicht mehr. Ohne Uhr, und warscheinlich sogar ohne nennenswerten Trainingseffekt ist dieser Lauf, aber ein Urlaub für die Seele.
Als ich wieder ins Dorf laufe, sind die meisten Autos samt ihren Besitzern schon zur Arbeit gefahren. Welch arme Geschöpfe... Ob sie überhaupt nur ahnen können, wie glücklich solch ein Lauf machen kann? Und wie stark?
Heute kann mir nichts mehr passieren.
Spätsommermorgen
1☼ ☼ ☼
Entscheide Dich. Und wenn Du Dich entschieden hast,
vernichte die Alternativen.
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