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von neunstein
7. Oktober 2006
Wer kennt dieses Gefühl? Es ist vorbei, die Saison hat ihren Abschluss gefunden, das letzte Buch ist definitiv in der Druckerei, lange Monate, lange Woche, lange Tage liegen hinter mir. Morgens um 5 Uhr begann manchmal die Arbeit, abends um 19.00 Uhr wünschte mir unsere gute Seele, Frau Meyer, einen schönen Abend, schüttelte mir dem Kopf und ich hörte noch im Flur „Ooch Herrrrmm...“ Öcher Platt in Reinkultur...
Der Druck ist schlagartig weg, es gibt keine Termine mehr, es gibt keine Druckerei, die Druck macht, es gibt keine Kunden mehr, die ihre Anzeigenvorlagen nicht liefern können oder wollen. Auch in diesem Jahr haben wir wieder alle Bücher zum Termin fertig bekommen, auch in diesem Jahr werden wieder etwa 400.000 Bücher ihren Weg in die Poststellen und in die Briefkästen finden. Und wieder wird fast jeder wie selbstverständlich sein neues Telefonbuch in den Hand nehmen und keiner wird daran denken, wie viele Stunden Arbeit darin stecken, wie viel Ärger, wie viel Stress, aber auch wie viel Liebe und wie viel Engagement von meinem kleinen Team aufgebracht wurde...
So ist es halt in diesem Job und es wird sich nie ändern. Also was soll’s. Es ist Freitag und ich habe eben die Freigabe für die letzten Seiten erteilt – und da wartet es wieder, das ganz große Loch. Schlagartig werde ich müde, die vielen, vielen fehlenden Stunden Schlaf kriechen hinauf, ich kann mich nicht mehr konzentrieren – ich will nur noch weg, weg aus meinem Büro, weg von meinem PC, weg von meinem Telefon, weg aus Aachen. Und so mache ich mich um 15.00 Uhr aus den Weg nach Hankenberge, Freitagnachmittag auf der Bahn durch das Ruhrgebiet, Verkehr ohne Ende und mein Alfa läuft wie auf Scheinen. Ich glaube wirklich, dass er inzwischen den Weg auch ohne mich finden würde. Bis, ja bis ich tatsächlich im Stau vor dem Kreuz Münster Süd einschlafe und mich der LKW hinter mir unmissverständlich wecken muss...
Jetzt ist es Samstagabend, 23.30 Uhr und ich sitze ich meinem alten Arbeitszimmer an meinem Schreibtisch – und ich weiß nicht, ob die beiden Beine, die da unten sind, mir gehören. Wie? Wieso? Weshalb? Eine gute Frage...
Das Wochenende sollte sehr ruhig werden, eben zum Friseur, eben den Elektroschrott wegbringen, eben ein wenig walken – wenn denn das Wetter mitspielt. Und es spielte mit. Heute Morgen hat es geschüttet was vom Himmel wollte, es war kalt und verdammt ungemütlich, aber heute Nachmittag sah es schon ganz anders aus – der Wind trieb die Wolken über den Himmel und die Sonne schien. Zeit, auf die Strecke zu gehen...
Ich habe schon lange, sehr lange, davon geträumt, mal wieder meine alte Strecke von Hankenberge nach Bad Iburg über die Waldchaussee unter die Füße zu nehmen. Damals, vor einigen Jahren, war dies meine Lieblingsstrecke, quer durch den Wald, etwa 18 Kilometer lang, mit unendlich langen Anstiegen und ebenso langen Bergab-Passagen. Ellen wollte gern mitkommen – und damit begannen die Probleme :-) aber dazu später mehr...
Also, wie damals habe ich mich auf den Weg nach Iburg gemacht, den Alfa an der Wassertretstelle abgestellt und los ging es. Himmel, waren die Steigungen schon damals so steil? Es geht bergauf wie nichts Gutes und das Schlimme daran ist, dass nach jeder Kurve die Steigung noch ein wenig anzieht, es gibt absolut keine kleine Strecke, wo man sich ein wenig erholen könnte, die kommt erst nach guten fünf Kilometern an der Georgshütte und dem „Bergabbaum“. Dazu ist die Waldchaussee nass und glitschig wie ein Stück Seife in der Dusche. Die Stöcke bringen kaum Unterstützung, im Gegenteil, sie sind eher hinderlich – und wie damals, als ich die Strecke gelaufen bin, habe ich sie verflucht – und genossen. Durch die Blätter der Bäume scheint die Sonne, rechts und links blühen die letzten Blumen des Jahres und es tut verdammt gut wieder hier zu sein, hier, wo ich jeden Baum mit Namen kenne, wo ich so viele Kilometer gemacht habe, wo ich geträumt habe, wo ich mir Frust, Ärger und Ängste von der Seele laufen konnte...
So geht es weiter, schnell, sehr schnell für meine Verhältnisse. Es ist wenig los, ein paar Fahrradfahrer begegnen mir und ein paar Läufer – und, was soll ich sagen, ALLE habe sie mich gegrüßt - so wie ich sie. Keiner hat gelacht oder eine dumme Bemerkung gemach wegen der „Gehhilfe“ für den älteren Herrn.
Nach einer guten Stunde war ich dann an der Georgshütte, einem schönen Platz mitten im Wald, der im letzten Jahr von einem Wanderverein liebevoll restauriert wurde. Noch ein paar Meter und der „Bergabbaum“ kommt in Sichtweite. Danach geht es lange Zeit bergab und so langsam wird es Zeit, Ellen anzurufen damit sie losfahren kann. Wir wollten uns auf der Chaussee treffen und zusammen zurück nach Iburg walken – nur, es ging niemand ans Telefon. Und dabei wäre es so dringend nötig gewesen. Irgendwo auf der Strecke hatte sich die Kontaktlinse in meinem rechten Auge verabschiedet und so lief ich halbblind durch den Wald. Ein absolutes Sch... Gefühl, links ist alles klar und deutlich, rechts ist alles verschwommen und besteht nur noch aus verschiedenen Grüntönen. Tja, ich kann Ellen nicht erreichen. Was tun? So kann ich nicht weiter, so kann ich nicht Autofahren. Also kehrt Marsch und ab nach Hause, links geht es quer durch den Wald auf dem engen Weg zurück nach Hankenberge. Und so bin ich wieder auf der Strecke von damals, vorbei an der „Villa Kunterbunt“, einem Bauernhaus in der Pampa mit grünen Fensterläden und bunten Fahnen auf den Klettergerüsten.
Zuhause merke ich dann, dass Ellen unterwegs sein muss, der Nissan steht nicht in der Garage und die Stöckchen fehlen auch. Also schnell einen Zug aus Wasserflasche und die Brille geholt und zurück geht es. Quer durch die Felder in Hankenberge ist es kein besonderes Vergnügen zu walken. Der Wind reißt einem fast die Stöcke aus den Händen und dann beim „Beißer“ (benannt nach einer kleinen Katze, die vor vielen Jahren dort wohnte und für die es nichts schöneres gab, als auf dem Rücken zu liegen, sich streicheln zu lassen und in den nächstbesten Daumen zu beißen – nicht wirklich zu beißen, eher zu zwicken) wurde es heftig, Gegenwind, dazu diese Steigung um die 15 % und vor mir ein Traktor, dessen Motor aus einem Gemisch von Rohöl und Biogas betrieben wurde. Jeder Atemzug schmerzte mehr als bei der ersten Camel Ohne am frühen Morgen.
Endlich bin ich wieder im Wald, jetzt habe ich so gute 10 Kilometer in den Beinen und vor mir liegt der Anstieg bis zum „Bergabbaum“. Aber, es gab da doch eine Abkürzung, oder? Links ab und auf dem Waldweg an dem Hochsitz und schönen Lichtung vorbei. Stimmt, der Weg ist noch da – und er ist toll. Bedeckt von Tannennadeln geht es über umgestürzte Bäume weiter bis – ja bis - ich die ersten Schlammlöcher treffe – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Bis zum Knöchel stecke ich der schwarzen Brühe und es gibt kaum eine Möglichkeit auszuweichen. Na, egal, was nass ist wird auch wieder trocken und Lauf- oder Walkingschuhe müssen dreckig sein.
Nach einer weiteren halben Stunde bin ich wieder auf der Waldchaussee und ich kann die Strecke zum ersten Mal wirklich genießen. Der Schritt ist gleichmäßig, über die Technik mache ich mir keine Gedanken mehr und ich werde immer schneller. Ich höre endlich mal wieder ein paar Vogelstimmen, die mir im Sommer doch fehlen. Die ersten Blätter fallen und das Grün wechselt immer mehr zu gelb und vereinzelt schon rot.
Ich fühle mich verdammt gut, auch, wenn die Beine doch langsam schmerzen. Also wird es wieder Zeit, ein wenig zu laufen. Dieses Mal lege ich aber die Stöcke ab und mit einem gemächlichen Schritt laufe ich wieder. Was für eine Wohltat ist es zu traben, es geht bergab und die Beine bewegen sich wie von selbst. Die Luft ist herrlich und ohne groß nachzudenken bin ich schon fast in Bad Iburg – bis sich dann doch der Schmerz im Knie zurückmeldete und sagte „Walken – nicht Laufen“. OK, ich hörte auf ihn und nahm wieder die Stöcke in den Hand.
Kurz vor der Wassertretstelle kam mir dann Ellen entgegen. Nach einigen Diskussionen über den Sinn und Zweck eines Handys und der Erkenntnis, dass Missverständnisse das Leben nicht einfach aber spannend machen geht es zurück zum Parkplatz. Dort angekommen merke ich, wie platt ich bin. Wie viele Kilometer waren es heute? So um die 18 würde ich sagen, es können aber auch ein paar mehr gewesen sein – und es ist mir eigentlich völlig egal. Gute drei Stunden war ich unterwegs, gute drei Stunden habe ich mich bewegt, habe geschwitzt, habe geflucht, habe in Erinnerungen geschwelgt, habe die Ruhe genossen, habe jeden Muskel gespürt, habe gemerkt, wie viel von dem Stress der letzten Monate im Wald geblieben ist, habe gelächelt als ich alte und bekannte Bäume wiedersah...
Jetzt ist es Sonntag, ich bin wieder in Übach-Palenberg gelandet, das Wochenende ist fast vorüber und auch der Lauf/Walk von Gestern wird Erinnerung. Die Beine tun mir weh, vor allem die Waden schmerzen und jeder Schritt die Treppe hinauf in mein Wohnzimmer macht sich bemerkbar. Aber es war eine schöne Tour, eine wunderschöne Tour, ein klein bisschen ein Ausflug in die Vergangenheit als Laufen noch so selbstverständlich war wie das Duschen am Morgen. Ich werde den Weg sicher noch einmal unter die Füße nehmen – als Vorbereitung für meinen ersten Walking-Wettkampf in meinem Leben. Ich werde mich für den OTB Silvesterlauf anmelden, die 10 Kilometer Walkingstrecke soll es sein. So langsam habe ich dann dort alles durch was es gibt. Ich bin die 10 Kilometer gelaufen, die 5,3 Kilometer auch und jetzt werde ich walken. Also, das Ziel ist da und ein wenig Training wird nicht schaden...
Liebe Grüße
Dieter
www.dieter-hoppe.de