Island in the sun
1Es gibt zwei Dinge, die im Sommer in Island völlig sinnlos sind: Taschenlampe und Sonnencreme. Denn obwohl die Sonne nicht untergeht, hält sie sich doch meist bedeckt. Aber diesmal schlägt die Klimakatastrophe erbarmungslos zu. Es ist Mitte August und ich stampfe mit Schutzlosfaktor 100 über staubigen Asphalt und windige Strandwege, völlig einsam auf einer Insel im Atlantik, die dieses Jahr ihren 300.000sten (!) Einwohner begrüßt. 2 Tage vorher. Nach dreieinhalb Stunden, die unsere Tochter fast durchweg verschlafen hat, landen wir in Reykjavik. Das Wetter ist super, zum ersten Mal konnten wir (dokumentar-)filmreife Aufnahmen von Gletschern und Küsten aus dem Flugzeug machen. Im Flughafen bekomme ich Frustbeulen: da sind sie wieder, meine Freunde vom letzten Jahr, die Diabetiker aus Kanada. Ich ahne, daß es auch diesmal sehr deprimierend sein wird, wie eine leichtfüßige Gazelle hinter ihnen herzuschleichen und sich wieder mal zu fragen, wie man soviel Körpermasse so schnell bewegen kann….
Am Gepäckband wartend, wissen wir, daß die Isländer auch diesmal wieder einen Joke für uns auf Lager haben werden. Die Taschen tauchen recht schnell auf, wir sind erstaunt. Dafür warten wir vergebens auf das Fahrgestell für das Babycabriolet. Verzweifelt sehen wir uns schon die Babyschale durch die Gegend schleppen, mit 7 Kilo Baby drin, die uns anstrahlen und anpupsen, aber dadurch auch nicht leichter werden. Dann teilt man uns mit, daß es für sperriges Frachtgut ein extra Ausgabefenster gibt, und, oh Wunder, da steht es, das Fahrgestell.
Diesmal haben wir die babyfreundliche Übernachtung gewählt – statt des Campers eine Ferienwohnung. Der pure Luxus, mit Badewanne und großer Küche. Die Wohnung ist sehr schön eingerichtet, nur die privaten Fotos und das Kruzifix über dem Bett störenein wenig, aber schließlich sind wir ja nicht zum Vergnügen hier. Nachdem der Kühlschrank gefüllt ist, machen wir etwas völlig Abartiges: wir grillen auf dem Balkon und beobachten die Nachbarn in den anderen Häusern. Wir sind angekommen.
Am nächsten Tag taufen wir unsere Tochter mit Thermalwasser in der Blauen Lagune und sehen uns in der Innenstadt die Vorbereitungen zum Lauf an. Per Stadtplan finden wir recht schnell die Startnummernausgabe, nur da ist niemand. Wir stehen vor verschlossenen Türen. Der Zettel an der Tür hilft uns nicht weiter, so gut ist unser Isländisch nicht. Zum Glück gibt es noch mehr fehlinformierte Läufer, die uns inrudimentärem Englisch erklären, wo wir hin müssen. Als ich meine Unterlagen in der Hand halte, beginnt es wieder, dieses kribbelnde Lampenfieber. Morgen wird sich entscheiden, ob 4 Monate nach der Entbindung schon ein Marathon drin ist. Wir beschließen den Abend mit einer Domino-Pizza, der Marke unseres Vertrauens.
Am nächsten Morgen muß alles schnell gehen. Um 5 Uhr ist die Nacht vorbei. Nach einem schnellen Frühstück ist erstmal das Kind dran. Meine aufgeweckte Tochter strahlt mich an: Aaah, die Milchbar! Während unser kleiner Racker, gewickelt und gestillt, vor sich hin schlummert, stürze ich mich in die Vorbereitungen. Diesmal bin ich ganz mutig, und lasse Tape und Stilleinlagen weg, dafür mache ich den Brustgurt enger und hoffe, daß dank der letzten Ölung nichts scheuern wird. Die Zeit wird langsam knapp, wir müssen noch 20 Minuten Autofahrt einplanen. Unsere sonst so saugstarke Tochter bummelt beim zweiten Frühstück und ich werde langsam unruhig.
15 Minuten vor 10 Uhr sind wir in der Innenstadt. Auf dem Weg dorthin kommen wir an der Laufstrecke vorbei. Komisch, da laufen ja schon welche. Na, wahrscheinlich machen die sich warm oder es sind die Very Impotent Persons, die vor der Freizeitmasse starten dürfen. Die letzten Meter trabe ich zum Start und ordne mich etwa mittig in den Läuferpulk ein. Erstaunlich: es gibt doch tatsächlich Leute, die laufen einen Marathon im Jogginganzug! 10 Uhr, nichts passiert. Na, denke ich, auch mit der Zeit nehmen es die Isländer nicht so genau. Um 10.15 Uhr geht’s los. Ich wende meinen Laufplan vom letzten Jahr an und beginne mit 10,5 km/h, die ich alle 7 Kilometer um einen halben km/h steigern will. Merkwürdig, die anderen laufen ziemlich schnell los. Mensch Leute, ihr habt noch über 40 Kilometer vor euch!
Kurz hinter dem Start ist noch viel los, die Leute stehen vor ihren Häusern und klatschen Beifall. Eine Zuschauerin hat eine Püppi mit großen Kulleraugen auf dem Arm – die könnte fast so alt sein wie unsere! Jetzt bloß nicht sentimental werden. Bei Kilometer 9 sehe ich dann unsere Püppi am Straßenrand, mein Coach ruft mir zu, daß die Marathonläufer bereits um 9 Uhr gestartet sind. Ich zeige ihm einen Vogel. Das ist nicht witzig! Das Wetter meint es gut mit uns, kaum Wind, kein Regen. Bei Kilometer 11 leichtes Aufstoßen: aha, da sind sie wieder, meine Magenprobleme. Ich versuche, tief und entspannt zu atmen und nicht in der Körperhaltung zu verkrampfen. Bei Kilometer 15 pressiert es mich und ich suche mir ein stilles Örtchen. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Arbeitern des Containerhafens entschuldigen, die den Anblick meiner blanken Kehrseite ertragen mußten….
Ab Kilometer 20 trennt sich die Marathon- von der Halbmarathonstrecke. Theoretisch müßten jetzt alle nach links abbiegen, da die Halbmarathonis erst 75 Minuten nach den Marathonis auf die Strecke gehen. Praktisch bin ich die Einzige, die hier abbiegt. Auf einmal bin ich mutterseelenallein, weit und breit kein anderer Läufer oder Streckenposten in Sicht. An jeder Kreuzung hoppele ich zwischen den Autos hindurch, mir wird Angst und Bange und ich ärgere mich, daß hier wieder mal am falschen Ende gespart wurde. Freude, als der nächste Verpflegungspunkt in Sicht kommt. Aber da ist niemand, unterm Tisch stehen leere Getränkekanister. Langsam kommen mir Zweifel.
An dieser Stelle sollte ich jetzt beschreiben, wie ich schweißgebadet aus diesem Alptraum aufwache. Doch das hier ist kein Alptraum, ich bin wach und es ist die knallharte Realität. Bei Kilometer 21 sehe ich die Matten für die Zeitmessung. Wenn diejetzt auch noch abgeschaltet sind, dann schmeiße ich mich auf den Boden und werde hemmungslos weinen! Zum Glück höre ich das vertraute Piepen und schöpfe etwas Hoffnung.
Kurz danach werde ich von einem Auto verfolgt. Auch das noch! Ist das schon der Besenwagen? Nein, es ist ein netter Herr vom Organisationsteam, der mich anhält und mit dem ich einen knappen Smalltalk auf Englisch halte. Ob ich am Marathonteilnehme? Wonach sieht das, was ich hier mache, denn aus? Sie wüßten garnicht, daß es mich gibt. Tja, das geht ca. 6,6 Milliarden Menschen auf dieser Welt genauso. Ich müßte damit rechnen, daß nicht mehr alle Verpflegungspunkte besetzt seien. War mir auch schon aufgefallen. Außerdem fährt hinter dem letzten Läufer ein Streckenposten auf dem Fahrrad. Und den hatte ich dann auch prompt 5 Minuten später am Hacken.
Während sich mein persönlicher Betreuer an den Kreuzungen immer todesmutig vor die Autos warf, dachte ich darüber nach, was schiefgelaufen war und ob es noch sinnvoll ist, weiterzulaufen. Ich war also pünktlich mit den Halbmarathonis gestartet. Wenn ich aber alle Zeitmeßpunkte auf der Marathonstrecke absolviere, müßte ich doch trotzdem gewertet werden. Außerdem zählt dank Champion Chip nur die Nettozeit. Okay, ich würde der Letzte im Ziel sein, verfolgt vom Besenfahrrad. Aber da ich die 47,- € Startgeld nun mal bezahlt hatte, wollte ich auch einen ganzen Marathon dafür haben. Bei Kilometer 26 hole ich dann die letzte Läuferin vom Marathon ein und vererbe ihr das Besenfahrrad.
Das folgende muntere Leuteeinsammeln könnte richtig Spaß machen, wenn nicht mein Magen wieder fleißig krampfen würde. Ich kriege kaum noch Luft, mir ist schlecht und ich werde langsam, sehr langsam. Ab Kilometer 30 zollt mein rechtes Knie den falschen Schuhen, der langen Laufzeit und dem Wind Tribut und fängt an, zu schmerzen. Das hatte ich noch nie vorher. Sobald ich gehe, wird der Schmerz stärker. Also muß ich laufen, laufen, laufen. Beim Blick auf die Uhr erschrecke ich, jetzt wird’s aber Zeit, unsere Kleene wartet und hat bestimmt schon Hunger. Das Muttertier in mir treibt mich ins Ziel, kurz davor steht der nette Herr vom Organisationsteam an der Strecke und fragt, ob ich mit den Halbmarathonis gestartet bin. Ich habe nicht ganz so lange für diese Erkenntnis gebraucht.
Freude im Ziel. Zu spät gestartet, bin ich trotzdem nicht Letzter geworden! Die Zeit ist miserabel: 4 Stunden und 20 Minuten, wie peinlich. Ich bin fix und alle, lasse mir die Medaille um den Hals hängen, nehme eine Banane und Wasser, knutsche meine beiden Süßen und möchte nur noch eins: zurück in die Ferienwohnung. Ich genießedas warme Bad mit Arnikaöl in der Wanne, esse eine Riesenportion Nudeln und biete unserem Kind Milchshake an. Beim Blick in den Spiegel muß ich lachen: alles knallrot, nur dort, wo Sonnenbrille und Stirnband waren, weiße Flecken. Ich sehe aus wie ein Brillenpinguin in Farbe und laufe auch so. Tja, wer hätte das gedacht, daß man doch Sonnencreme braucht in Island!
PS.: Die falsche Startzeit hatte mir das Reisebüro mitgeteilt. Die hatten auch die Marathonanmeldung für mich übernommen. Dummerweise hatte ich vorher nicht noch einmal ins Internet geguckt. Zwei Wochen später sorgten sie dafür, daß mein Ergebnis in die Marathonliste übernommen wurde undüberwiesen mir das Startgeld….
Renn-Schnecke
... von 2 auf 100 in 11 Jahren ...
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