Um 6 Uhr fuhr der Zug, gegen 8:40 war ich vor Ort. Nachmelden, Umziehen und dann die endlose Frage: Wettkampfschlappen oder Sofas. Habe mich mit drei anderen Läufern ausgetauscht, die mir dringend zu Sofas rieten „Du musst wissen, was Dir wichtiger ist: Marburg oder Mainz – wenn Du heute alles gibst, kannst Du Bestzeiten in Mainz vergessen, mit dem Cumulus bremst Du Dich wenigstens selbst.“ Gesagt getan und dann stand ich kurz vor 10:00 beim Start und war hektisch mit meiner Polar beschäftigt (werte halt zu gern Daten nach dem Lauf aus): OK, kurz vorm Ultra war ich aufgeregt, aber HF 219? Die 0 danach konnte ich ebenso wenig glauben, oder war ich schon vor dem Ultra tot? Oder zu Cool? Oder doch nur alles ein Traum? Immerhin waren nach dem Loslaufen die Werte glaubhaft.
Es ging los – mein 4. Wettkampf überhaupt (5,6 km Chase-Lauf, zwei HMs und nun schon ein Ultra?) begann. 474 Läufer trabten am Landschulheim Steinmühle in den frischen Morgen auf einen 10km Rundkurs, der für mich fünfmal zu durchlaufen war. Ich wollte das Rennen mit einer 5er Pace angehen und irgendwo bei 4:15 landen – so der Plan.
Die ersten 5 km in 5:19 (übliche Startknubbeleien, hatte mich relativ weit hinten einsortiert und es gab so viele HM-Läufer, zudem kam uns auf dem Feldweg ein Traktor entgegen) – 5:04 – 5:01 – 4:58 – 4:56 – (25:18 für die ersten 5 km) passt schon. Kurze Zeit lief ich mit einem M-Läufer zusammen, der die 3:30 anstrebte und dann Gas gab, dann recht lange mit einem Ultra-Läufer, der in Marburg letztes Jahr einen 100er lief (zehnmal die 10 km Runde – auf dieser absolut unspektakulären Strecke – Respekt!), zunächst liefen wir recht synchron, bis er beschloss die 4 Stunden zu knacken und abzog. Für km 6-10 brauchte ich 24:24 und schaffte die erste 10er Runde von fünf. Lupert schrieb im Marburg-Thread, dass die Strecke windanfällig sein könnte – sie war es! Auf freiem Feld jeweils zwischen km 2 und 5 stand der Wind dermaßen von vorn – gefühlte Windstärke 12, Spaß ist etwas anderes.
Km 11 – 15 gingen unspektakulär mit 24:31 vorüber. Keine tollen Zeiten, aber ich wollte ja nur einen Trainingslauf machen (OK, ich bin ehrlich, die 4 Stunden zu knacken wären schon toll gewesen, ich zog auch erst mit dem anderen Ultra-Läufer zwei/drei km auf sub 4 Kurs mit, hatte aber immer die Stimmen der Läufer aus der Turnhalle im Ohr: „Du musst wissen, was Dir wichtiger ist – Marburg oder Mainz“ und habe dann bewusst Tempo raus genommen). Da ich ohnehin im Training war, konnte ich heute viele Dinge einfach mal ausprobieren: z.B. mein Debut-Gel-Chip mit Cola Geschmack (insgesamt warf ich mir vier von den Teilen rein – toll schmecken sie nicht gerade). Km 16-20 in exakt 25:00 min.
Auf der dritten Runde leerte sich spürbar das Feld. Die 239 HM-Läufer waren fast alle weg und es wurde einsam. Zuschauer waren nur im Start-Ziel bereich durch Läuferbegleitungen da. Hatte etwas von einem normalen Trainingslauf. Sich an andere Läufer heransaugen oder gemeinsam zu laufen kam nicht in Frage, vor mir niemand zu sehen. In weiter Entfernung hinter mir zwei, drei Läufer, aber soweit Tempo rausnehmen und die anderen aufschließen lassen – nö, auch doof. Km 21 – 25 in 25:03 min.
Bei km 26 drohte ich mich sogar zu verlaufen - wie kann man eigentlich bei einem Rundkurs, den man schon zweimal lief beim dritten Durchlauf ins Zweifeln geraten, ob man den ansteigenden Weg rechts oder den abfallenden Weg links laufen muß? Vor mir kein Läufer zu sehen, hinter mir in weiter Entfernung wieder die zwei Läufer – anhalten und fragen ist auch blöd, also lief ich links. Die anderen folgten mir, hatte ich sie in die Irre geführt? Nee, an die Unterführung konnte ich mich erinnern, passte schon. Km 26-30 in 25:14 min – immer noch OK.
Ab km 31 ließ meine Lust nach – weiter einsam zog ich meine Runden (in meinem Kopf nistete sich Nena ein „Einsam zog ich meine Runden, hab ´nen Luftballon gefunden“ – nee, da war kein Ballon, den hätte auch der Wind weggeweht (the answer my friend is blowin´ in the wind), außerdem mag ich Nena nicht sonderlich - *grübel* aha! „I wandered lonely as a cloud…“ (Genesis aus der Lamb (Colony of slippermen)) – aber ich war doch noch etwas schneller unterwegs als wandern, also was hat meine Kopfmusikbibliothek noch zu bieten? „Highway to hell“ (kurzes Stück an der Autobahn entlang) - der übliche Langläufergedankenmotivationsbrei halt). Ab km 32 wieder heftiger Gegenwind, das vierte Mal das oede Feld, das erste Mal, dass ich mir einen realen MP3 Player während eines Wettkampfs gewünscht hätte (war aber ohnehin schwer bepackt und hätte in der Tight-Tasche keinen Platz mehr gehabt: 5 Gel Chips und ein Beutel Fishermens (brauche ich immer bei langen Strecken, hält den Mund etwas feuchter und ich bin halt strong), die Beine wurden etwas schwerer – kein Krampf, kein Hammermann, eher gewisse Lustlosigkeit und die Pace fiel ab: km 31 – 35 in 26:31 min, km 36 – 40 in ähnlicher Zeit: 26:40 min.
Dann die schwere, verlockende Entscheidung, sollte ich nach 42,195 km den Lauf beenden, oder mir doch die vollen 50 km geben. Ein Blick zur Polar – die M-Zeit versprach eher enttäuschend zu werden (Sch... Ehrgeiz und das bei einem Trainingslauf! ), wann ich das nächste Mal einen Ultra laufe, weiß ich heute noch nicht, also einmalige (zumindest für 2007) Möglichkeit für eine 50k PB. Zudem: Bezahlt hatte ich für die volle Distanz, jetzt aufhören hätte 5 Euro zuviel bezahlt bedeutet. Also – Geiz ist geil! (ich hasse diese Werbung!) und volle Leistung für mein Geld erhalten äh…. geben. Außerdem hatte ich die Kombi lauwarme ISO mit Cola noch nicht ausprobiert und zwei Gel-Chips waren auch noch in der Tight drin. Also – weiter auf dem Weg zum Ultra-Debut.
Die 42,195 km stoppte ich dann bei 3:33:14 h:min:sec – Mist das wollte ich doch nicht schreiben, mein M-Debut sollte doch Mainz sein... Ehrgeiz hatte ich jetzt absolut nicht mehr und ich beschloss einfach zum Genuss weiterzulaufen. Aber Genuss war es nicht wirklich, die Brücke über die Lahn kam für mich mittlerweile einer Alpenüberquerung gleich. Die Strecke wurde immer langweiliger. Bei den Verpflegungsstationen hielt ich jetzt regelmäßig an und probierte Wasser und erstmalig Cola, ISO durcheinander (bin ja im Training, mal schauen, was mein Magen so verträgt), ging ein paar Schritte und lief locker äh… unlocker wieder an. Km 41-45 in grottigen 27:49, km 46-50 in 27:12.
Unterwegs überholte ich einen großen Walker, der in einem irren Tempo mit weit ausholenden Schritten und kraftvoller Armarbeit seinen Weg machte. Wahnsinn – ich werde nie wieder zweifeln, ob Walking Sport sein kann, wenn er so betrieben wird, dies hatte so gar nichts mit den Walkern zu tun, die ich sonst sehe – großes Kino! Sollte es der sagenhafte Sumowalker gewesen sein?
800 m vor dem Ziel kam mir ein Läufer entgegen (d.h. er lief nicht mehr, sondern schob nach dem Lauf einen Kinderwagen) – ich meinte ihn zu erkennen. „Laufen-aktuell?“ rief ich. „Bist Du Lupert?“ – er war es. Er drehte den Kinderwagen um und lief mit mir kinderwagenschiebenderweise bis kurz vors Ziel, während wir noch ein wenig plauderten und ich ihm zu seiner tollen Leistung über die M-Distanz gratulieren konnte. Ich hatte zwischenzeitlich auch wieder Lust und Energie gefunden und lief den letzten km mit 4:40. Im Triumph überquerte ich die Ziellinie – mein erster Ultra, noch vor meinem ersten Marathon! Die Uhr stoppte bei 4:18:51.
Mein lockeres Ziel von unter 4:15 zwar nicht ganz erreicht, aber ich bin trotzdem sehr zufrieden. Insgesamt Platz 22 (von 69 Ultraläufern), in der AK M40 Platz 7 (von 14 - in der HKM wäre ich erster gewesen, warum sind wir mittelalten Säcke um die 40/45 nur so schnell und zahlreich unterwegs?) als Trainingslauf aber recht ordentlich und vor allem: Vernunft siegte über meinen Ehrgeiz.
Learnings/Fazit:
- 50 km sind ziemlich weit!
- 42 km durchzuhalten sind drin!
- Gegenwind ist Mist!
- Marburg hat eine mittelprächtig langweilige Strecke!
- Aber auch eine Super-Organisation (Danke an die Helfer!)
- Keine Schmerzen oder Muskelkater und am nächsten Tag wieder Lust zu laufen (habe es aber trotzdem nicht getan – ein Tag Pause muß sein, Montag wieder trainieren reicht auch – Nachtrag: 10 km Montag morgen in gemütlichen GA1 Tempo liefen recht gut)
- Mein Körper verträgt Gel-Chips, ISO, Cola, suboptimales Carboloading durcheinander und kann fast aus dem Stand heraus (nach 4 Stunden Schlaf) einen kleineren Ultra laufen (im Juli 2006 war ich noch im Zweifel, ob ich eine gewaltige HM-Distanz überhaupt laufen sollte und könnte – die langen Läufe und Umfänge im Training scheinen Wirkung gezeigt zu haben)
- In Mainz werde ich keine Sofas an den Füßen tragen
- Ich bin süchtig nach dem nächsten Wettkampf – vielleicht sollte ich mal etwas total Exotisches machen – evtl. so einen kurzen 10er (wäre auch eine Debut-PB)?
- Bin auch süchtig nach laufen-aktuell und gespannt auf die Berlin-HM, die Freiburg-M und Neustadt-M Berichte (Danke Tim! )
- Ich bin jetzt offiziell ein Ultra-Debut-Überdistanz-Marathon-im-Wettkampf-Trainings-Läufer