
Sonntagmorgen, 5 Uhr. Es sieht nicht gut aus. Unser Sitzzwerg muß nachts zweimal getröstet werden und weint schon wieder. Eigentlich möchte ich jetzt einfach nur hier liegen, noch quälen mich weder Rotz, noch Husten, noch das schlechte Gewissen. Wie auf Kommando schlafen wir alle wieder ein. Eine Stunde später holen uns die neuesten Nachrichten endgültig aus dem Bett.
Schon in der Tür zum Kinderzimmer rieche ich das Malheur. Seit Monaten geht unsere Tochter mit Begeisterung auf ihren roten Thron und schont zur Freude ihrer Eltern die Windeln, aber diesmal ist es Dünnpfiff und da gibt's auch für den standhaftesten Töpfchengeher kein Halten mehr. Der Bauch kneift und unser Kind beschwert sich lautstark darüber. Das kann ja heiter werden, denke ich und stelle fest, daß meine Erkältung zwar schon im Abklingen, aber eben noch nicht weg ist. Beim Zähneputzen muß ich entscheiden, wie der Tag ablaufen soll. Kein Marathon, zu Hause bleiben, Kind und Erkältung pflegen? Allein zum Marathon, Papi mit weinendem, genervten Kind zu Hause lassen? Oder doch zusammen zum Marathon fahren und hoffen, daß es Kind wieder besser geht? Variante 1 - da schmerzen die 30,- € Startgeld und der Verzicht auf einen schönen Landschaftsmarathon. Variante 2 - wäre gemein und für keinen von uns dreien gut. Also bleibt nur, sich fertigzumachen und loszufahren - nicht optimal, aber optimistisch.
Wir haben anderthalb Stunden Autofahrt vor uns, aber zum Glück scheinen alle noch zu schlafen, die Straßen sind schön leer. Ich gehe im Geiste nochmal die Ausrüstung durch, füttere unsere Tochter und wir schlafen anschließend beide ein. Bereits eine Stunde später werde ich wach, weil das Auto steht und mein Coach am Ortseingang von Burg im Spreewald einen Polizisten nach den besten Parkmöglichkeiten befragt. Es ist alles perfekt organisiert, wir finden sofort einen Parkplatz auf einer abgesperrten Wiese und ich rolle aus dem Auto. Mann, ist das kalt! Ich ziehe mir 2 Jacken an und laufe mich schon mal zur Startnummernausgabe warm. Der Liter Tee zum Frühstück fordert seinen Tribut und treibt mich zu den langen Schlangen vorm WC-Häuschen. Beim Anstehen tausche ich meinen Champion-Chip gegen den Veranstalter-Chip am Schuh, pinne die Startnummer an und wage es, die erste Jacke auszuziehen. Die drücke ich zusammen mit den Unterlagen meinem gerade angekommenen Coach in die Hand. Wir beschließen endgültig, die Idee mit der 15-km-Wanderung durch den Spreewald für Papi und Tochter fallen zu lassen. Stattdessen gibt's die übliche Zeitvertreibung für mein Team - Sightseeing and For-Mom-Waiting with Finish-Area-Checking.
Im Startbereich sammeln sich bereits die Läufer, obwohl noch einige Skater ins Ziel trudeln, die von den Läufern mit Begeisterung begrüßt werden. Ich sehe mich nach den anderen Foris um, kann aber keinen entdecken. Es ist ziemlich voll, da 10-km-, Halbmarathon- und Marathonläufer gleichzeitig starten. Mit zehnminütiger Verspätung fällt dann der Schuß und es geht los. Auf der zweispurigen Straße ist genug Platz, um zu überholen und sich in sein Lauftempo einzuordnen. Das Wetter ist perfekt - die Sonne scheint, es ist kühl und es geht ein leichter Wind. Ich überlege, ob ich meine Standard-Renneinteilung durchziehen soll, entscheide mich dann aber, frei nach HF zu laufen. Plötzlich fällt mir ein, daß ich das Taschentuch vergessen habe und sofort fängt die Nase an, zu laufen. Was nun, soll ich einen von den Mitläufern fragen:"'tschuldigung, haste ma nen Taschentuch?" Aber wer schleppt schon eine Packung Taschentücher mit und wenn doch, dann hebt er sich's als eiserne Reserve für eine spontane Sitzung im Wald auf. So laufe ich einfach weiter, genieße die Landschaft - weite Wiesen mit Löwenzahn und Tausendschön, umrahmt von Weidenbäumen und Kanälen - und der Wind weht die Nase trocken

Die Strecke ist flach wie ein Brett und verläuft abwechselnd auf Straßen und Waldwegen. Nur an den kleinen Brücken, die über die vielen Kanäle gehen, gibt es einen leichten Anstieg. Insgeheim taufe ich den Spreewaldmarathon in Brückenmarathon um. Die Veranstalter haben die Wetterprognose ernstgenommen, alle 3 Kilometer gibt es einen Verpflegungsstand mit Wasser, Zitronenlimonade, Cola, Bananen, Äpfeln, Spreewaldgurken und Kuchen (!). Aber hallo, denke ich, Frau Schmitt wäre hier sicher glücklich! Für mich gibt's nur Wasser, mehr brauche ich nicht. An der Strecke stehen vereinzelt Zuschauer und feuern uns an. Vor einem schönen alten Haus mit klassischem Spreewaldschuppen steht ein Opa und staunt und staunt :eek:. Man kann es von seinem Gesicht ablesen, daß er überhaupt nicht begreift, was die ganzen Leute da vor seinem Gartenzaun machen. Den Kühen nebenan geht's genauso. Vor einem anderen Haus hat sich eine ganze Truppe samt Bierfaß und Spanferkel aufgebaut, die die Läufer mit einladenden Sprüchen vom rechten Weg abbringen will. Und das Panoptikum an der Strecke nimmt kein Ende: einer fidelt sich die Seele aus dem Leib, ein paar Kilometer weiter hat sich im Schatten der Bäume vornehm eine Flöte mit Notenständer niedergelassen, darauf folgt wieder eine Geige, diesmal aber mit klassischer Ausrichtung und als krönender Abschluß erwartet den Läufer noch ein Klarinettensolo im Sonnenschein. Die Streckenmusik paßt wunderbar zur Landschaft und zur ganzen Stimmung. Ich weiche Brummern, Käfern und Libellen aus, es schneit Blütenblätter und ich muß mich zurückhalten, um nicht spontan in einen der Kanäle zu hopsen.
Zwischendurch trennen sich die 10-km-Läufer von den Halb- und Ganzmarathonläufern. Bei Kilometer 18 hat sich das Läuferfeld bereits soweit gelichtet, daß man zeitweise allein auf der Strecke ist. Kurz danach trennt sich auch die Spreu vom Weizen, die Marathonis sind jetzt allein auf der Strecke. Der Übergang zur zweiten Runde ist so geschickt gemacht, daß man ihn kaum bemerkt. Erst als ich wieder an dem Teufelsgeiger vorbeikomme, fällt mir auf, daß ich hier schon mal langgekommen bin. Die Sonne fängt langsam an, zu brennen. Beim Anblick so mancher weißen Wade vor mir muß ich daran denken, daß ich mich vielleicht hätte eincremen sollen

Auf den letzten 10 Kilometern sammle ich nur noch Läufer ein, darunter auch zwei Frauen, sodaß ich die 22. Frau auf der Strecke bin, wie mir ein Helfer am Verpflegungspunkt mitteilt. Das motiviert nochmal zusätzlich und ich laufe, mein Mantra im Kopf, wie eine Maschine in Richtung Ziel. Bei Kilometer 40 überhole ich einen Läufer, der ziemlich k.o. aussieht und geht. Die 2 Kilometer schaffst Du doch auch noch, rufe ich ihm aufmunternd zu, aber er meint, daß er vom Radfahren am Tag zuvor in Lübben noch geschafft ist und nicht mehr kann. Bestimmt gibt es auch Verrückte, die an allen 3 Tagen Wettkämpfe mitgemacht haben, das kann man sich garnicht vorstellen

Hinter mir in der Schlange stehen zwei, die nächstes Wochenende mal eben noch den HH-Marathon mitlaufen wollen



Auf dem Weg zum Auto stellen wir einhellig fest, daß es ein perfekt organisierter, schöner kleiner Marathon in einer Landschaft war, in der man durchaus auch einmal Urlaub machen sollte. Und wer weiß, vielleicht gehören wir nächstes Jahr zu den Verrückten, die an allen 3 Tagen mitmachen. Sowas soll's ja geben ....