Freitagmorgen, der Tag vor dem Rennsteiglauf. Die Kita macht blau, einfach so, weil sich der Freitag zwischen Herrentag und Wochenende nicht lohnt. Deshalb muß das Kind heute auf Marlon, Joline, Angelina, Jamie-Jeremy und den Sandkastensand als Nachtisch verzichten und von Mami und Papi bespaßt werden. Entspannt frühstücken wir, ich habe alle 40 Pflanzen inklusive Tomaten und Radieschen bereits gestern gegossen und auch Anmeldekarte, Chip und Powergel zusammengekramt. Kann also nichts mehr schiefgehen. Argwöhnisch beobachte ich unsere Tochter, ob sie unseren Aufbruch in Richtung Thüringen nicht doch noch durch spontan auftretendes Fieber, Schreien oder Dünnpfiff vereitelt. Doch die ist mit sich und der Welt im Reinen und scheint auch ihre rabiaten Kitagenossen nicht zu vermissen. Ungefähr 80 % des Autos sind mit Kindersachen gefüllt - Jogger, Campingbett, Kinderstühlchen, Töpfchen, Windeln, Tragerucksack, Matratze, Schlafsack, Sandmännchen, Brei, Zwieback, Milch - ich glaube, ich brauche langsam eine Checkliste für unser Kind. Dazwischen drängt sich die Tasche mit unseren bescheidenen Utensilien - Laufsachen und Waschtasche - wie anspruchslos man doch als Eltern wird. Den größten Teil der Fahrt verschlafen wir. Als unser Chauffeur eine Pause und einen Kaffee braucht, nutze ich die Gelegenheit, Mademoiselle auf ihr Töpfchen zu setzen. Bloß wo soll die Sitzung stattfinden? So ganz im Freien, auf einem öffentlichen Rastplatz? Kurzerhand kommt der Topf auf den Fahrersitz und unsere Tochter findet es ganz toll, auch mal das Steuer in der Hand zu haben. Als ich ihr auch noch die Hupe zeige, ist sie kaum noch zu bremsen. Zwei Stunden später haben wir Schmiedefeld erreicht. Nein, nicht DAS Schmiedefeld, sondern jenes, das wir knapp 9 Kilometer vor Neuhaus durchfahren. Und alle Jahre wieder die gleichen, wirklich lustigen Sprüche von meinem Coach

. Gegen 16.00 Uhr sind wir endlich im Hotel in Neuhaus und angenehm über unsere Unterkunft überrascht. Ein riesiges Zimmer mit Doppel- und Einzelbett, genug Platz für unsere Tochter und ruhig gelegen. Nachdem wir dort eingezogen sind, rufe ich erstmal Walter alias Viermärker an, um einen Treffpunkt auszumachen. Doch Walter ist noch unterwegs, mußte sich durch Staus kämpfen und wird frühestens in einer halben Stunde in Neuhaus sein. Also schnappen wir uns unseren Nachwuchs und fahren zur Gutsmuths-Sporthalle. Die "alte" Startnummernausgabe ist wegen Sturmschäden geschlossen, deshalb wurde kurzerhand eine andere Turnhalle umfunktioniert. Die Gutsmuthshalle selbst sehen wir diesmal nur von außen, keine Zeit für echte Thüringer Klöße und Souvenirs. Vor der Startnummernausgabe treffen wir dann Walter, der mit seinen 1,98 Metern und weißem Hemd nicht zu übersehen ist. Zusammen brechen wir auf zum Foritreffen in Schmiedefeld. Im Hotel Gastinger sitzen bereits einige LA-ler bei Apfelschorle und Bier

, selbst Tati und Ishimori, die den langen Kanten laufen, sind gekommen. Das Restaurant hat extra zum Rennsteiglauf kleine Kärtchen mit guten Wünschen für die Läufer und eine spezielle Rennsteiglaufspeisekarte aufgefahren. Natürlich sind auch echte Thüringer Klöße und Nudeln dabei. Nach dem Essen wird noch geklönt, Prognosen und Wettervorhersagen werden abgegeben und widerrufen. Um die Spannung noch etwas zu steigern, gebe ich eine Reliefkarte vom Rennsteiglauf in die Runde. Da kann man die Berge schon mal spüren, bevor man sie morgen zu spüren bekommt. Außer der Karte habe ich noch meine Urkunden aus den Jahren 89 und 90 mit, zwei winzige, numerierte Karten, ohne Zeit und Plazierung, die mir lediglich die Teilnahme bestätigen. Auf der Vorderseite ist eine witzige Collage des Herrn Gutsmuths als Läufer mit Stirnband zu sehen, daneben das Datum, 19. Mai 1989, die Uhrzeit, 9.00 Uhr und die Strecken, 45 und 65 Kilometer. Bis auf die Strecken hat sich in 18 Jahren nichts geändert. Oder doch

? Gegen 20.30 Uhr fahren wir zur Zielwiese und finden sogar noch einen Parkplatz, auf dem wir unser Auto für den morgigen Tag bereitstellen können. Walter nimmt uns mit zurück nach Neuhaus. Um 22.00 Uhr schnarcht es bereits links und rechts von mir, irgendwie bin ich überhaupt nicht aufgeregt, ich reihe mich in das Schnarchkonzert ein und werde erst gegen 6.00 Uhr durch das Brabbeln unserer Tochter wach. Eine halbe Stunde später sitzen wir beim Frühstück. Das gibt es im Herrenberger Hof am Rennsteiglaufsamstag immer schon ab 5.30 Uhr. Diesmal bin ich vorsichtig, esse nur zwei Brötchen mit Honig und eine Banane, um dem Magen keinen Anlaß zu geben, zu grimmen. Knapp einen halben Liter grünen Tee gönne ich mir, auf Milch, Saft oder Joghurt verzichte ich. Die Frage meines Coaches, ob ich ein Frühstücksei möchte, empfinde ich schon fast als schwerverdauliche Drohung

. Nach dem Frühstück machen wir uns fertig: Papi kümmert sich um Kind und Fotoausrüstung, ich mich um meine Laufutensilien. Darüber vergeht eine Stunde und ich werde langsam unruhig. 15 Minuten vor dem Start stehe ich endlich im Startblock, dehne, klatsche mit den anderen zum Takt der Blasmusik und versuche, das Lampenfieber zu unterdrücken. Dann schießt Frau Landrätin pünktlich um 9.00 Uhr und johlend setzt sich das Läuferfeld in Bewegung. Auf dem ersten steilen Anstieg analysiere ich meine Tagesform. Es läuft nicht so richtig, da rächen sich das wenige Training und die Erkältung, die ich 4 Wochen mit mir rumgeschleppt habe. Zum Bergtraining bin ich auch nicht gekommen, hatte einfach keine Lust, den Babyjogger auf die Hügel an meiner Laufstrecke zu schieben. Das kann ja heiter werden, denke ich. Und es wird heiter. Noch bevor wir aus Neuhaus rauslaufen, sehe ich vor mir einen Läufer mit einem Schild, auf dem "Sohn" steht. Was soll uns das sagen? Dann schließt der Sohn auf eine Läuferin mit dem Schild "Tochter" auf. Aha, wir kommen der Sache schon näher. Dann sehe ich auch den "Papa", der seit 1977 hier mitläuft. Ich frage ihn, wo denn die Enkel sind. Da lacht er nur und meint, die laufen auch, aber uns entgegen. Darüber muß ich erstmal nachdenken. Und schon geht es abwärts, auf 730 HM. Ich habe mein Tempo gefunden, sehe mir den Wald an, höre meine Musik und versuche, unauffällig zu überholen. Dann kommt der erste Berg, ich muß mich fast auf das Niveau von Neuhaus hocharbeiten, um am Dreistromstein meinen ersten Becher Tee trinken zu können. Auf dem Weg dorthin laufe ich an Laufmaus Elke vorbei, doch sie redet nicht gern beim Laufen und so ziehe ich weiter. Etwas später treffe ich dann auf Jörg, Marienkäfer und Rohar. Hätte mich Jörg nicht gerufen, wäre ich glatt an ihnen vorbeigelaufen. Am Verpflegungspunkt verabschiede ich mich, denn jetzt geht's leicht abwärts und das will ich ausnutzen. Lange kann ich es nicht rollen lassen. Den Aufstieg zur Turmbaude Masserberg nehme ich im Laufschritt, das Wetter ist (noch) angenehm, mir geht es super. Auf dem Masserberg nehme ich wieder Tee und Wasser, das scheint meinem Magen gut zu bekommen. Meine verbesserte Atemtechnik trägt sicher auch dazu bei. Die Hälfte der Strecke ist geschafft. Vier Anstiege habe ich laufend hinter mir gelassen, aber das dicke Ende kommt noch. Ich schaue auf die Uhr und kriege einen Schreck - 1:50 - das kann nicht sein! Dann fällt mir ein, daß ich 2005 eine ähnliche Zeit hatte und daß das überhaupt nichts über die Endzeit aussagt. Denn die dicken Brocken kommen noch. Aber ich rechne mir trotzdem die Zeit schön und hoffe insgeheim, meine alte Zeit von vor zwei Jahren wieder zu schaffen. Plötzlich stürzt neben mir eine Läuferin, rappelt sich aber gleich wieder auf und läuft weiter. Ich frage sie, ob alles in Ordnung ist und ob sie ein Pflaster braucht. Ihr Hände und ein Arm sehen nicht gut aus, sofort leide ich mit ihr. Aber sie ist hart im Nehmen, wir kommen ins Gespräch und sie erzählt mir, daß sie vielleicht ein- bis zweimal pro Woche läuft und ab und zu mal den Rennsteig mitmacht. Da hört sich meine Laufgeschichte für sie schon sehr beeindruckend an. An der Getränkestelle Schwalbenhauptwiese rate ich ihr, den Schmutz von den Händen mit Wasser abzuspülen, aber der ist hartnäckig. Zusammen nehmen wir den nächsten Berg in Angriff. Und auf einmal habe ich einen Hasen. Kathi zieht mich die Berge hoch, ich hefte mich an ihre Fersen, muß insgeheim grinsen, da ich mir Hasen immer mit einem Püschel vorgestellt habe. Bergab versuche ich, sie mitzuziehen, sie soll es einfach rollen lassen, sich erholen. Das klappt ganz gut und so helfen wir uns gegenseitig. In Neustadt wundern wir uns über die komische Streckenführung um die Kirche des Ortes herum, daran kann ich mich nicht erinnern. Am Verpflegungspunkt Neustadt wartet bereits Kathis Mann und läuft ein Stück mit uns mit. Wir schnappen uns jeder noch ein Powergel, das hier kostenlos verteilt wird und reichlich Getränke. Auf der Wiese bei Kilometer 31 verabschiedet sich mein Fußpod, ich weiß jetzt nicht mehr, wie schnell ich laufe - und das ist gut so. Den nächsten Berg kann ich mit meinem Hasen noch mithalten, danach ist die Luft raus. Kathi läuft den nächsten Anstieg hoch, dreht sich nochmal nach mir um und verabschiedet sich

. Gut so, sie soll ihr Tempo weiterlaufen. Ich bin froh, daß sie mich lahme Flachland-Schnecke über die ärgsten Berge gezogen hat. Vielleicht finde ich meinen Hasen im Ziel wieder. Vor dem nächsten Berg nehme ich ein Powergel, hoffe darauf, daß ich wieder ein bißchen mehr Kraft habe. Aber mehr als ein gemäßigter Wanderschritt ist nicht drin. Die Sonne brennt und ich habe Durst, richtig Durst. Auf dem Dreiherrenstein gönne ich mir Tee und zwei Becher Wasser, egal, was der Magen dazu meint. Der ist bisher ruhig geblieben, aber ich traue dem Frieden nicht. Ab Kilometer 35 wird jeder Kilometer groß angezeigt, wie gemein. Selbst bergab ist jetzt nicht mehr viel Erholung drin, mein Hintern schmerzt und ich muß ziemlich aufpassen, nicht zu stolpern. Dann endlich Frauenwald! Nur noch 5,5 Kilometer, ich schütte Wasser in mich rein, nehme Anlauf für die letzte Etappe. Jetzt geht's nur noch abwärts. Ich fliege bergab und genieße nochmal die Landschaft, 5 Kilometer, 4 Kilometer, 3 Kilometer, das schaffst du locker. Ich krame das Handy raus und frage so in die Runde, ob noch jemand mitkommt, ich rufe mir jetzt ein Taxi. Ein Läufer muß schon im Delirium sein, der glaubt das tatsächlich

. Stattdessen rufe ich meinen Coach an, um meinen Anflug anzumelden. Die anderen um mich rum feixen: soll er schon mal die Kartoffeln aufsetzen? Genau, sage ich, und das Bier kaltstellen. Im Tal sind Stimmen zu hören, ich sage zum Läufer neben mir, Mensch, das ist ja schon der Sprecher vom Zieleinlauf! Das beflügelt nochmal. Im Tal ist es dann doch noch nicht der Sprecher vom Zieleinlauf sondern eine lustige Truppe von Zuschauern, die bei jedem Läufer eine Laola-Welle aufführen. Aber jetzt ist es nicht mehr weit, das Zuschauerfeld verdichtet sich. Mir graut schon vor dem Berg zur Zielwiese, sage ich zu meinem Nachbarn, der nur leidend nickt. Egal, da müssen wir jetzt durch. An der Strecke feuert mich ein Zuschauer an: Los, zeig's den Kerlen! Na lieber nicht, denke ich und sammle noch mal alle Kräfte für die letzte Herausforderung. Ich kann nicht mehr! Meine Zunge schleift auf dem Boden, wo ist dieses Sch...ziel, der Zieleinlauf war doch vor zwei Jahren noch nicht so lang, oder? Mitten auf dem Berg hat sich mein Starfotograf postiert, na prima, das wird ein tolles Bild. Ich sehe auf die Uhr, Mist, die 4:30 schaffste nicht mehr. Egal, jetzt nur noch ins Ziel, trinken, massieren lassen. Endlich kommt das Tor, ich suche eine Zeitanzeige, nehme wie umnebelt Pittiplatsch und Biggi auf der linken Seite wahr (oder war das nur eine Fata Morgana?), laufe ins Ziel, das war's. Ich hab's geschafft! 11 Minuten langsamer als vor zwei Jahren, das ist okay. Am Getränkestand trinke ich mindestens 5 Becher "Wellness"-Wasser, suche meinen Coach und meinen Hasen. Doch der ist 10 Minuten vor mir im Ziel und sicher schon unter der Dusche. Mögen ihre Schürfwunden schnell verheilen und vielleicht sehen wir uns nächstes Jahr wieder. Vor dem Massagezelt finde ich endlich mein Dreamteam, beide haben die Wartezeit gut überstanden und warten auch noch geduldig darauf, bis ich mit der Massage fertig bin. Anschließend hole ich meine Urkunde und mein Bier ab und gemeinsam suchen wir das Festzelt. Im Festzelt weit und breit nichts Laufen-Aktuelles. Ich rufe Schnattchen an und erfahre, daß sie sich im Hotel erstmal den Luxus einer Einzeldusche gegönnt hat und jetzt zusammen mit Biggi und Pitti im Hotel entspannt, um für die Fete um 18.00 Uhr wieder fit zu sein. Die werden wir bestimmt nicht mehr erleben, denn unser Kind ist jetzt schon hundemüde. Auf der Suche nach der Läufersuppe verlassen wir das Festzelt wieder und laufen Jörg, Cabo, Wolfgang, Gudrun und den anderen fast in die Arme. Alle sind gut durchgekommen, nur für Wolfgang war es besch…eiden. Conni Lachmöwe hat sagenhafte 7 Stunden für die lange Strecke gebraucht – von ihrer 10-Kilometer-Zeit auf dem Rennsteig kann ich nur träumen. Um die Medaille für ihren verdienten 2. Platz zu bejubeln, ziehen wir auf die Wiese vor der Bühne um. Jörg denkt an alles und packt eine große Picknickdecke aus. Ich weiß, wenn ich mich jetzt hinsetze, komme ich nicht mehr so schnell hoch. Aber stehen will ich auch nicht mehr. Während sich die Siegerehrung zieht und zieht untersucht unsere Tochter erstmal den Rasen, findet natürlich prompt sämtlichen Müll in Krabbelweite und schnorrt bei Jörg ein halbes Brötchen. Dann endlich ist Conni an der Reihe und wird bejubelt und beklatscht. Inzwischen haben sich auch Ishimori und Walter eingefunden, beide haben krampfhafte Erfahrungen auf ihrem ersten Rennsteig gemacht. Unsere Tochter nutzt die Gelegenheit und besabbert ausgiebig Ishis Fotoapparat

, sie ist halt ein Technik-Fan. Wenige Stunden später strecke ich meine Beine unterm Tisch der Hotelgaststätte aus, erfahre die neuesten Neuigkeiten vom altgedienten Kellner und genieße das erste Radler. Unser Kind liegt nach Abendtoilette und Nudeln mit Tomatensoße seelig schlummernd in ihrem Bettchen

, Mami und Papi haben jetzt frei. Ich gönne mir einen Sauerbraten mit echten Thüringer Klößen und staune immer noch, daß mir mein Magen diesmal beim Laufen keinerlei Probleme bereitet hat. Vielleicht sollte ich beim nächsten Marathon das gleiche Frühstück, die gleiche Atemtechnik, die gleichen Getränke ausprobieren? Sonntagmorgen, der Tag nach dem Rennsteiglauf. Ich strecke vorsichtig im Bett die Beine aus, nichts schmerzt oder zieht. Als Krönung Familienkuscheln mit einem wohlriechenden, ausgeschlafenem Baby

, was gibt es schöneres. Auf dem Weg zum Frühstück nehme ich problemlos die Stufen ins Erdgeschoß. Bin ich gestern überhaupt gelaufen? Muß ich ja, wo hätte ich mir sonst so einen schönen, tiefroten Sonnenbrand zuziehen können? Mein Coach will am liebsten noch eine Woche Urlaub dranhängen. Und nächstes Jahr, da fahren wir auf jeden Fall wieder zum Rennsteiglauf, egal ob Du mitläufst oder nicht, muß ich mir anhören. Na klar, eindeutiger Fall von Rennsteigvirus

, jetzt hat’s ihn auch erwischt ….