Die Feier war sehr schön, wir haben viel gelacht, ein schönes Fest für einen runden Geburtstag. Allein, nicht nur der Geburtstag meiner Frau war rund, ich war es wohl auch. Nur so ist zu erklären, daß ich mich von der Euphorie eines Freundes anstecken ließ:
„Uwe, in Kassel ist in 7 Wochen der erste richtige Marathon und Du als Läufer hast Dich nicht angemeldet?“
„Karl-Ludwig, ich laufe doch erst seit ein paar wenigen Monaten. Die langen Strecken kann ich definitiv noch nicht.“
„Ach Uwe, drück Dich nicht. Du kannst doch einen lockeren Halbmarathon laufen. Das schaffst Du doch, oder?“
„Karl-Ludwig, nie im Leben schaffe ich einen Halbmarathon. Ich habe Angst, mich wieder zu verletzen, weil ich nun einmal dazu neige, mich zu übernehmen und nicht langsam und ruhig aufbaue.“
„Aber Uwe, Du hast doch noch ganze 7 Wochen Zeit, Dich in Ruhe darauf vorzubereiten.“
Aber klar doch, 7 Wochen Vorbereitung auf einen Halbmarathon sind doch vollkommen ausreichend. Insbesondere, wenn der Kandidat noch nicht einmal ein ganzes Jahr Lauferfahrung nachweisen kann und es bis jetzt erst auf insgesamt 700 Trainingskilometer gebracht hat. Und von dem einen Jahr Lauferfahrung waren ein größerer Teil Verletzungspausen mit Bänderreizungen in den Knien und Schmerzen in den Fußgelenken.
Na ja, ich bin wohl ein bischen bescheuert, sonst hätte ich mich nicht für den HM dann doch noch angemeldet. Als Trainingsplan habe ich mir Steffny's 6-Wochen-Plan für den HM, Ziel „ankommen“ rausgesucht. 4 x wöchentlich laufen, 3 x wöchentlich ins Studio um auch der Muskulatur an anderen Stellen des Körpers einmal „Beine zu machen“. Übertraining? Kenne ich nicht, bin doch Profi

Die Quittung für diese Überlastung meines untrainierten Körpers kam dann auch prompt, nach 4 Wochen kam eine deftige Erkältung mit allen Zutaten und ging nur sehr langsam wieder weg. So konnte ich leider bei meinen geplanten Testwettkampf über 10 Kilometer nicht mitmachen. Keine Standortbestimmung, keine Zeiten, kein Gefühl für die zu laufende Zeit. Ich hatte also überhaupt keine Ahnung, mit welchem Tempo ich das Ganze angehen sollte. 2:30 Std. wird wohl realistisch sein, dachte ich mir, schnell bin ich ja nicht gerade. Mein längster Trainigslauf ging über 19,8 km in sagenhaften 2:26 Std.
In der Woche vor dem HM habe ich dann - ganz brav - nur noch sehr wenige Kilometer „rumgehoppelt“, das Studio ausfallen lassen und mich einfach gelangweilt. Gelangweilt? Ich? Ich bin doch bis vor einem Jahr, genauso wie heute, 2 x täglich mit den Hunden rausgegangen, habe meinen Job erledigt und es ging mir gut. Warum ist das heute ätzend langweilig, wenn ich doch genau das selbe tue? Warum fehlen mir schon nach dieser sehr kurzen Zeit meine, doch sehr kurzen, Trainingskilometer?
Freitag: Ich fühle mich einfach Shice. Müde, durchgekaut, ausgespuckt. Aber ich habe doch wirklich gar nix getan? Wann ist es denn endlich soweit? Mit meiner Kleinen auf der Messe gewesen und meine Startnummer abgeholt. 3913. Das kann ja nur gut gehen, da es nur mein „verdrehtes“ Geburtsdatum ist (19. März). Aber dann kam noch die Einladung auf einen Pullerschaps unserer Nachbarn.
Samstag: die üblichen Arbeiten, heute wird mir mein langer Lauf am meisten fehlen. Dabei habe ich doch am letzen Samstag noch einen schönen langen Lauf gemacht. Aber der Körper verlangt wohl nach Bewegung. Bei den Zeiten für Morgen bin ich mir immer noch nicht im Klaren. 6:10 oder 6:30? Oder 7:00? Was wäre eine gute Pace?
Zum Mittagessen gibt es Minikartoffeln und Kräuterquark, wirklich superlecker. Abends auf der Pullerschnapsparty habe ich 2 Weizen (richtige!) getrunken, recht viel Nudelsalat und eine Bratwurst vom Grill gegessen. Auf der Fete der Nachbarn lerne ich weitere Nachbarn kennen, die auch am Sonntag starten wollen, also in weniger als 12 Stunden. Wir verabreden uns zu einer Fahrgemeinschaft, um 7:15 Uhr soll es los gehen. Um 21 Uhr verabschiede ich mich und gehe ins Bett. Das frühe „ins Bett gehen“ und auch das frühe Aufstehen habe ich die letzen Tage trainiert, da ich normalerweise um 8:30 Uhr morgends noch nicht wach genug bin, um einen längeren Lauf durchzustehen.
Sonntag, 5:30 Uhr: Der Wecker klingelt. Nix wie raus aus den Federn, einen starken Kaffee mit Milch, 2 Weißmehlbrötchen (igitt, ich esse doch sonst nur Brötchen mit Körnern) mit Honig und eine Flasche Mineralwasser, es soll ja heiß werden. Noch ein bischen rumtrödeln, die Wettervorhersage studieren und schon die Laufklamotten anziehen. Den Kleidersack mit Wechselkleidung hatte ich gestern schon gepackt.
Sonntag, 7:10 Uhr: Alles schläft noch und ich gehe schnell die paar Meter zu den Nachbarn, damit wir pünktlich losfahren können. Neblig ist es nach den schweren Regenfällen der letzten Nacht, neblig und kühl. Aber das wird wohl nicht lange so bleiben. Als wir nach 20 Minuten Autofahrt an den Messehallen in Kassel ankommen und auch gleich einen Parkplatz „vor der Tür“ finden, ist es schon sonnig aber noch angenehm frisch. Mannomann, sind das viele Leute hier, und es werden „als“ mehr. Laufsack abgeben, die Schlange ist so lang wie die vor den Toiletten. Aber in der Nachbarhalle gibt es auch Toiletten aber keine Läufer und mithin auch keine Schlange davor.
Sonntag, 8:15 Uhr: noch ein ganz klein wenig Einlaufen, die müden Knochen dehnen und sortieren, und dann ab in den Startblock, Mein Gott, bin ich aufgeregt


Sonntag, 8:30 Uhr: ein Gleitschirmflieger landet an der Startlinie, 1 Minute später fällt der Startschuß. Und es passiert gar nichts! Ahh, wir können ein paar Schritte gehen, wieder anhalten und warten, langsames gehen, einige schritte hoppeln, wieder gehen. Nach sechseinhalb Minuten sind wir - mein Zugläufer und ich - endlich über die Startlinieund ab jetzt wird richtig gelaufen. Morgensonne auf lachenden Gesichtern.
Der erste Kilometer in 6:30 kommt mir sehr langsam vor. Der zweite in 6:00 ist schön zügig, aber das werde ich wohl nicht durchhalten können. Mein Zugläufer hat sich schon nach einem Kilometer zum Pinkeln verabschiedet, ich werde ihn heute nicht mehr wiedersehen. Dafür ist der andere Zugläufer, der mit nur einem Ballon, viel zu weit vor mir. Der geht ab wie eine Rakete und ich habe keine Chance heran zu kommen. Aber vor mir läuft ein ganz hübsches Mädel ungefähr mein Tempo. Sie läuft sehr konstant, ist nett anzuschauen und fällt mit ihrem orangefarbenem Shirt auf. Außerdem ist sie als Zugläuferin viel hübscher. Ich nehme jetzt auch die Zuschauer an der Strecke war. In einigen Vorgärten wird gefrühstückt, viele Tröten, Töpfe, Deckel, laute Zurufe, witzige Plakate, eine Band. So macht das Spaß. Warum laufen denn jetzt alle nach links? Sind die denn bekloppt? Ohh, eine Wasserstelle mit Beregnungsanlage. Vorbei. Zurücklaufen geht nicht. Tja, der erste Wettkampf, da habe ich noch viel zu lernen und werde wohl besser aufpassen müssen. Einfach weiterlaufen, bei dem Sonnenschein tue ich so etwas für meinen Teint.
Sonntag, 9:10 Uhr: Kilometer 5 habe ich vor Kurzem passiert, das Laufen macht Spaß, Wasserstellen kann ich jetzt rechtzeitig erkennen. Es ist heiß, die Sonne brennt, ich hätte Sonnencreme benutzen sollen. Egal, weiter gehts. Die ersten Läufer mutieren zu Gehern und Wanderern. Warum wechseln denn jetzt die Hälfte der Läufer unvermittelt die Straßenseite? Da ist definitiv kein Verpflegungsstand. Ah ha, dort gibt es Schatten, schlaue Leute. Was ich heute so alles lernen kann. Der Bierpilz hat noch keine Gäste aber leckeres Weizen. Fällt heute aus wegen Lauf-Lauf. Dort steht der Klassenlehrer einer meiner Töchter und brüllt mich freundlich an. Gesiezte Anfeuerungsrufe mit Nachnamen? Ja, hat der sie noch alle? Wir sind doch Läufer und per Du ;-) Oh wie schön, mal wieder Live-Musik und deutlich mehr Zuschauer. Schon wieder habe ich eine Gänsehaut. Liegt das an der tollen Stimmung oder an der stechenden Sonne? Nach kurzem nachdenken habe ich die Lösung: wenn bei Gänsehaut die Augen feucht werden und die Mundwinkel Kontakt mit den Ohrläppchen suchen liegt es eindeutig an der Stimmung, sonst an der Sonne.
Sonntag, 9:40 Uhr: Geil, 10 Kilometer liegen hinter mir, die Zeit dazu 1:04:30 ist für mich super gut. Deutlich schneller, als ich das erwartet habe. Leider ist mir meine hübsche Zugläuferin nun doch enteilt, die lange Steigung war für sie scheinbar mühelos zu schaffen. Macht nichts, es sind ja noch genug andere Läufer da. Hier ein Schwätzchen, da ein freundliches Lächeln, schade, daß die Blaskapelle ausgerechnet jetzt ein Päuschen macht, die haben einfach keine Kondition. Aber es ist auch sehr heiß. Diese Sonne.
Die nächste Wasserstelle, ein Becher trinken, das zischt, zwei über den Kopf, das zischt noch mehr. Noch mehr Steigung, bald haben wir den höchsten Punkt der Strecke erreicht. Warum die beiden Motorradpolizisten mitten zwischen den Läufern fahren müssen verstehe ich aber nicht so ganz. Einmal ums Eck, noch mehr Leute, Berliner Brücke, jetzt wird es eng. Hier passen nur 2 Läufer nebeneinander und die Zuschauer brüllen uns in die Ohren, saugeil. Immer noch kein Schatten, ich fühle mich wie ein Hähnchen auf dem Wienerwaldgrill. Na gut, ein ziemlich großer Gockel.
Ein bischen durchschnaufen, es geht bergab (mit der Strecke, nicht mit mir). Zum ersten Mal seit ca. einer Stunde spenden einige Alleebäume Schatten. Da steht Diva und fuchtelt wie wild mit ihren Armen und dem LA-Gruß-Schild. Endlich wieder Wasser, wieder ein Becher für den Magen und zwei zur äußeren Anwendung auf den Kopf.
Sonntag, 10:10 Uhr: Na klar ist die Stimmung auf Kassels Partymeile mit Abstand die beste. Aber nach 15 Kilometern habe ich mir diese Anfeuerungsrufe auch verdient. Ach Uwe, laß deinen Trotzkopf weg und freue dich einfach an der tollen Stimmung und den lachenden Gesichtern. Sempre Samba heizt uns ein, ach ich freue mich schon auf das Samba-Festival in Bad Wildungen im August. Da kann es auch nicht heißer sein als hier und heute. Fünf-Fenster-Straße, da haben wohl einige junge Kerle die Nacht durchgezecht und machen jetzt mit ihrem besoffenen Kopf ihre Späße mit uns Läufern. Rathaus mit Bühne, der Ansager nennt bevorzugt die Namen der jungen und hübschen Mädels. Männer und ältere Frauen werden scheinbar ignoriert.

Hinter dem Staatstheater runter in die Aue. Endlich wieder Schatten, nicht immer, aber immer öfter. Das Feld hat sich jetzt doch schon ganz schön in die Länge gezogen, die Beine werden so allmählich schwer. Tapfer sein, der Schweinehund sitzt schon auf meiner Schulter und lacht mich aus, ich muß mich irgendwie motivieren. Da fällt mir auf, daß immer irgendeiner der Läufer in meiner Nähe eine Gehpause einlegen muß. Ich bisher noch nicht. Ja, gibt es denn das? Ich beschließe, so rein aus Gründen der Selbstmotivation, daß sich das jetzt auch nicht mehr ändern soll. Ich möchte ohne Gehpause ins Ziel kommen. Am Wegesrand Sanitäter, eine Trage, dieser Läufer bekommt gerade eine Infusion. Das hat er sich auch anders vorgestellt. Ich beschließe, den Entschluß, ohne Gehpause ins Ziel zu kommen, noch einmal zu überdenken. Was hilft es mir, ohne Gehpause ins Krankenhaus zu kommen? Aber noch kann ich ja laufen und brauche keine Pause.
Sonntag, 10:40 Uhr: Und wieder eine Wasserstelle, wieder ein Becher zum trinken und einen über den Kopf. Igitt, das schmeckt ja ganz süß! Das ist gar kein Wasser, das ist so nen Isozeugs, daß mir jetzt auch aus dem Haupthaar rinnt.

Sonntag, 10:50 Uhr: Ich sehe das Ziel, Nur noch 300 Meter. Warum mache ich Trottel auf den letzten 30 Metern noch einen Endspurt? Ja, es ist geschafft, oh ist das schön. Oh, ist mir schwindelig. Mein Nachbar ist schon länger da, stützt mich kurz, dann geht es besser. Ich bin zu fertig, um mich richtig freuen zu können. Erst einmal Apfelsaftschorle, Mineralwasser, Bananen und endlich raus aus der Sonne.
Sonntag, 12:00 Uhr: geduscht, satt getrunken und überglücklich treffe ich Karl-Ludwig. Er ist fast gleichzeitig mit mir ins Ziel gekommen, aber wir haben uns erst jetzt gesehen. Noch was essen, noch was trinken und ein bischen schnuddeln, nur bitte keine Sonne mehr.
Sonntag, 16:30 Uhr: ich bin zu Hause, die Achillessehnen schmerzen sehr, sonst ist alles okay. Jetzt gehe ich erst einmal mit meinen Hunden raus.
Montag, 20:30 Uhr: wie hieß nochmal die Site mit den vielen HM-Terminen? Ach, da ist es ja. Wo könnte ich denn laufen, so im Herbst, wenn die Sonne nicht mehr gar so sehr brennt? Köln, Dresden, Amsterdam, Palma de Mallorca? Diese Laufvirusinfektion ist schon sehr hartnäckig. Ach wenn doch nur dieser Muskelkater nicht so schlimm wäre, dann würde ich jetzt nach oben ins Bad gehen und mir noch ein wenig von dieser kühlenden After-Sun-Creme holen.