- Es hat nie einen 1. Sylt-Marathon gegeben.
- Meine Füße über Sylter Boden habe ich gleichwohl bewegt, und zwar in einem Wettkampf der Länge 33 km plus den dritten Teil des 34. km.
- Weder durch Verlaufen noch durch Windböen zu Zickzackkurs gezwungen, bin ich dabei auch nur näherungsweise auf die heute übliche Marathondistanz von 42,195 km gekommen.
Vor dem Lauf
Syltlauf, das war immer so einer wie Hermannslauf oder Paderborner Osterlauf, von dem ich viel gelesen hatte, der mich auch reizte, wo es mir aber zu umständlich war, mich so weit im Vorfeld anzumelden, und speziell für Sylt war mir auch die Anreise zu lang.
Dann stieß ich im Januar zufällig auf eine Meldung im Syltlauf-Thread, dass Startnummern abzugeben wären, und da machte es plötzlich „Klick“. Und mit dem „Klick“ entstand ein fertiger Ablauf im Kopf, der so aussah:
Freitag: Frau schnappen, ab nach Itzehoe, Bruder besuchen
Samstag: Bahnfahrt nach Sylt
Sonntag: Laufen, Bahnfahrt zurück nach Itzehoe
Montag: Rückfahrt
Hirnforscher vertreten die These, dass es mit dem freien menschlichen Willen gar nicht so weit her sei, sondern Entscheidungen im wesentlichen durch den Mandelkern, einen Teil des limbischen Systems, gesteuert würden. Nun, was solche „Klick“-Situationen anbelangt, kann ich das nur bestätigen: Wenn’s „Klick“ macht, ist die Entscheidung bereits gefallen, und der Rest ist nur noch mechanische Umsetzung. So war es auch diesmal. Nachdem auch meine Frau zustimmte, ging’s an die Ausführung. Obwohl: ganz so mechanisch verlief die Umsetzung diesmal nicht, bedingt durch, nun ja, ein etwas penibles Bestehen des Veranstalters auf korrekter Einhaltung aller Vorschriften. Schließlich klappte es aber, und ab Freitag startete das Projekt Syltlauf 2008.
Je näher der Lauf rückte, umso mehr fragte ich mich, wie ich denn nun anlaufen solle. Klar, Wetter vor Ort, persönliches Befinden usw. würden den Ausschlag geben, aber 33,333 km ist mehr als Halbmarathon und weniger als Marathon. Das Risiko ist in solchen Fällen natürlich, mit der Losung „HM und etwas mehr“ daneben zu greifen und die Strecke zu unterschätzen. Also dachte ich mir, lieber auf Marathon mit entsprechendem Tempo zu orientieren. Nächster Gedanke war, tempomäßig auf einen 3 h-Marathon zu setzen. 3 h: das passt, das hab’ ich drauf, das Tempo treff ich genau.
Nun musste ich mich selbst allerdings noch überlisten, um wirklich ganz konsequent in dieser Geschwindigkeit anzulaufen. Und da machte ich eine Anleihe bei Herrn Freud. Ich schaute in mich hinein und entdeckte, dass eigentlich nur ein Teil von mir dazu tendiert, ungestüm und ohne Überlegung loszupreschen. Das ist der kleinebernie, den es auszutricksen galt. Einen Verbündeten fand ich in HerrBernd, der stets äußerst planvoll vorgeht und genau die Risiken abwägt. Wir Zwei waren uns einig, den kleinenbernie beizeiten zu bremsen.
Laufend unterwegs
Nach einem leichten Wechselbad (erst Frühstück: Regen; dann Fußweg zum Bus, der die Läufer nach Hörnum bringt: regenfrei; danach Einlaufen: Regen) stand ich nun also in der Läufermasse, die darauf wartete, dass es endlich losgeht. Runter zählen und ab geht’s. 3 h-Tempo, 4:16 min/km, das sitzt, auf die Sekunde genau! Am Anfang ist der Pulk noch etwas dichter, das Feld muss sich erst noch sortieren. Km 1: Blick auf die Uhr: 4:05, na, sitzt wohl doch nicht so genau! Hat der kleinebernie wohl die Oberhand gewonnen!
Nach einer leichten Bremsung passte der zweite km schon viel besser. Das Feld war bereits etwas auseinander gezogen, als mir ein Kälteschauer über den Rücken fuhr. „Na, du bist ja ein ganz Harter“, rief ich dem Läufer zu, der, nur mit Kurzshirt und kurzer Hose bekleidet, neben mir auftauchte. „Is' doch warm, da werden manche noch ganz schön schwitzen.“ Das konnte ich mir nun überhaupt nicht vorstellen, aber etwas später zog ich mir doch die Handschuhe aus.
Ich hatte den Eindruck, dass der Halbnackte, der sich etwas abgesetzt hatte, wohl in etwa mein Tempo laufen würde, schloss wieder auf und fragte ihn nach seiner voraussichtlichen Zielzeit. Als ich „2:15“ hörte, ließ ich mich allerdings zurückfallen, denn das war mir viel zu schnell.
Streckenmäßig bietet der Syltlauf keine Gefahr, den Läufer durch Überflutung mit Sinnesreizen aufzuwühlen und dadurch einen Schaden zuzufügen. Die ersten Kilometer geht es fast schnurgerade in eine Richtung, das Laufen auf dem Fahrradweg links der Straße war angenehm, und der Wind blies von hinten, was ebenfalls ein flüssiges Abrollen förderte. Die nächsten km bis etwa 11, 12 waren denn auch die angenehmsten des Laufes. Der kleinebernie genoss es, hier unbeschwert laufen zu dürfen und hielt sich in etwa an seine Marathonvorgabe.
Beim Passieren der 10 km-Marke stellte der HerrBernd zwar fest, dass der kleinebernie mit 41:20 zu schnell unterwegs war, aber angesichts des Rückenwinds drückte er ein Auge zu. (Der Halbnackte war übrigens zurück geblieben.)
Als das km-Schild 12 auftauchte, entfuhr es mir: „Super, nur noch ein Halbma…“, „Still“, fauchte mich der HerrBernd an, „das darf der kleinebernie doch noch gar nicht wissen.“ Noch mal Glück gehabt! Dafür fing der HerrBernd an, ein wenig herumzurechnen: „Wenn wir die Geschwindigkeit beibehalten, könnten wir km 20 nach 1:23 h durchlaufen, danach etwas Tempoverlust, und wir müssten km 30 nach 2:05 h hinter uns haben. Dann ist eine Zeit unter 2:20 drin.“ Ich war einverstanden. Dem kleinenbernie sagten wir nichts.
Durch Westerland
Die ersten Häuser von Westerland tauchten auf, schon lagen 15 km hinter mir, bald würde Halbzeit sein (diesmal aufgepasst und nur leise gedacht). Links ab zur Strandpromenade hin, ein kleiner Anstieg, und nun gab es auch reichlich Zuschauer, die aufmunternde Worte zuriefen und klatschten.
Nach Verlassen der Promenade wurde der Kurs etwas welliger. Die nächsten km der Strecke kannte ich, war ich doch vor 2 ½ Jahren im Urlaub regelmäßig hier gelaufen. Km 20 und 1:23:11, etwas langsamer als die ersten 10, aber auch schwieriger zu laufen. Bis hierhin hatte ich stets Läufer vor mir gesehen. Nachdem ich in Wennigstedt noch an Zweien vorbei gezogen war, war ich nun einsam unterwegs.
„Ich muss mal.“ Kurz nach Überlaufen der 21 km-Marke meldete sich der kleinebernie zu Wort. Was fiel dem denn ein? Bevor ich etwas sagen konnte, hörte ich HerrBernd schimpfen: „Nix da, jetzt wird weiter gelaufen. Stell dich nicht so an.“ Brav trottete der kleinebernie weiter.
„15“, rief mir jemand zu. Kurz darauf noch einer: „Du bist die 15.“ Nun glaubte ich es. Vor mir sah ich keinen, von hinten musste schon jemand ordentlich Dampf machen, um noch aufzuschließen, und so dachte ich mir: „Wenn kein Einbruch kommt, wird das wohl auch die Endplatzierung sein.“
War der Kurs durch die Orte etwas eckiger verlaufen, so ging es nun wieder auf einen befestigten Weg, der erneut schnurgerade und topfeben verlief. Weit vor mir entdeckte ich einen Typen mit wehenden, längeren Haaren. Der Abstand verringerte sich allmählich, und ich konnte sehen, dass es eine Läuferin war. Ist ja auch logisch. Der kleinebernie, dem die einsame Rennerei zu langweilig wurde, witterte etwas Abwechslung und wollte überholen. „Na gut“, sagte ich, „aber vorsichtig, nicht zu schnell. Schließlich musst du ja einen ganzen Marathon laufen“, und zwinkerte HerrBernd zu.
In den Dünen
Der schöne, ebene Weg ging nach etlichen Minuten in einen unbefestigten Dünenweg über, Dünen sind Sandaufschüttungen, und damit ging es auch wieder leicht bergauf und bergab. Gut, das reicht nicht als Training für den Jungfraumarathon, aber nach über 23 Kilometern merkt man die Anstiege doch.
„Ein Glück“, dachte ich mir, „dass der Wind von hinten kommt“, als die Strecke einen Knick nach rechts machte, und wie um mir zu zeigen, dass es auch ganz anders hätte kommen können, drückte der Wind nun von vorn. Da ausgerechnet hier ein etwas lang gezogener Anstieg kam, war ich froh, als es nach vielleicht 800 m wieder nach links und raus aus dem Gegenwind ging.
Dafür meldet der kleinebernie sich erneut: „Ich muss jetzt aber wirklich mal ganz dringend.“ Ich versuchte es auf die schmeichelnde Art: „Du bist doch schon groß. Schau mal, wie oft du schon ganz prima durchgehalten hast. Wenn wir jetzt rechts anhalten, ist das Wiederanlaufen auch so schwer. Und überhaupt: Es sind doch nur noch 4 Kilometer.“
„Quatsch! Rechnen kann ich ja wohl selbst, und 13 km sind kein Pappenstiel.“ „Nein, wir laufen heute gar keinen Marathon, nur 33 1/3 km. Ist das nicht toll?“ Er glaubte mir nicht, war aber von seiner vollen Blase abgelenkt und lief weiter.
Kurz vor List
Die letzten km verliefen wieder auf einem geraden, befestigten Weg. Km 30, der letzte volle Zehner, mit 2:04:54 stimmte der Zeitplan ganz gut. Der Abstand zu dem Läufer, den ich seit einiger Zeit gesehen hatte, verringerte sich kontinuierlich, und 2 km vor dem Ziel lag ich an 13. Stelle, vor mir ein weiterer Läufer in Sichtweite. Nun war es HerrBernd, der den kleinenbernie anzuspornen versuchte, aus der 13 doch wenigstens eine 12 zu machen: „Wir sind doch gleich da.“ Der kleinebernie ließ sich nicht bewegen, seinen Trott noch einmal anzuziehen, sondern lief gleichmäßig seinen Stiefel weiter, und nur dadurch, dass dieser Stiefel sowieso schon einen Tick schneller war als der des Vorläufers, wurde etwa 1 km vorm Ziel noch Position 12 erreicht.
Ich beriet nun ernsthaft mit HerrBernd, wie wir dem kleinenbernie klar machen konnten, dass wir heute wirklich nicht Marathon laufen würden. Als km 33 passiert war, die Zuschauer zahlreicher wurden, eine freundliche Dame mir zurief: „Lauf, da ist einer hinter dir“, ein Schild nach rechts ins Ziel wies, da endlich begriff der kleinebernie und legte sich noch mal ordentlich ins Zeug. Nach 2:18:09 h war der Sylter „Fast-Marathon“ Geschichte.
Nach dem Lauf
Mir war angenehm warm, aber das hielt nicht lange an. In der eiskalten Turnhalle zog ich die nassen Sachen aus, trocknete mich ab, zog die Wechselkleidung an und fing an zu frieren. Mit dem ersten Bus fuhr ich zurück nach Westerland. Dort wollte ich uns Dreien auf den erfolgreichen Lauf eine Runde Bier ausgeben, aber der HerrBernd lehnte leicht entrüstet ab, und der kleinebernie durfte nicht. Also bestellte ich nur eines für mich. War wohl auch besser so.
Die Abschlussfeier begann um ca. 16.30 Uhr. Hier stellte ich fest, dass die Globalisierung auch die nördlichste Insel Deutschlands erreicht hat. Den Ehrungen und Danksagungen wurde nämlich öfter größerer Nachdruck verliehen durch die aus dem rheinischen Karneval importierte „Syltrakete“. (Für Nicht-Karnevalisten: Bei einer Rakete macht der ganze Saal auf Kommando Krach, der immer lauter wird.)
Ich saß in der Nähe einer größeren Gruppe, die ständig für die nächste Rakete zu üben schien. So musste ich mich anstrengen, die Ansage von der Bühne zu verstehen. Ich war noch am Grübeln, was wohl die Verlosung der „Breitensporthalle“ bedeuten sollte, als die Staffel, die diese gewonnen hatte, offensichtlich nicht anwesend war, weshalb als Ersatzgewinner die Startnummer „162“ ausgerufen wurde. 162? Das war ich, und so hastete ich mit meinem Kleiderbeutel mit innen liegender Startnummer nach vorne. Dort klärte sich das Missverständnis auf, denn es handelte sich um eine Breitensportkanne: eine schwere große Milchkanne, wie sie früher von den Bauern benutzt worden waren. Nach den weihevollen Worten des Vorsitzenden begab ich mich samt Kanne zu meinem Platz zurück.
Erst jetzt kam mir allerdings die Frage in den Sinn, was ich eigentlich damit solle und ob ich sie nicht besser gleich zurücklassen könnte. Da ich im Grunde aber eher Sammler als Jäger bin, habe ich sie dann doch mitgeschleppt. Nach einer Verwendung suche ich allerdings immer noch. Der kleinebernie machte den Vorschlag, alles hinter mir zu lassen und noch mal ein ganz neues Leben anzufangen als Frischmilchverkäufer in der Westerländer Friedrichstraße - das Grundkapital sei ja nun vorhanden -, der HerrBernd hatte aber nur ein Stirnrunzeln dafür übrig, und ich selbst war auch nicht überzeugt.
Heimfahrt
Mit Tasche und schwerer Breitensportkanne schleppte ich mich dann zum Bahnhof und stieg in den Zug. Fast 2 ½ Stunden würde ich fahren. Ich dachte, es wäre eine gute Idee, meinen beiden frisch gewonnenen Freunden das Skatspielen beizubringen zum Zwecke des Zeitvertreibs. So wies ich sie in die Grundzüge des Reizens ein, erklärte, was Kontra und Re bedeutet und was ein Nullouvert ist.
Ich war gerade dabei, die Karten auszuteilen, als ich das Getuschel um mich herum bemerkte. Nach einem Blick in die verständnislosen Gesichter packte ich die Karten wieder zusammen, holte mein Buch heraus und begann, uns Dreien leise, ganz, ganz leise etwas vorzulesen…
Bernd