Die Vorbereitung war noch okay. Nicht besonders systematisch, aber ich bin viel und oft gelaufen, habe beim 6-Stunden Lauf die 42 Kilometer in einem durch laufen können, was sollte also passieren? Der Plan war, unter vier Stunden anzukommen und das schien durchaus möglich, denn ich hatte bei meinem „Trainingsmarathon“ nach 4:06 Stunden noch jede Mengen Reserven gehabt

So fuhr ich also nach Wien. Wie immer hatte ich gleich einen mehrtägigen Aufenthalt geplant, Quartier am Campingplatz bezogen und einen prall vollen Terminplan abzuarbeiten. Die Marathonmesse war für mich nicht ganz so unterhaltsam, denn ich hatte unter der Woche mehrmals mit Durchfall und Magenschmerzen zu kämpfen gehabt und am Samstagmorgen ging es mir wieder nicht so toll. Ich nahm wieder die bewährten Tropfen, passte beim Essen auf, dass ich keine Milchprodukte erwischte und als ich den Gesundheitscheckpoint sah und überlegte, ob ich wirklich fit sei, beschloss ich: ja, alles Bestens und sah voller Optimismus auf den Sonntag

Als der Wecker läutete, war ich sofort wach, fühlte mich frisch und als ich meinen Tee trank (statt, wie üblich, Kaffee – ich wollte die Magennerven nicht provozieren) und dazu die üblichen Kekse knabberte, die mir auch vor dem Grazer Marathon und vor dem Ultra Lauf nicht geschadet sondern Kraft und ein gutes Gefühl gegeben hatten, war ich sicher, meinen Plan einhalten zu können.
Im Startbereich gab ich meinen Kleidersack ab und spazierte zu den Dixie Toiletten. Alles planmäßig. Dann stellte ich mich in den Startblock. Getreu dem Motto „run vienna – enjoy classic“, spielte man über die Lautsprecher nur klassische Musik. Wie kann man um diese Uhrzeit so getragene Musik spielen? Wollen die, dass sich die Starter gleich von der Reichsbrücke stürzen? dachte ich

Nach über sechs Minuten Wanderung erreichte ich die Starlinie. Unterwegs hatte ich schon ein, zwei sehnsüchtige Blicke auf die Toilettenhäuschen geworfen und überlegt, noch schnell hinüberzuhüpfen. Aber den Gedanken hatte ich jedes Mal verworfen. Das musste die Nervosität sein, wenn ich erst einmal renne, ist das vorbei, tröstete ich mich.
Dann ging es los. Zu den Klängen von „The final Countdown“ aus meinem MP3 Player machte ich die ersten schnelleren Schritte auf die Reichsbrücke. Ein leiser Schmerz meldete sich in meinem Bauch. Ich versuchte, irgend eine Geschwindigkeit zu finden, wo ich nicht dauernd ausweichen und überholen musste beziehungsweise mir niemand der Nachfolgenden auf die Fersen stieg. Ich fand keine.
Nach genau zwei Kilometern war klar, ich musste ein Dixie Klo finden. Und wie gerufen, stand eines am Streckenrand. Ein einzelnes Dixie Klo! Du armes, einsames Ding, ich werd Dir mal gleich einen Besuch abstatten! Als ich die Tür erreichte, kam mir schon eine andere Läuferin aus dem Klo heraus entgegen. Okay, zumindest bin ich nicht der einzige Mensch, der schon nach zwei Kilometern „mal muß“

Nach acht Kilometern spürte ich mich flau und kraftlos. Ich hatte das Gefühl, dringend etwas essen zu müssen, also beschloss ich, das erste Powergel nicht erst nach 15 Kilometern, sondern schon nach 12 Kilometern zu nehmen. Diesen Punkt sehnte ich dann herbei. Aber so vergingen die nächsten paar Kilometer wenigstens rasch. Gleich beim ersten Haps von dem Powergel spürte ich dieses kurze Ziehen im Kiefer, so als müsste ich mich jeden Moment übergeben. Nix gibt’s, heut werden keine Spompanadeln gemacht, befahl ich meinem Magen

Ich brauchte für das Powergel über 1,5 Kilometer und es fühlte sich nicht so besonders an. Dann kam die erste Stelle der „Eigenverpflegung“ und ich suchte meine Flasche. Sie war nicht da. Genau dasselbe Bild an der nächsten Labestation. Irgendjemandem hatten meine Flaschen wohl gut gefallen und obwohl sie deutlich mit meiner Startnummer gekennzeichnet waren, hatte sie ein anderer Läufer/eine andere Läuferin genommen. Einmal lag eine MEINER Flaschen auf der Straße. Leer. Die Veranstalter hatten also nicht geschlampt, sondern die Sachen ordnungsgemäß an die Labestationen gebracht.
Ich war völlig fassungslos über die Tatsache, dass es Läufer gibt, die andern ihre Verpflegung klauen. Mindestens genauso fassungslos wie ich über die unglaubliche Rücksichtslosigkeit vieler anderer Athleten beim Start und auf den ersten Kilometern gewesen war. Während ich immer versucht hatte, auszuweichen und niemandem unnötig im Weg zu sein, hatten andere gar keine Bedenken, in Dreierketten nebeneinander zu laufen oder beim Überholen völlig rücksichtslos mit den Ellenbogen zuzustechen und zu rempeln

Die Halbmarathondistanz brachte etwas Auflockerung im Läuferfeld, endlich konnte man frei laufen. Ich lebte richtiggehend auf und endlich kam mein Puls etwas herunter und ich fand „meinen Schritt“. Bis zur 35-Kilometer Marke ging es mir dann wieder richtig gut

An einer Labestation fiel mir dann der lockere Spruch „Der Leichengeruch hunderter tot getrampelter Bananen liegt in der Luft“ ein, als mir ein Schwall süßlichen Dufts von der Straße her entgegendrang, wo man wirklich aufpassen musste, auf keiner Schale auszurutschen. Wo kommen bloß solche Gedanken her?


Ich hatte mir nach 26 Kilometern widerwillig das zweite Powergel zugeführt und nach 35 Kilometern sollte nun das dritte und letzte Gel drankommen. Black Currant, eigentlich mag ich diese Sorte überhaupt nicht, aber es gab sonst keine Sorte mehr mit Koffein für die letzten paar Kilometer. Meine Abneigung gegen diese Sorte verstärkte sich noch, als ich merkte, dass die Konsistenz etwas anders war – vielleicht war das Gel auch nur durch die Hitze in der Gürteltasche so weich geworden. Auf jeden Fall musste ich mich richtig dazu zwingen. Ich würde noch schön unter 4 Stunden ankommen. Sieben Kilometer sind keine Strecke für mich, das laufe ich eigentlich auch mal nach der Arbeit noch ohne Probleme.
Plötzlich hatte ich den Mund voll mit einer Mischung aus sauer und süß. Ich musste wohl „feucht“ aufgestoßen haben von dem letzten Powergel. Ich versuchte, ruhiger zu laufen, damit mein Magen nicht so sehr durchgeschüttelt wurde. Wir liefen gerade durch den Prater und ich hielt mich sorgsam im Schatten, da ich die Schuld an meinem Unwohlsein der starken Sonneneinstrahlung gab.
Bei einem Fernsehinterview habe ich einmal einen Shaolin sagen hören: „Körperbeherrschung spielt sich zu einem großen Teil im Kopf ab“. - Wenn man es auf diese Weise schafft, mit dem Kopf Ziegelsteine zu zerklopfen, dann dürfte es doch wohl kein Problem sein, mit reiner mentaler Stärke seine quietschenden Innereien zu beschwichtigen


Fünfzig Meter später spürte ich plötzlich, wie mein Magen sich an der Lunge vorbei schob und da ich noch den Mund zu hatte, kam der erste Schwall Mageninhalt durch die Nase. Kein wirklich tolles Gefühl. Ich sprang schnell in den Begrünungsstreifen neben der Fahrbahn, wo ich mir dann den Rest des Tages noch mal durch den Kopf gehen ließ. Soviel also zu Thema „Körperbeherrschung spielt sich im Kopf ab“

Danach ging es mir kurz etwas besser und ich lief wieder los. Immerhin hatte ich nun einige Zeit gutzumachen, die ich da, an den Baum gelehnt, vertrödelt habe. Zum Glück war an dieser Stelle kaum Publikum gestanden. Zugegeben, in dem Augenblick war mir das auch wurscht. Aber das Grummeln setzte sich fort, diesmal eine Etage tiefer und so schaute ich angestrengt nach einem Dixie Klo aus. Knapp hundert Meter davor musste ich zum Gehen wechseln, um ein Unheil zu verhindern. Uta Pippig huschte mir durch die Gedanken und dass meine jämmerliche Zeit keinen solchen Auftritt rechtfertigte. Von der Schüttelstraße bis ins Ziel habe ich dann kein Dixie Klo mehr ausgelassen. Zum Glück war überall Papier, aber ich hatte sogar noch eine halbe Packung Taschentücher bei mir. Allein, die Zeit verrann und während ich vor einem Dixie wartete, das gerade besetzt war und leise bettelte, wer auch immer drin sei, er möge sich BITTE beeilen, waren die vier Stunden um, die zu unterbieten mein Ziel gewesen war

Aufgeben kam überhaupt nicht in Frage und so quälte ich mich weiter. Unglaublich, wie lang vier Kilometer werden können! Die Bauchkrämpfe machten das Atmen schwer und plötzlich begann es mich auf der Vorderen Zollamtstraße vor Frost zu schütteln. Mir war plötzlich so elendig kalt, dass ich alles für einen dicken Anorak gegeben hätte. Meine Beine waren steif und spannten und auf meiner gesamten Hautoberfläche stellten sich die Haare auf. Ich lief im prallen Sonnenschein und starrte überrascht auf meine Gänsehaut, während ich spürte, wie mein Kopf glühte. Dominant drängte sich das Wort „SUBOPTIMAL“ in meine Gedanken und ließ mich nicht mehr los. Katzies Modewort des VCM 2008 quasi.
Vor meinen Augen wurde es immer wieder schwarz, aber ich schaffte es, nicht umzukippen und hielt mich tunlichst auf ebenem Asphalt auf, um nicht zu straucheln. Irgendwann rief mir eine Läuferin zu „Achtung, hinter Dir!“ und ich blickte über die Schulter, wo ein Rettungsauto mit Blaulicht rollte. Im ersten Moment dachte ich: „Wenn ich nur halb so schlimm ausschaue, wie ich mich fühle, dann meinen die mich!“ und wich zur Seite aus, erwartete aber nicht, dass das Auto an mir vorbeifahren würde. Tat es aber. Ich trabte weiter, vollste Konzentration darauf gerichtet, jeden Schritt ordentlich zu setzen und den Körper aufrecht zu halten. Nur noch wenige hundert Meter. DAS GIBT ES NICHT, dass ich das nicht schaffe, sagte ich mir vor. Den MP3 Player hatte ich schon lange abgeschaltet, da ich das Gefühl hatte, mich dann besser kontrollieren zu können, wenn ich in der Stille agierte.
Kurz nach der 42-Kilometer Marke, wo ich mit für mich unüblich kleinen Laufschritten über die letzten paar Meter stelzte, stand plötzlich meine Mutter an der Absperrung und feuerte mich begeistert an. Sie war überraschend mit der Bahn nachgekommen, um mich in Wien laufen zu sehen! Ich freute mich wahnsinnig und schämte mich gleichzeitig unglaublich, so langsam unterwegs zu sein

Nein, ich würde keinen Sanitäter bemühen, die hatten genug mit Leuten zu tun, die sich heute aus reinem Übermut und Unwissenheit überfordert hatten. Ich kenne meinen Körper schließlich und mit reichlich Wasser und ein paar Kohletabletten würde das wieder werden, bestimmt

Meine Mutter behauptet, man hätte mir beim Zieleinlauf die Qual absolut nicht angesehen. Ich sollte wohl zum Theater gehen, wenn ich meine Emotionen so gut verbergen kann. Oder Poker spielen…
Endzeit Netto: 04:15:21
Persönliches Fazit: Körperbeherrschung geht durch den Kopf und vermutlich hat die "Katze in mir" beim VCM2008 mal wieder eins ihrer Leben verbraucht
Nächstes Ziel: Konsequent für den nächsten Marathon trainieren und das nächste Mal gleich Immodium Akut statt Powergels mitnehmen…
