Ich reiste vier Tage vorher an, schaute mir die Stadt an und genoss das Pariser Flair. Man muss Großstädte und Hektik irgendwie mögen, schätze ich. Aber natürlich gibt es in Paris auch sehr viele ruhige Ecken, Parks und Cafés, in denen man entspannen kann.
Meine Vorbereitung lief perfekt. Ich reiste zwar mit einem tiefblauen, geprellten kleinen Zeh an, aber dank Voltaren und genügend Zeit bis Sonntag, sollte mich dieser nicht beeinträchtigen.
Jetzt aber mal zum Rennen: Der Sonntag war erschreckend kalt. Morgens waren es vielleicht 4 Grad. Zudem wehte ein ziemlich kräftiger, kalter Wind. Ich war viel zu früh im Startbereich, wie viele andere auch und so stellte ich mich erstmal in den Häagen-Dasz-Laden gegenüber, der freundlicherweise seine Räumlichkeiten zur Verfügung stellte. Gegen ein paar Köstlichkeiten, die bereits in der Auslage zu sehen waren, hätte ich zwar auch nichts einzuwenden gehabt, aber die wollten sie nicht rausrücken. Eine halbe Stunde vor dem Start begab ich mich in meinen Startblock - den Roten für die Läufer mit Zielzeit unter drei Stunden. Die Organisation war vorbildlich: Jeder Läufer wurde beim Einlass kontrolliert, ob er auch in diesen Startblock gehört, somit gab es vorne keinerlei "Bremsen", die sich einfach mal so nach vorne mogeln, wie ich es von anderen Läufen gewohnt bin. Der Startblock an sich war gar nicht so groß, also blieb auch nicht viel Platz zum Warmlaufen, was bei diesen Bedingungen (kalt!!!) aber dringend nötig war. Trotzdem konnte man einen kleinen Rundkurs von geschätzten 30 Metern recht gut laufen, musste allerdings aufpassen, dass man nicht mit entgegen kommenden Läufern zusammen rasselte.
Als mir nicht mehr ganz so bitterkalt war, stellte ich mich so langsam in die Menge. Lauter hagere Franzosen um mich rum. Es war bei weitem nicht so eng wie beim Frankfurt Marathon. Eigentlich gut, aber jetzt fing ich wieder schnell an zu frieren, zumal ich auch über die ganzen kleinen Menschen um mich rum herausragte und so mein Kopf ziemlich schnell wieder kalt wurde. Eine halbe Ewigkeit verging, viel zu laute Musik wurde gespielt und dann ging es endlich los.
Mein Ziel war zwar gewesen, unter drei Stunden zu finishen, aber nach meiner Zehgeschichte und der Tatsache, dass ich mich in der vorletzten Nacht vor dem Marathon noch übergeben hatte (ich tippe auf zu viele Backpflaumen, die ich mir abends als Snack reingefahren hatte), wollte ich es am Anfang bewusst ruhig angehen lassen, nach Puls laufen und erstmal Richtung 3:05 gehen. Der Start und der Lauf auf der Champs-Elysées war vom Gefühl her unglaublich. Auf einer Verkehrsinsel in der Mitte der Strecke standen gefühlte Hunderte Fotografen und am Straßenrand Tausende, dicht gedrängte Zuschauer. Dann noch diese prestigeträchtige Straße, die ich von den Übertragungen der Tour de France her kenne, das war schon was Feines und es war nicht nur der kalte Wind, der Gänsehaut machte.
Durch die breite Straße kam es auch kaum zu Gedränge auf den ersten Metern. Trotzdem war der erste Kilometer mit 4:30 etwas langsam. Machte mir aber nichts, denn mein Puls zeigte bereits beunruhigende 173 Schläge an. Ich schob es auf die Aufregung. Der nächste Kilometer war schneller - 4:20min. Der Puls ging auch weiter hoch, zeigte jetzt so um die 176 an. Mist, genau das wollte ich doch nicht. Zu hoher Puls. Und dann auch noch nicht so tolle Zeiten. Mein Training war doch so gut gewesen, warum spielt der Puls jetzt nicht mehr mit? Ich konzentrierte mich erstmal aufs Laufen, wollte mir nicht die gute Stimmung verderben lassen und genoss die Strecke. Nach dem Place de la Concorde ging es am Louvre entlang Richtung Osten. Diese Stadt ist unglaublich mit seinen breiten Straßen, riesigen Gebäuden und dem einheitlichen, alten Baustil. Die nächsten zwei Kilometer waren für meine Verhältnisse viel zu schnell - jeweils 4:05min. Ich traute mich gar nicht auf den Puls zu schauen, fühlte mich aber wirklich gut. Die Pacemaker waren mir schon ein wenig enteilt - die 3Stunden-Läufer hatten eine rote Fahne aufgeschnallt bekommen und waren so auch aus der Ferne gut zu erkennen. Das bedeutete aber auch, dass sie ebenfalls jetzt zu schnell unterwegs waren, denn für unter drei Stunden ist eine km-Zeit von 4:15min ausreichend.
Bei km4 dann die erste Getränkestation - mir war immer noch ziemlich kühl, weil wir Gegenwind hatten und ich natürlich ärmellos und kurzhosig unterwegs war. Da ich auch keinen Gedanken ans Trinken hatte, verpasste ich die Station natürlich. Nicht schlimm. Mein Tempo pendelte sich bei 4:12-4:15min/km ein. Eigentlich etwas schnell, aber ich fühlte mich gut. Ich dachte mir jetzt: Wenn ich schon diesen Marathon ausgesucht habe, um hier unter drei Stunden zu laufen, dann sollte ich das auch wirklich in Angriff nehmen. Entgegen meiner Vernunft lief ich also die gesamte Distanz, ohne auch nur noch ein einziges Mal auf meinen Puls zu achten - nur nach Gefühl. Sowas habe ich vorher noch nie gemacht. Ich hatte es mir auch ganz anders vorgenommen, aber ich wollte mir das tolle Renngefühl, die Stimmung und alles nicht durch ein paar Zahlen kaputt machen lassen. Und so lief ich die ersten 10km in 42:25min. Ich war also auf Kurs. Fühlte ich mich mal etwas angestrengt, nahm ich mir vor, den nächsten Kilometer 10sek langsamer zu laufen. Wenn ich mich erholt hatte, konnte ich ohne Probleme auch ein paar sek schneller laufen. Wir durchquerten jetzt den Bois de Vincennes im Osten der Stadt und nahmen jetzt wieder Kurs Richtung Innenstadt. Eigentlich dachte ich, sollten wir jetzt ja Rückenwind bekommen, nachdem er uns vorher die ganze Zeit entgegenblies. War aber nicht so, er pfiff mir immer noch um die Ohren, mal von der Seite, mal von vorne, aber nie von hinten. Ungerecht!
Ab km 18 spürte ich meine linke Wade - ein leichtes Ziehen. Aha, das war neu. Zu meiner linken Wade habe ich eigentlich kein Verhältnis, sie ist da und tut ihren Dienst. Warum muckt sie jetzt auf? Ich hielt aber weiter gut meine Zwischenzeiten und konnte die HM-Marke in 1:29:42 überqueren. Jetzt ging es immer wieder bergauf und bergab. Ich versuchte, bergauf nicht allzu sehr Tempo zu verlieren und auf den Bergabpassagen wieder zu entspannen. Ging ganz gut. Die Wade meldete sich ab und an, aber ich kenne das Gefühl, wenn sich ein Köperteil verkrampft, davon war ich weit entfernt. Im Übrigen hatte ich eine neue Ernährungsstrategie: Alle 30min ein Powergel einfahren. Ich hielt mich recht genau daran, denn bei meinen vorherigen Marathons hatte ich maximal drei Gels dabei und brach am Ende immer ein. Das wollte ich dieses Mal vermeiden. So waren es dieses Mal 5 Gels, die ich mir insgesamt reingezwungen habe.
Kurz nach der HM-Marke kam man nochmals am Place de la Bastille vorbei und eine riesige Menschenmenge feuerte uns Läufer an. Die Stimmung war trotz des kühlen Wetters hervorragend. Darauf bog man Richtung Seine ab und lief jetzt an deren Ufer entlang. In der Ferne sah man schon den Eifelturm. Es ging jetzt immer wieder bergab und bergauf, durch mehrere kleine Tunnels und Unterführungen direkt am Ufer gelegen. Ein Tunnel war bestimmt mehr als 500m lang - eine einmalige Erfahrung. Stickige Luft, Schwüle und - kein Gegenwind!
Aufgrund meiner Zeiten müsste ich eigentlich bei den 3:00-Pacemakern sein, die waren allerdings irgendwie viel zu schnell unterwegs. Den zweiten konnte ich in ca. 200m Entfernung sehen, den ersten sah ich schon nicht mehr. Irgendwie komisch. Wenn ich 3:00h auf meiner Fahne stehen habe, warum renne ich dann auf 2:55?? Irgendwann überholte ich aber doch den einen Pacemaker, aber nur, weil dieser kurz zum Pinkeln austrat. Eine Minute später sauste er schon wieder an mir vorbei und war Ruck Zuck wieder 200m vor mir. Immerhin rannte er nicht weiter weg - das hätte mich dann doch demoralisiert. Aber eigentlich war es auch egal, ich hielt meine Zeiten fast sekundengenau ein. Trotzdem freut sich der Kopf, wenn er etwas zum Festhalten hat.
Was machte eigentlich meine Befindlichkeit? Ich fühlte mich gut, aber ich hatte Angst vor dem Hammer. Ich habe entgegen aller vorheriger Vorsätze nicht auf meinen Puls geschaut (der sicherlich zu hoch war), bin auch zu schnell losgelaufen und jetzt sollten noch ein paar interessante Streckenabschnitte kommen. Der Wind nahm nicht ab. Wenigstens die Sonne kam jetzt raus. Aber ich habe mich von der ganzen Atmosphäre und der Einzigartigkeit dieses Ereignisses meiner sonst doch recht gleichartigen Lauferfahrungen abbringen lassen von meinem ursprünglichen Plan. Dumm und naiv wie ein Anfänger habe ich mich verführen lassen. Hätte ich mich selbst während des Rennens gecoacht - ich wäre wohl ausgerastet.
Es war eine andauernde Flucht nach vorn, weg von dem Mann mit dem Hammer, gegen alle Erfahrungswerte. Immer mal wieder kamen mir Zweifel und jedesmal wenn ich das Gefühl hatte, jetzt wird es richtig anstrengend, hatte ich Angst vor der nächsten km-Zeit: Jetzt ist es bestimmt nur 4:25, dachte ich. Aber jedes Mal, wenn es etwas anstrengender wurde, war die Zeit 5-10sek schneller, als die magischen 4:15min/km. Also konnte ich jedes Mal den darauffolgenden km nutzen, wieder etwas ruhiger zu machen. Und so klappte das wirklich erstaunlich gut. Als km30 erreicht war, dachte ich mir: Das kann ja wirklich was werden mit den sub3. Wenn jetzt kein Einbruch kommt, schaff ich es. Meine Zeit war mit 2:07:46 voll im Plan. Ich dachte mir außerdem, dass es jetzt maximal noch 53 Minuten Anstrengung seien. Und ich wollte mich quälen. Ich wusste ja, was jetzt kommt. Ab hier wird das Rennen ja eigentlich erst interessant. Alles andere ist nur Vorgeplänkel. Jetzt wollte ich nicht schlapp machen. Also konstant weiter das Tempo laufen. Der Wind hatte nochmal zugenommen, es ging jetzt an der Tennisanlage Roland Garros vorbei und leicht bergauf. Ich sehnte jedes km-Schild herbei und zwang mich, auf die Uhr zu schauen und der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Die nächsten 5km gingen noch ziemlich gut und ich konnte 4:15min/km laufen, mein Split von km30-km35 lag bei 21:14min. Ich holte einige Leute ein, was mir merkwürdigerweise immer Kraft gibt, obwohl man ja eigentlich nur für sich läuft. Ich zwang mein letztes Powergel rein, trank noch einen Schluck Wasser dazu und lief weiter in den Schmerz hinein. Viel Sauerstoff zum Nachdenken war nicht mehr da. Ich dachte die ganze Zeit: Naja, bis hierher hab ich die Zeiten schon gehalten, wenn ich jetzt einbreche, wird die Zeit trotzdem richtig gut sein.
Es ging jetzt durch den Bois de Boulogne, der Mann mit dem Hammer musste hier irgendwo auf der Lauer liegen. Ich sehnte jedes Kilometerschild herbei und zwang mich, auf die Uhr zu schauen, um weiter eine Richtschnur zu haben und zu sehen, ob ich einbreche - ich fühlte mich, für diese Verhältnisse, noch okay. Aber sobald die Zeiten nicht mehr gestimmt hätten, hätte ich wahrscheinlich die Moral verloren. Also gab ich weiter Gas. Ich verlor jetzt pro km immer 2-3sek. Ich versuchte zu rechnen, und brauchte jetzt schon viel länger als vorher dafür. Ich dachte, dass ich für die letzten 200m noch 50sek bräuchte, dann könnte ich es schaffen. Jede Sekunde, die ich auf dem Weg zu den letzten 200m liegen ließ, musste ich also heraussprinten. Mit Adrenalin und ordentlicher Arschtreterei sollte das doch hinzukriegen sein. Bei km39 ließ ich alle Ängste vor dem Mann mit dem Hammer fallen und holte alles raus. 13 eklige Minuten. Was war das schon im Vergleich zu den tollen Stunden vorher und außerdem sind es gerade diese letzten Minuten, die einen Marathon immer reizvoll machen. Ist man in der Lage, nochmal was draufzupacken oder bricht man ein? Monatelanges Training wird hier auf den Prüfstand gestellt gekoppelt mit der Frage, ob man in der Lage ist, sich und sein Körpergefühl richtig einzuschätzen. Das ist das Fanszinierende am Marathon. Genau auf dieser Schwelle zu laufen. Alles aus sich rauszuholen, ohne am Ende langsamer zu werden, aber auch ohne hinterher zu überlegen: Hätte ich noch schneller laufen können? Bin ich mir was schuldig geblieben auf der Strecke?
Ich jedenfalls hab es gestern zum ersten Mal geschafft, genau diesen Zustand zu erreichen: Kein Einbruch, kein Grübeln über die eigene Leidensfähigkeit. Ich hätte keine Sekunde schneller laufen können und es war dieses Gefühl, was diesen Marathon so besonders macht. Alles hat gepasst. Aber wie war denn jetzt die Zeit???
Naja der letzte Kilometer ging nochmal bergauf (wahrscheinlich nimmt man die Bergabpassagen nicht mehr wahr, Paris ist kein Bergmarathon, aber es liest sich hier gerade so
