Das hatte ich Daniela zu verdanken, also nicht der Unausgeglichenen, die immer und an allem was rumzumäkeln hat, sondern VeloC, die hatte nämlich als sozialpädagogische Maßnahme empfohlen:
Trainingsmaßnahme im Holsteinischen Wattenmeer. Solche Typen sollte man über 42 km am Stück im prallen Wind laufen lassen
Bei einem Rundkurs geht das ja gar nicht, also immer nur gegen den Wind! Dafür war letzterer aber doppelt so schnell, doppelt so heftig und doppelt so kalt!
Als ich am Sonntagmorgen die Pension verließ, lugte wider Erwarten die Sonne hervor, ja, es schien eigenartig windstill zu sein. Sollte Petrus etwa ein Einsehen gehabt haben? Beim Weg vom Parkplatz zum Startbereich im Inselort Midlum vernahm ich plötzlich höhnisches Gelächter von oben: „Du lässt dich ja superleicht verarschen“, und er zeigte mir mit einem kleinen, heftigen Regenschauer, wo der Hammer hing. Das war also geklärt!
Im Umkleideraum sprach mich der Mann an, dem ich meinen einzigen Syltlauf zu verdanken habe; Schmelli und ich wünschten uns dann gegenseitig viel Glück für unsere Läufe, und im Startblock hatte mich noch Hautlappen erkannt, so dass wir einige Worte wechseln konnten. Dann erfolgte auch bereits der Start: für Halbmarathon und Marathon gemeinsam. Viele stürmten flott drauflos, so dass ich an der ersten Linkskurve weit über 20 Läufer vor mir zählte. Die Geometrie will es so, dass bei einem Rundkurs, für den grässlicher Gegenwind angesagt ist, selbiger sich an anderer Stelle unterstützend von hinten einzuschalten verpflichtet ist. Das war heute auf den Anfangskilometern so. Kein Grund also, überheblich zu werden, als die ersten 5 km in weniger als 21 min hinter mir lagen.
Auch die nächsten Kilometer auf der Wyker Strandpromenade, selbst anschließend direkt am Föhrer Ostdeich mit seitlichem Wind von links stellten sich noch recht flott dar. Das änderte sich allerdings, nachdem der erste Zehner hinter mir lag. Nun kam der Wind der Streckenführung entsprechend teils halb von vorn, teils frontal. Das kostete Kraft, und das Tempo ging schlagartig ’runter. Je länger das dauerte, um so anstrengender und um so nerviger wurde der Lauf nun. Von einzelnen, leicht windabgewandten Abschnitten abgesehen, zog sich das so hin bis zur Halbmarathonmarke, die wir im Startort Midlum erreichten. Für die Halbmarathonis war hier Schluss.
Man konnte auch als Marathonläufer bereits jetzt den Lauf beenden und wurde dann für den Halbmarathon gewertet. Leicht zuckte der Gedanke, dass das doch eine gute Sache sei, durch meinen Kopf, aber ernsthaft zog ich es nicht in Erwägung, kenne ich mich doch und weiß, dass ich sicher einige Minuten später wieder angelaufen wäre.
Als ich das Start-Ziel-Gelände durchlief, traf mich plötzlich ein jäher Schlag. „Da, der Serientäter!“ schrie mir jemand entgegen. Also war meine Anwesenheit doch nicht verborgen geblieben! „Wattläufer“, schallte es hinterher. Aha, mein Outing im Forum war der Auslöser gewesen. Was nun? Ich musste fliehen. Also rein in die zweite Hälfte des Marathons! Einem weiblichen Streckenposten rief ich fragend zu, wie viele bereits durch gekommen seien. „Vier!“ war die Antwort. Also müsste ich ja an fünfter Position laufen.
Von der Streckenführung her ist der Kurs auf Föhr sehr vielsagend, denn er ähnelt einer liegenden Acht, also dem mathematischen Zeichen für „unendlich“. Und so kam es mir auch vor: weiterhin frontal oder halbfrontal gegen den Wind, und der war nicht weniger geworden und auch nicht weniger eisig. Trotz leichter, aber winddichter Jacke, Buff auf dem Kopf und Handschuhen wurde mir allmählich kalt, besonders an den Ohren und an den Händen. Das besserte sich auch nicht, als ein plötzlicher Hagelschauer meinte, für etwas Abwechslung sorgen zu müssen.
Weil mir das mittlerweile kräftig auf den Sack ging, rief ich den Streckenposten das auch immer so zu – oder irgendwas Ähnliches. Das war nicht gegen die Helfer gerichtet, ganz im Gegenteil, denn diese armen Schweine waren ja noch schlimmer dran bei diesem Wetter als wir Läufer. Nein, ich brauchte einfach ein Ventil, um Dampf abzulassen und damit Konzentration auf den Lauf abrufen zu können.
Ich entwickelte großes Verständnis für unsere Vorfahren, die den Naturgewalten Götter zugeordnet hatten. Damit konnte man früher seinen Ärger, seinen Frust oder auch seine Bedürfnisse wenigstens personifizieren. Wenn man dagegen die heutigen wissenschaftlich-nüchternen Erklärungen für diese Naturphänomene betrachtet, ist einem diese Art der Krisenbewältigung ja irgendwie verwehrt.
Irgendwo hinter km-Schild 31 stand wieder eine Helferin, und erneut verschaffte ich mir etwas Luft, als ich ihr zurief: „Irgendwann muss dieser Scheißwind doch endlich mal aufhören.“ „Das Schlimmste habt ihr gleich hinter euch“, war ihre Antwort. Der Herrgott beschere allen Helfern, die heute in Sturm und Kälte ausharrten, ein langes Leben, aber dieser hier ein ganz besonders langes, denn es stimmte: Die letzten 11 km gab’s teilweise Rückenwind pur und teilweise leicht seitliche Unterstützung, und nur an wenigen Stellen noch musste gegen den Wind gekämpft werden.
Seit der Halbmarathonmarke war ich allein gelaufen und entdeckte 7 km vor dem Ziel endlich mal wieder einen Läufer vor mir. Rasch schwand der Abstand, und nach km-Schild 36 war ich vorbei. Das hieß dann ja wohl Platz 4 im Gesamtfeld. Das war’s dann aber auch. Davor war keiner mehr zu sehen. Naja, das stimmte nicht ganz, denn auf den ganz langen Geradenstücken konnte ich ein rotes Trikot sehen, das mir schon am Anfang dieses Marathons aufgefallen war. Aber das waren Hunderte von Metern Abstand. Keine Chance! Außerdem kreisten meine Gedanken primär ums Ziel, ich wollte endlich fertig werden. Auch wenn es mittlerweile leichter zu laufen war, hatte ich genug. Sehnsuchtsvoll zählte ich jeden km herunter.
Der Abstand schien dennoch ganz langsam zu schmelzen. Aber nach Vollendung des vierten Zehners – km-Schild 40 wies es eindeutig aus – lag ich nach wie vor bestimmt 150 - 200 m hinter dem Gesamtdritten. Das war zu weit, ich wollte mich ja auch nicht kaputt laufen. Und doch: Der Läufer vor mir schwächelte, verlor mehr und mehr an Boden. 500 m vor dem Ziel waren es vielleicht noch 50 m. 50 m sind nicht die Welt, eine letzte Anstrengung über 500 m auch nicht.
Ich wollte es riskieren, steckte noch mal Kraft in einen Endspurt. Es ging erstaunlich gut, die Greif’schen Endbeschleunigungen der letzten Trainings zeigten wieder einmal Wirkung. Beim Abbiegen nach rechts hörte ich jemanden „burny“ rufen. Wer es war, konnte ich nicht ausmachen. Das Ohr nahm es wohl wahr, das Auge hingegen schaute nur nach vorn, taxierte die Reststrecke, der Kopf fokussierte voll auf den Sprint. Auf Höhe des letzten km-Schildes mit der 42 war ich dran. Ein letztes Aufbäumen, Versuch gegenzuhalten, 20 Meter vielleicht, dann war es geschafft. Ich zog weiter durch, lehnte mich in die Kurve, um nach links in das Ziel abzubiegen, und überquerte die Zeitmessung.
JJAAA! So kurz vor dem Ziel noch einen Mitläufer abgefangen! Dadurch Dritter geworden! Meine Fresse, fand ich mich gut!!! JJAAA!!! – Kurz danach folgte mein Konkurrent, und ich vernahm die Stimme des Stadionsprechers: „Und da ist auch der fünfte Läufer im Ziel.“ – Der Fünfte? Ähm, ja dann bin ich ja der Vierte? Hä? Tja, und so war es! Die ersten 3 Läufer im Marathon hatten alle unter 3 h gefinisht, allesamt M40-er nebenbei bemerkt. Für mich heute illusorisch! Mit meinen 3:03:01 h bin ich hochzufrieden, ein paar Sekündchen hätte ich schneller sein können, aber keine 3 Minuten oder letztlich sogar 6 Minuten. Da hatte ich halt Pech gehabt.
Ob die Helferin, die mir die geschönte Position zu Beginn der 2. Marathonhälfte zugerufen hatte, nicht bis 3 zählen kann oder erst an der 4 oder 5 gescheitert ist, werde ich wohl nie mehr erfahren, aber es änderte auch nichts am Ergebnis. Jedoch: Eine Vermutung, woran das gelegen haben könnte, habe ich. Also: Die alten Römer waren ja auch auf Föhr, und da haben sie den Föhrern bestimmt die Römischen Ziffern mitgebracht, und mit denen kann man ja nun wirklich nicht vernünftig rechnen, also ich jedenfalls nicht, und da wird die gute Frau halt durcheinander gekommen sein. Kann halt passieren!
Wieso die Römer auf Föhr waren? Das ist eine wirklich dumme Frage, weil es doch so offensichtlich ist. Man muss sich dort nur die Ortsnamen anschauen: Oldsum, Alkersum, Utersum, Cogitoergosum etc. Und das sagt mir mein Schullatein noch: sum ist die 1. Person Singular von esse, auf deutsch: sein. Folglich heißt z. B. Oldsum: Ich bin alt, was ja auch stimmt. Alles weiß ich natürlich auch nicht, also z.B. ob Alker etwas mit Alka Seltzer zu tun hat oder ob Uter von Uterus abgeleitet ist. Aber da kann bestimmt aghamemnun weiterhelfen, denn der kennt 167 Sprachen und weiß viel – obwohl: Kisuaheli kann der auch nicht (hat er mal geschrieben). Aber ob die Afrikaner überhaupt auf Föhr waren? Beim diesjährigen Marathon jedenfalls nicht! Wären heuer bestimmt erfroren!
Zum Schluss noch ein klein wenig den Windeinfluss erhellende Statistik:
Km 1 – 10, Rückenwind: 41:30 min, Tempo 4:09 min/km
Km 11 – 20, Gegenwind: 43:51 min, 4:23
Km 21 – 30, Gegenwind: 45:14 min, 4:31
Km 31 – 40, Rückenwind: 43:17 min, 4:20
Die letzten 2,195 km, Rückenwind: 9:10 min, 4:11
2. Hälfte ca. 2 1/2 min langsamer als die erste
Bernd